Klaus Günther: Sense of Doubt. Wider das Vergessen
Erinnerungen vergangener Ereignisse, individuelle ebenso wie kollektive, manifestieren sich in Bildern und Erzählungen. Damit werden sie weitergegeben, mit anderen geteilt – zugleich sind diese Bilder und Erzählungen aber immer auch Deutungen, Interpretationen, und als solche Thema kritischer Diskurse um die richtige, angemessene Erinnerung. Wenn schon die Erinnerung selektiv ist, dem Erlebten eine bestimmte Färbung gibt, wenn das Gedächtnis das vergangene Ereignis re-konstruiert, dann gilt dies erst recht für die sie verkörpernden Bilder und Erzählungen. Vor allem dann, wenn es um die Vergangenheit eines größeren Kollektivs, einer ganzen Gesellschaft oder um Ereignisse geht, die von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen werden, wird deutlich, dass der re-konstruierende Charakter der Erinnerungsnarrative (sei es in Bildern, Filmen, Geschichten) von den jeweiligen Machtverhältnissen maßgeblich mitbestimmt wird. Immer wieder setzen sich einige Erinnerungsnarrative als herrschende durch, ihre Bilder prägen die kollektive Vorstellung, ihre Erzählungen grundieren oder dominieren den öffentlichen Diskurs über die Vergangenheit. Häufig können sie nur schwer in Frage gestellt werden, weil alternative Erinnerungen gar nicht mehr präsent sind, nicht mehr mitgeteilt oder gehört werden – oder ihre Kritik wird verboten und zensiert. Dies gilt vor allem für die vielfältigen Konflikte zwischen Nord und Süd, zwischen den wohlhabenderen und ärmeren, den mächtigen und schwachen Regionen der Welt. Die Konflikte, auf die sich die Erinnerungsnarrative beziehen, reichen oftmals weit zurück, bis in die Zeit des Sklavenhandels zwischen Afrika, Europa und Nordamerika, und sie kulminieren aktuell in Terroranschlägen wie 9/11 oder den Kriegen und Bürgerkriegen des Nahen Ostens. Was hier jeweils gesehen wurde, gesagt und erzählt, aber auch verschwiegen, verleugnet, vergessen und verdrängt wird, trägt immer auch die Spuren und Züge der Macht – direkt oder indirekt, untergründig und verborgen oder offen und erkennbar. Um den Meistererzählungen der Macht und den machtvollen Bildern entgegenzutreten, braucht es einen Sinn für das Zweifeln, einen Zweifels-Sinn, der den Blick in die Vergangenheit ständig zu erweitern sucht, um das Vergessene und Verdrängte zu vergegenwärtigen, aber auch vergangene Möglichkeiten und Alternativen bewusst zu machen. Diesen Zweifels-Sinn zu wecken, zu schärfen, zu artikulieren, ist das Ziel des Projekts Sense of Doubt. Wider das Vergessen des Frankfurter Exzellenzclusters Die Herausbildung normativer Ordnungen. Das Projekt will mit Hilfe einer Ausstellung von Videokunstwerken und einer Serie von Vorträgen und Podiumsdiskussionen zeigen, wie dieser Zweifels-Sinn sowohl die kulturelle, soziale und politische Konstruktion von Erinnerungen sichtbar werden lässt, als auch Vergessenes und Verdrängtes wieder entdeckt und im gegenwärtigen globalen Diskurs über historische Ereignisse und Prozesse zur Geltung bringen kann.
I.
Die im Ausstellungsteil des Projekts gezeigten Videokunstwerke stammen aus einer umfangreichen, in den 80er Jahren begonnenen Sammlung der „Assoçião Cultural Videobrasil“. Die Sammlung enthält neben internationalen Videokunstwerken auch Interviewaufnahmen, Dokumentationen und andere Aufzeichnungen. Ein Schwerpunkt liegt auf Künstlern/-innen und Kunstwerken aus der Welt des Südens, namentlich Lateinamerika, Afrika, Osteuropa, Asien und dem Nahen Osten. Thematisiert werden vergangene und aktuelle, direkte ebenso wie indirekte Nord-Süd-Konflikte. Dabei handelt es sich jedoch weder um reine Dokumentarfilme noch um politische Propaganda, sondern um Kunstwerke. Es geht also darum, wie diese Konflikte von den Künstlern/-innen jeweils wahrgenommen und in der spezifischen Form einer Videoinstallation ästhetisch zur Darstellung gebracht werden. Das lässt sich zwar nicht, zumal im Genre des Videofilms, von den sozialen und politischen Kämpfen trennen, in denen die Künstler/-innen sich jeweils bewegen und eine Position einnehmen, doch unterscheidet der ästhetische Charakter und Anspruch sie zugleich von anderen Formen des politischen Engagements. Das gilt für die Darstellung von Makro-Ereignissen wie die Anschläge von 9/11 ebenso wie für kurze Erzählungen auf der Mikro-Ebene eines individuellen Falles. Auf diese Weise ist ein Archiv herangewachsen und ein kollektives Gedächtnis installiert worden, in dem „unbequeme Erinnerungen an Konflikte, Verfolgung und Gewalt“ aufbewahrt sind.
Das Frankfurter Projekt folgt dabei einer Auswahl, die der international angesehene argentinische Kurator Agustín Pérez Rubio getroffen hat. Dazu zählen Videoinstallationen über weiter zurückliegende Ereignisse wie der Sklavenhandel zwischen Afrika und Brasilien, jüngere wie der Militärputsch in Chile, der Kampf der Ureinwohner Afrikas gegen den Ölkonzern Elf Aquitaine, das Massaker auf dem Tiananmen Square in Beijing, die historischen Kämpfe gegen die Apartheid in Südafrika, aber auch aktuellere wie der Bürgerkrieg im Libanon, das Gefangenenlager auf Guantánamo, die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder die jüngsten Migrationsbewegungen.
Einige dieser Ereignisse sind auch in den Erinnerungen der Welt des Nordens und des Westens präsent, aber mit unterschiedlichen Gewichten und Akzenten, andere wiederum sind weitgehend vergessen oder verdrängt. Entscheidend ist jedoch die individuelle Perspektive des/der Künstlerin, die biographisch und kulturell geprägt ist von den Erfahrungen und Deutungen der Bevölkerungen des Südens, wie sie in öffentlichen Diskursen kontrovers diskutiert und verhandelt werden. Die Videoinstallationen tragen selber zu diesen öffentlichen Deutungsprozessen bei, setzen neue und andere Akzente, eröffnen ungewohnte Perspektiven und verschaffen dem komplizierten und komplexen Vorgang der Aneignung historischer Ereignisse und ihrer (Re-)Konstruktion als Historie im kollektiven Gedächtnis ein reflexives Moment. Sie lassen die Art und Weise der Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses in ihrem Vollzug durchsichtig werden, bewahren damit zugleich historische Ereignisse vor dem Vergessen und weben in die Erinnerung den kritischen Faden alternativer Darstellungen, Sichtweisen und Deutungen. Nur so kann auch die Zukunft offen bleiben, ohne von der Last einer verdrängten Vergangenheit überschattet, von den verstörenden Folgen eines Traumas gebannt oder von einer monopolisierenden Deutung auf eine vermeintlich zwingende und alternativlose Fortschreibung der Vergangenheit festgelegt zu werden. Dies jedoch als eine Zukunft, die sich nicht gegenüber der Vergangenheit privilegiert, indem sie die schmerzhaften Erinnerungen an vergangene Konflikte einem linearen Fortschrittsglauben opfert. In den Worten Rubios: „The most important thing here is to reflect on how we should interpret history, save it, and evoke it, in order to learn from it, while still turning the past around in order to give privilege to the future, something that, as a typical feature of modernity, this project cannot help to assume. In this sense, what we need is to speak about historical memory and the different ways we create it (…) a manual on how to continue moving forward without erasing that which has occurred.”
Man könnte daher die Videoinstallationen wie einstmals die Beiträge der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule im Exil als eine Art Flaschenpost bezeichnen, die in den vielgestaltigen und heterogenen Prozessen der Entstehung und Transformation des kollektiven Gedächtnisses nach Adressaten in der Gegenwart sucht. Ihr Inhalt besteht jedoch weniger aus Texten, sondern aus Bildern, Filmsequenzen und Stimmen, nicht im Medium der Schrift, sondern im Medium des Videos, das eine individuelle Wahrnehmung wiedergibt, die jedoch zugleich unmittelbar an unbestimmt viele Zuschauer-/innen gerichtet ist. Das Video ist ein „demokratisches“ Medium (Rubio), das leicht zugänglich ist und die Pluralität der Stimmen im öffentlichen Diskurs vermehrt, aber zugleich weniger unmittelbar als die heutigen Echtzeit-Filme von Smartphones, die mit Twitter und anderen Apps um die Welt geschickt werden. Als Flaschenpost artikulieren sie jedoch auch die Einstellungen und Stellungnahmen der Künstler-/innen in den jeweiligen politischen, sozialen und geographischen Kontexten der gefilmten Ereignisse. Mehr noch als andere Kunstwerke bewegen sich Videoinstallationen stets in einem normativen Bezugsgewebe, in dem es um Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit geht – namentlich bei den hier in Rede stehenden Videoinstallationen.
II.
Technologisch und medial ermöglichen die über dreißig Jahre gesammelten Videoinstallationen einen erweiterten, wenn auch schmerzhaften Blick in Vergangenheiten. Insofern sind sie ebenfalls Teil von „Expanded Senses“; sie spiegeln Vergangenes, bewahren es vor Verdrängung und Vergessen, holen es in die Gegenwart, jedoch ohne den/die heutigen Zuschauer/-innen die Position eines/einer allwissenden Akteurs/-in zuzuweisen. In ihrer Einseitigkeit, in ihrer gerade durch den zeitlichen Abstand und, vor allem, durch ihre aus heutiger Sicht veralteten Technologie lassen sie den Charakter des kulturellen Konstrukts umso deutlicher hervortreten. Aktuell herrschende Aufnahmetechniken (wie heute die Livestreams, wie Twitter und andere Apps) suggerieren den Produzenten ebenso wie den Rezipienten stets, es würde sich um wahrheitsgemäße, alternativlose Abbildungen eines hier und jetzt sich vollziehenden Geschehens handeln. Nicht zuletzt deshalb können sie infolge ihre blitzschnellen und massenhaften Verbreitung politische Bewegungen initiieren und intensivieren, kurzfristige machtvolle Massendemonstrationen herbeiführen wie auf dem Tahrir-Platz in Kairo während des „Arabischen Frühlings“. Im Vordergrund stehen der Bildinhalt und die aus ihm erschlossene normative Botschaft, nicht die Technologie seiner Konstruktion. Das ist aber beim Videomaterial viel eher der Fall, die technologische Differenz zu aktuellen Livestream-Medien macht aufmerksam auf die intrinsische Abhängigkeit des Dargestellten von der medialen Technologie seiner Darstellung. So trivial die Einsicht ist, dass es niemals um wahrheitsgemäße Abbildung geht, sondern um eine „Kulturelle Konstruktion“ , so schwierig und herausfordernd ist es immer wieder, diesen Umstand bewusst zu machen. Die Videoinstallationen erweitern daher nicht nur wegen des Filmmaterials und seiner Inhalte, sondern auch wegen der medialen und technologischen Qualitäten den Blick sowohl in die Vergangenheit als auch in die Gegenwart, und zwar als jeweils technologisch reproduziertes Bild (bzw. Filmsequenz).
III.
Bilder, Filme und Berichte von Vergangenheiten ebenso wie von vergangenen und künftigen möglichen Welten haben eine narrative Struktur, stellen kausale Zusammenhänge her, verknüpfen Handlungen und Folgen, unterscheiden zwischen relevanten und irrelevanten Kontexten, akzentuieren besondere Umstände und marginalisieren andere. Dies alles nicht nur, um Ereignisse in der alltäglichen Lebenswelt zu erklären und verständlich zu machen, sondern auch, um normative Positionen und Stellungnahmen nahezulegen, bestimmte normative Gründe zu verstärken, ihnen im jeweiligen besonderen Kontext mehr Überzeugungskraft zu verleihen, während die Kraft der anderen Gründe (vor allem möglicher Gegen-Gründe) abgeschwächt wird. Normative Ordnungen gehören zu den Kontexten, die einer Erzählung Plausibilität verleihen, während gleichzeitig normative Ordnungen darauf angewiesen sind, in und durch Narrationen mit lebensweltlichen Kontexten so verknüpft zu werden, dass normative Gründe hier und jetzt ihre Kraft entfalten können. Normen und ihre Rechtfertigungen, so eine der zentralen Forschungshypothesen des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ , sind „in Narrative eingebettet, in jene historisch und lokal geprägten, durch die jeweiligen Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte der Beteiligten bestimmten Erzählungen, Handlungen oder Rituale, welche die rechtfertigenden Gründe einer normativen Ordnung wie eine Tatsache erscheinen lassen. Über solche Narrative sind normative Ordnungen so eng mit der Lebenswelt der Beteiligten, mit dem jeweils öffentlich thematisierbaren Ausschnitt des Wissens von der objektiven, subjektiven und sozialen Welt verwoben, dass ihr konstruktiver, von diskursiv bestreitbaren Gründen bestimmter Charakter kaum noch wahrgenommen wird.“
An solchen Rechtfertigungsnarrativen nehmen die Videoinstallationen selbst teil, und zwar gerade durch die individuelle Perspektive des/der Künstlers/-in in der oben beschriebenen Art und Weise als vor dem Vergessen zu bewahrende Stimme, die zugleich kritisch und reflektiert ist, aber auch Stellung nehmend und politisch aktiv. Als eine Stimme des Südens erinnern sie an verdrängte oder vergessene Konflikte der Vergangenheit, und sie fordern damit jene rechtfertigenden, zu einer Tatsache verfestigten Meisterzählungen des Nordens und des Westens heraus. In diesen werden jene Konflikte oftmals marginalisiert oder in einer Weise gedeutet, die das Geschehene in einem anderen, zumeist milderen Licht erscheinen lässt, das vergangene Unrecht neutralisiert oder von der vermeintlich fortschrittlicheren Gegenwart abspaltet. Wenn die Geschichte zumeist eine Erzählung des Siegers und Gewinners ist, dann öffnen die Videoinstallationen den Raum für die Gegen-Narrative der Geschlagenen und der Verlierer: „The intention of these artists is to keep alive the memory of a conflicting occurrence, a past fact that has been either forgotten or interpreted by the winning narrator.“
Sie machen auf bislang vernachlässigte Kontexte aufmerksam, bieten neue Sichtweisen auf ein bekanntes Ereignis, verleihen damit anderen normativen Gründen überzeugendere Kraft und fordern die rechtfertigende Kraft der Meistererzählungen kritisch heraus. Die Meisterzählungen erscheinen dann nur als eine von vielen möglichen Welten der Vergangenheit und Zukunft, sie werden durch die Videoinstallationen mit anderen möglichen Welten konfrontiert. Die zur lebensweltlichen Tatsache verfestigten Narrative werden damit durchbrochen, geraten unter den Druck von Alternativen – und öffnen mit bislang ungehörten, unbekannten Deutungen der Vergangenheit neue Horizonte für die Zukunft - “recall or evoke other possible worlds.”