So schnell restituieren die Preußen nicht
Streitfall Ethnologie: In Jahrzehnten haben die Museen nur eine Handvoll Objekte an die Herkunftsländer zurückgegeben. Wirklich zu wenige?
In der Auseinandersetzung um die zukünftige Gestalt des Humboldt-Forums hat die Raubkunstdebatte alle anderen Themen in den Hintergrund gedrängt. Neu ist sie allerdings nicht. Ihre Anfänge reichen bis in die letzte Phase der Dekolonisierung Afrikas zurück. Schon 1973 verabschiedete die UN-Vollversammlung eine Resolution, in der sie sich für die sofortige Rückführung der unter der Kolonialherrschaft geraubten Kunstschätze aussprach. Sie ging auf eine Initiative Mobutus zurück, der 1965 nach der Ermordung Lumumbas in der Demokratischen Republik Kongo durch einen Militärputsch an die Macht gekommen war. Als er sie über dreißig Jahre später wieder abgeben musste, war das Land unter seinem Regime zu einem der ärmsten der Erde geworden. Die unabhängig gewordenen Staaten der "Dritten Welt" hatten damals mit weit wichtigeren Problemen zu kämpfen, die ihnen die alten Kolonialherren hinterlassen hatten. Restitutionsforderungen verdeckten sie nur.
Für die Repatriierung geraubter Kunstgegenstände haben sich relativ früh auch deutsche Ethnologen eingesetzt. Einer von ihnen war der vormalige Direktor des Bremer Überseemuseums Herbert Ganslmayr. 1984 veröffentlichte er zusammen mit dem Fernsehjournalisten Gert von Paczensky ein erstes kritisches Resümee. Es trug den Titel "Nofretete will nach Hause". Das Berliner Ägyptische Museum hat ihr diesen Wunsch bekanntlich bis heute nicht erfüllt. Auch die Zahl der aus den Völkerkundemuseen des deutschsprachigen Raums zurückgeführten Objekte ist gering. Das zeigt ein am Frankfurter Exzellenzcluster "Herausbildung normativer Ordnungen" angesiedeltes Forschungsvorhaben, für das insgesamt 22 Sammlungen kontaktiert und Interviews mit Museumsleitern und Kuratoren geführt wurden.
Aus den Umfragen geht hervor, dass die Museumsakten zwischen 1970 bis 2015 vierzehn Repatriierungen von menschlichen Gebeinen verzeichnen, denen allerdings nur fünf Rückgaben von Kulturgütern gegenüberstehen. Der größte Posten ist eine Sammlung von etwa dreißig Kultobjekten aus Kongo, die in den frühen achtziger Jahren vom "Haus Völker und Kulturen" in St. Augustin zurückgegeben wurden. Der Leiter des von der Steyler Mission getragenen Museums konnte sich zu einem solchen Schritt leichter entschließen als seine Kollegen aus staatlichen und städtischen Sammlungen, die dazu zahlreiche bürokratische Hindernisse hätten überwinden müssen - von einer genauen Überprüfung der komplizierten juristischen Sachlage bis hin zur Genehmigung der vorgesetzten Behörden.
Die Objekte sind politisches Kapital, den Schaden hat die Forschung.
Museumskuratoren sagt man zu Recht eine enge Bindung an die ihnen anvertrauten Gegenstände nach. Dennoch stehen sie Restitutionen keineswegs so reserviert gegenüber, wie oft behauptet wird. Selbstverständlich kommen sie nicht der Forderung jeder Privatperson nach, die in Berufung auf weit zurückliegende Abstammungslinien den Anspruch auf ein besonders wertvolles Stück erhebt. Anders sieht es aber bei Sprechern indigener Gruppen aus, die eindeutig legitimiert sind. Handelt es sich um die in Völker- und Naturkundemuseen noch zu Hunderten lagernden Schädel und Skelette, sind die Museen sogar meist froh darüber, die unseligen Erinnerungsstücke an das rassistische Erbe der eigenen Wissenschaft loszuwerden.
Die sehr viel kleinere Zahl von restituierten Kulturgütern ergibt sich dagegen schlicht aus der mangelnden Nachfrage. Zum Zeitpunkt der Untersuchung lag dem Auswärtigen Amt in Berlin nur eine einzige offizielle Anfrage vor. Sie stammte von der namibischen Regierung und bezog sich auf die im Stuttgarter Lindenmuseum aufbewahrte Familienbibel Hendrik Witboois, der den Aufstand der Nama gegen die deutsche Kolonialmacht angeführt hatte. Die grundsätzliche Bereitschaft des Museums zur Rückgabe scheiterte bislang jedoch an den Besitzansprüchen, die neben der Regierung Namibias auch die Nama und Witboois Nachfahren vorbringen.
Die eigentlichen Urheber der gegenwärtigen Raubkunstdebatte sind die Mitglieder des Aktionsbündnisses "No Humboldt 21", zu dem sich Migrantenvereine und antirassistische Gruppierungen 2014 zusammengeschlossen haben. Ihre Forderungen waren radikal: Das ganze Humboldt-Projekt sollte eingestellt und die aus kolonialen Zusammenhängen ins Berliner Ethnologische Museum gelangten Kulturgüter restituiert werden. Es ist nicht anzunehmen, dass die Initiatoren der Kampagne tatsächlich mit einem Erfolg gerechnet haben. Doch bot schon die museale Hortung des zum "Preußischen Kulturbesitz" deklarierten kulturellen Erbes Afrikas Anlass, auf die gewalttätigen Unterdrückungsmaßnahmen der deutschen Kolonialherrschaft hinzuweisen. Ernst genommen wurden diese Einwände erst, als sich im letzten Sommer mit Bénédicte Savoy auch eine renommierte Wissenschaftlerin einige von ihnen zu eigen machte.
