Vortrag der Philosophin Nancy Fraser über Arbeitskämpfe und die Verbindungen von Gender, Race und Class

Von Christopher Hamich

Am 23. Juni 2022 hat die Philosophin Nancy Fraser im Rahmen der Abschlusskonferenz der Kolleg-Forschergruppe Justitia Amplificata einen Vortrag an der Goethe-Universität Frankfurt am Main gehalten. Der Titel ihres Vortrags lautete „Three Faces of Capitalist Labor. Uncovering the Hidden Ties between Gender, Race and Class“.

Fraser begann mit der Feststellung, dass es viele progressive und emanzipatorische Bestrebungen und Bewegungen gebe, die sich für verschiedene Zwecke einsetzen, darüber jedoch zerstückelt und getrennt voneinander handelten. Damit stünden diese Bewegungen in einem unpassenden Verhältnis zur Größenordnung der aktuellen Krisen, allen voran der Klimakatastrophe; sie wirkten nicht auf notwendige systemische Veränderungen hin. Diesem Problem begegnet die Philosophin in ihrem Vortrag mit einem Rückgriff auf W. E. B. Du Bois, der in seinem Essay „Black Reconstruction in America“ beschrieben hat, wie in der Zeit der Reconstruction in den Vereinigten Staaten Schwarze Menschen und befreite Sklav:innen für einen Umbau der Wirtschaft gekämpft haben und dabei von weißen Arbeiter:innen wegen rassistischer Ressentiments nicht anerkannt wurden. Damit, so Du Bois, war ein gemeinsamer, koordinierter Arbeitskampf nicht möglich, der potentiell ein größeres Potential gezeigt hätte, als die beiden getrennten, sich selbst gegenseitig nicht (an-)erkennenden Kämpfe, die so enstanden. Du Bois geht Fraser jedoch nicht weit genug. Er zeige damit zwei verschiedene Arten von Arbeiter:innen-Bewegungen auf, unterschlage dabei eine wichtige, dritte Art: die soziale Reproduktionsarbeit.

Fraser möchte in ihrem Vortrag eine neue Sichtweise auf den Kapitalismus, spezifisch auf die Arbeit und die emanzipatorischen Bewegungen erarbeiten, die, ausgehend von dieser Dreiteilung im Anschluss an Du Bois', eine neue Konzeption der Arbeiter:innenklasse ermöglicht. Die Grundunterscheidung dafür bildet die Dreiteilung kapitalistischer Arbeit in drei "Gesichter": die ausgebeutende, die erzwungene bzw. „enteignete“ und die versteckte, unbezahlte „domestizierte“ Arbeit (im englischen Original: exploited, expropriated and domesticated labor). 

Unter Arbeit generell versteht Fraser Handlungen zur Erfüllung gesellschaftlich notwendiger Bedürfnisse. Solche Bedürfnisse können zum Beispiel die Aufrechterhaltung von Lebensräumen und Natur sowie soziale Tätigkeiten oder die Herstellung materieller Güter sein. Dieser Arbeitsbegriff ist damit sehr viel weiter als der, der sich im kapitalistischen Wirtschaftssystem etabliert hat, wo jene Arbeit wertgeschätzt wird, welche kommodifiziert bzw. kommodifizierbar ist, was sich für Fraser vor allem im letzten Gesicht der Arbeit, der domestizierten Arbeit, zeigt.

Die ausbeutende Arbeit definiert Fraser im direkten Anschluss an Marx über die "doppelte Freiheit" der Menschen: Frei in einem bürgerlichen-rechtlichen Sinne und damit auch frei, eine Arbeit selbst zu wählen und so zugleich frei aller Sicherheiten und Produktionseigentums, dass sie eine Arbeit wählen *müssen* sind, und in Abhängigkeit zu ihrer Arbeit und dem Erhalt ihres Lohns stehen. So entstehe das klassische Ausbeutungsverhältnis, welches für Fraser das erste Gesicht der Arbeit im Kapitalismus darstellt.

Unter enteignete Arbeit versteht Fraser die Folgeformen von kolonialer Arbeit; eine Arbeit, die ohne die oben genannten politischen Freiheiten und Sicherheiten einhergeht. Arbeitende dieser Kategorie haben keine oder kaum Schutzrechte oder Absicherungen und dennoch die Notwendigkeit, sich selbst zu erhalten, in dem sie arbeiten. Damit sind sie den Unternehmen, von denen sie angestellt werden, schutzlos ausgeliefert. Fraser merkt an, dass dieser Aspekt der Enteignung nicht ausschließlich den Faktor Arbeit betreffen muss, sondern sich auch auch bei der Enteignung und Akkumulation von Land finden lässt.

Die domestizierte Arbeit wiederum konzipiert die Philosophin analog zur Care-Arbeit. Hierbei geht es um versteckte, im Schatten der entlohnten, wertgeschätzten Arbeit stattfindende (Reproduktions-)Arbeit. Diese sei absolut essentiell für jede Gesellschaft, ein a priori jeder kapitalistischen Aktivität und jeder Mehrwertproduktion, jedoch im kapitalistischen System als wertlos eingestuft. Das Kapital sei in diesem Sinne eine Trittbrettfahrerin der domestizierten Arbeit.

Mit dieser Dreiteilung ist für Fraser eine Möglichkeit gegeben, Klasse, Rasse und Gender als Ausdruck einer gemeinsamen kapitalistischen Arbeitsstruktur zu verstehen und nicht als vereinzelte, intersektional verbundene Identitätskämpfe. Dafür seien die drei Gesichter der Arbeit nicht in starrer Abgrenzung zueinander zu verstehen, vielmehr gebe es zum Beispiel eine enge Verbindungslinie zwischen der enteigneten und der domestizierten Arbeit, die sich unter anderem darin zeige, dass beide Gesichter für die kapitalistischen Gesellschaften versteckt seien. Ihre Trennung der beiden basiert vor allem auf der Unterscheidung von einem rassifiziertem und einem gegenderten Typ, wobei letzter in direkter Nähe des profitierenden Kapitals stattfinde. Der erste Typ, die ausgebeutende Arbeit, sei hingegen zunehmend im Begriff, die Absicherungen zu verlieren, die für ihn charakteristisch sind; zum Beispiel durch neue Arbeitsverhältnisse wie die sogenannte Gig Economy oder auch die Folgen geschwächter Gewerkschaften.

In der anschließenden Fragerunde stellte die Philosophin unter anderem klar, dass sie mit der Unterscheidung der drei Gesichter kapitalistischer Arbeit keine reduktionistische Sichtweise vertreten möchte. Die verschiedenen Arbeiter:innenbewegungen der einzelnen Bereiche müssten sich nicht verbinden, sollten sich allerdings, im besten Fall, gegenseitig (an-)erkennen.

Zudem wurde Fraser auf ihre Annahme hin befragt, enteignete Arbeit sei ein systemisch notwendiger Teil des Kapitalismus. Diesbezüglich verwies Fraser auf die historisch-empirische Sachlage, die nahelegt, dass diese Art von Arbeit zur Profitgenerierung des Kapitals notwendig ist. Der rassifizierte Charakter dieser Arbeit sei hingegen nicht zwingend erforderlich. Damit konnte Fraser jedoch schwerlich den Kritikpunkt beseitigen, und erklären, warum eine kapitalistische Wirtschaftsweise im Rückgriff auf ausbeutende und domestizierte Arbeit ohne die rechtlich ungeschützte, enteignete Arbeit nicht denkbar sein soll.

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