Dr. Greta Wagner
Laufzeit des Forschungsprojekts: 11/2017 – 09/2019
Das Projekt „Helfen in der Krise – Die Normativität von Solidarität und Wohltätigkeit“ basiert auf einer empirischen Studie über Praktiken des Helfens und normative Orientierungen von Helfenden. Ausgehend von dem Befund, dass der Anteil derer, die sich im ländlichen Raum ehrenamtlich für Geflüchtete engagieren seit 2015 stark angestiegen ist, begann ich, Ehrenamtliche zu interviewen, die Geflüchtete in ihrem Kontakt mit Behörden unterstützten, Sprachkurse anboten, Fahrdienste organisierten und dabei halfen, Kinder in Sportvereinen, Kindergärten und Schulen anzumelden. Teil der Studie war es auch, Geflüchtete zu interviewen und bei gemeinsamen Aktivitäten teilnehmend zu beobachten. Theoretisch stand erstens das Verhältnis von Solidarität und Wohltätigkeit als zwei Modi des Helfens im Zentrum des Projekts und zweitens die affektiven Quellen des Helfens, insbesondere die normativen Ambivalenzen, die mit dem Helfen aus Mitgefühl verbunden sind.
Konkrete empirische Fragen des Projekts betrafen die Reziprozitätskontexte, in die Ehrenamtliche ihre Hilfe für Geflüchtete einbetten: Was erwarten sie im Gegenzug für ihre Hilfe? Wann kommt es zu Enttäuschungen und Missverständnissen? Hierbei zeigte sich auch, dass einige ihre Hilfe im Sinne generalisierter Reziprozität als Erwiderung empfangener Hilfe als Kinder verstehen. Jene Ehrenamtlichen, die in der Nachkriegszeit nach Deutschland geflohen waren oder die in den letzten Kriegsjahren ihre Städte verlassen mussten und bei Verwandten auf dem Land unterkamen, erinnerten sich an eigene Erfahrungen von Hilfsbedürftigkeit, als sie die ankommenden Familien 2015 begannen zu unterstützen.
Ein weiterer Teil des Projekts richtete sich auf die Motivationen, moralischen Gefühle und symbolischen Grenzziehungen der Ehrenamtlichen. Mitgefühl brachte das Engagement zunächst in Gang und initiierte viele Kontaktaufnahmen und Helferbeziehungen. Aber dieses Gefühl verlor bald an Bedeutung und es waren die Identifikation mit dem Gedanken der Caritas, die Identifikation mit Fürsorge – insbesondere bei den weiblichen Engagierten – und die Identifikation mit der sozialen Integration der eigenen Dorfgemeinschaft, die das Engagement der Ehrenamtlichen auf Dauer stellten.
Bis auf einzelne Ausnahmen kann die an die Geflüchteten geleistete Hilfe treffender als wohltätig denn als solidarisch beschrieben werden, da Ehrenamtliche und Geflüchtete sich nicht als Gemeinschaft identifizieren, die ein gemeinsames Ziel teilt. Doch auch wenn die Hilfe für Geflüchtete wohltätig ist, ist sie darüber hinaus Teil einer solidarischen Reziprozitätsbeziehung: Die Hilfe für Geflüchtete wird nämlich vielfach als Beitrag zur Gruppensolidarität an die dörfliche Gemeinschaft erbracht. Mit dieser Gemeinschaft besteht eine emotionale Verbundenheit, von ihr erwartet man im Bedarfsfall selbst Hilfe. Dem wohltätigen Helfen der Ehrenamtlichen aber kommt eine wichtige Mittlerfunktion zwischen Geflüchteten und dem Rest der dörflichen Gemeinschaft zu.
Das Thema des Mitleids mit Geflüchteten war auch zeitgeschichtlich Teil des Projekts. Eine historische Parallele findet sich zwischen zwei Phasen der Aufnahme von Flüchtlingen in der Bundesrepublik – die Aufnahme der vietnamesischen boat people in den Jahren 1978 bis 1982 und die Aufnahme syrischer Flüchtender in den Jahren 2015 bis 2018: In beiden Fällen lassen sich ähnliche Bewegungen beobachten: Eine große Aufnahmebereitschaft wird durch eine breit geführte migrationspolitische Debatte abgelöst. Beide Fälle zeichnen sich durch großes mediales und zivilgesellschaftliches Engagement aus. Gerade CDU-Politiker führen christliche und humanitäre Argumente an und entfalten damit Wirkungsmacht. In beiden Fällen erschöpfte sich die Haltung nach wenigen Jahren und mündeten in Politiken der Abschottung. In einem gemeinsamen Aufsatz analysieren Isabell Trommer und ich die Fälle in Auseinandersetzung mit sozialtheoretischen und philosophischen Kritiken des Mitleids und des Humanitarismus.
In der ersten Projektphase habe ich Daten ausgewertet und weitere erhoben. Die zweite Phase des Projekts verbrachte ich auf Einladung von Didier Fassin als Mitglied der Class of Social Science am Institute for Advanced Study in Princeton.
Publikationen:
Herausgeberschaften:
Greta Wagner (Hg.): Helfen zwischen Solidarität und Wohltätigkeit. Schwerpunktausgabe von WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 1.2019, Frankfurt am Main: Campus.
Aufsätze:
Greta Wagner: „Helfen und Kritik. Das Verhältnis von Solidarität und Wohltätigkeit in der Hilfe für Geflüchtete“, erscheint demnächst in WSI-Mitteilungen.
* Greta Wagner: „Helfen und Reziprozität. Freiwilliges Engagement für Geflüchtete im ländlichen Raum“, in: Zeitschrift für Soziologie 48(3), 2019, S. 226-241.
Greta Wagner und Isabell Trommer: „Mitleid und Krise. Zur Aufnahme von Flüchtlingen in der Bundesrepublik“, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1.2019, Frankfurt am Main: Campus, S. 123-133.