Die Verantwortlichen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und die Politiker zogen aus der Kritik schnell Konsequenzen. Bereits eingeleitete Kooperationsvorhaben mit dem tansanischen Nationalmuseum wurden vorangetrieben und Provenienzforschung zu einem der wichtigsten Anliegen des Humboldt-Forums erklärt. Wahrscheinlich hat erst die Kritik die Aufmerksamkeit auf das politische Kapital gelenkt, das in den Dahlemer Sammlungsbeständen steckt. Selbst in den weitläufigen Räumen des Berliner Stadtschlosses wird man nur einen kleinen Bruchteil der mehr als eine halbe Million Objekte zeigen können, die in den Depots lagern. Auch wenn es sich größtenteils um Waffen, Werkzeuge und andere Gebrauchsgegenstände von geringem Schauwert handelt, gibt es unter ihnen einige hervorragende Stücke. Bei ihrer Rückgabe hätte den Schaden höchstens die Forschung, der man damit das Vergleichsmaterial nehmen würde.
Die Diskussion um das Humboldt-Forum hat durch die Raubkunstdebatte eine überraschende Wende genommen. Die aus alten deutschen Kolonialgebieten stammenden Museumsobjekte werden zu Zeugen einer historischen Bringschuld. Sie appellieren an unseren "protestantischen Sündenstolz", von dem die Mainzer Ethnologin Carola Lentz in diesem Zusammenhang spricht. Auf die Worte wird man daher bald Taten folgen lassen müssen. Dass auch die "Nehmerländer" sie als Zeichen guten Willens ansehen werden, nimmt man dabei als selbstverständlich an.
Rückgaben an Minderheiten sind oft nicht im Sinne der Regierenden.
Allerdings dürfte das gar nicht so einfach sein. Denn man muss die Partner erst einmal finden. Wie bereits gesagt, hat die Bundesregierung bislang kaum offizielle Anfragen nach der Restitution von Kulturgütern erhalten. Das hängt mit der ethnischen Vielfältigkeit der aus den ehemaligen Kolonien hervorgegangenen Staaten zusammen. Ihr Kulturerbe ist alles andere als einheitlich. So dürften die muslimisch geprägten Eliten aus dem Norden Nigerias, die über Jahrzehnte die Staatsoberhäupter des Landes gestellt haben, nur geringes Interesse daran haben, die Götterstatuetten, Ahnenfiguren und Geistermasken der nach islamischer Doktrin als "heidnisch" geltenden Völker aus dem Süden des Landes zurückzufordern. Anders verhält es sich mit den von der britischen Strafexpedition gegen Benin 1897 geraubten Bronzen. Bei ihnen handelt es sich um Zeugnisse einer bis ins zwölfte Jahrhundert zurückreichenden höfischen Kunsttradition. Sie stehen daher nicht nur für das Nigeria unter der Kolonialherrschaft angetane Unrecht, sondern auch für die Größe seiner kulturellen Vergangenheit.
Doch gibt es auch in den unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonialstaaten immer noch an den Rand gedrängte und rechtlose ethnische Minderheiten. Das gilt nicht nur für Afrika. Häufig sind es solche Lokalkulturen, die in relativer Abgeschiedenheit ihren jeweils eigenen Kunststil entwickelten, von denen die Glanzstücke ethnologischer Museen stammen. Würden sie selbst Rückgabeforderungen vortragen und so auf ihre prekäre Lage aufmerksam machen, wäre dies durchaus nicht im Sinne der derzeit Regierenden.
Bereits wenige Wochen nach der Wahl Donald Trumps meldeten sich in den Vereinigten Staaten einige prominente Intellektuelle aus dem linksliberalen Lager zu Wort und machten für die Niederlage der Demokraten deren Identitäts- und Diversitätspolitik verantwortlich. Die aus der immer größer werdenden sozialen Ungleichheit resultierenden Probleme seien dadurch lediglich vertuscht worden. Man ist versucht, hier eine Parallele zu den gegenwärtigen Vorgängen in der Berliner Kulturpolitik zu ziehen. Kaschieren die Schuldeingeständnisse und Wiedergutmachungsgesten womöglich nur die ökonomische Abhängigkeit von den westlichen Industriestaaten und alten Kolonialmächten, in die die ehemaligen Kolonien infolge der Globalisierung erneut geraten sind?
Als die Berliner Raubkunstdebatte ihrem Höhepunkt zustrebte, erklärte der französische Präsident Macron in Ouagadougou, sein Land sei bereit, das afrikanische Kulturerbe aus seinen Museen an die Herkunftsländer zurückzugeben. Die Ankündigung kam überraschend. Soweit bekannt, war ihr keine unmittelbare Forderung vorangegangen. Einige afrikanische Intellektuelle reagierten denn auch skeptisch. Sie mochten hierin nur ein Manöver sehen, das von der neokolonialen Politik Frankreichs gegenüber den westafrikanischen frankophonen Staaten ablenken sollte. Es erscheint in der Tat paradox: Während Millionen von Wirtschaftsflüchtlingen des ausgebeuteten Kontinents nach Europa drängen, schickt Europa sich an, das kulturelle Erbe Afrikas den umgekehrten Weg gehen zu lassen. Zweideutiger könnte eine Geste eigentlich nicht sein.
Karl-Heinz Kohl ist emeritierter Professor für Ethnologie an der Universität Frankfurt am Main.
Karl-Heinz Kohl, F.A.Z., 17.05.2018, Feuilleton (Rhein-Main), Seite 11. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv