Neue Diskurse zu Staat und Gesellschaft in der islamischen Welt

Doktorandengruppe, Leiterin: Prof. Dr. Susanne Schröter

Islamismus und islamischer Fundamentalismus sind Phänomene, die in den postkolonialen Staaten der islamischen Welt und in den muslimischen Diaspora-Gemeinschaften Europas zunehmend an Bedeutung gewinnen. Vor allem in Staaten mit laizistischen oder pluralistischen politischen Traditionen (z. B. Türkei, Südostasien) zieht es Jugendliche massenhaft in die islamistischen Organisationen, erfreut sich ein islamischer Lebensstil großer Popularität, werden islamische Utopien in sozialen Gemeinschaften erprobt. Diese Entwicklung birgt erheblichen sozialen und politischen Sprengstoff. Fundamentalismen oder Re-Islamisierungen bedrohen das fragile Gleichgewicht multikultureller Staaten genauso wie Islamisierungen ethno-nationalistischer Befreiungsbewegungen. Bedenklich ist vor allem die Legitimierung von Gewalt im Namen des Islam, die lokale Konflikte diskursiv aufheizt und Gewaltspiralen in Gang setzt. In dezidiert islamischen Staaten (Staaten des Nahen und Mittleren Ostens) ist eine umgekehrte Entwicklung zu verzeichnen. Der Staatsislam wird nicht explizit abgelehnt, aber alltagspraktisch unterlaufen und subversiv unterhöhlt. Statt neuer Gemeinschaftsbildung ist hier Individualisierung, Fragmentierung und eventuell sogar ein Prozess der Säkularisierung zu verzeichnen.

Die Doktoranden und Doktorandinnen der Gruppe untersuchten diese Prozesse unter besonderer Berücksichtigung von Akteursperspektiven. Die Forschungsgruppe widmete sich der Aufgabe, in islamistischen Gemeinschaften und Organisationen sowie in anderen relevanten Gruppen innerhalb der islamischen Welt mit Hilfe eines ethnologischen Methodenrepertoires Erkenntnisse über die Ideen und Träume, die Handlungsstrategien und Netzwerke der Akteure und Akteurinnen zu erlangen. Dabei sollten Lebensstile und Alltagspraxen genauso untersucht werden wie politische Rituale und die Bedeutung von Bildern und Symbolen. Ziel der Gruppe war die komparative Erfassung aktueller Entwicklungen in der islamischen Welt, sowohl in Bezug auf die Konzipierung neuer normativer Ordnungen als auch hinsichtlich ihrer Umsetzung in Politik und Gesellschaft.

Aus der ethnologischen Forschungsarbeit der Doktoranden gingen folgende Publikationen hervor: Brecht-Drouart, Birte (2011): Between Re-Traditionalization and Islamic Resurgence. The Influence of the National Question and the Revival of Tradition on Gender Issues among Maranaos in the Southern Philippines. Frankfurt [Elektronische Ressource]; Hassanzadeh Shahkhali, Alireza (2014): Rituality and Normativity: An Anthropological Study of Public Space, Collective Rituals and Normative Orders in Iran 1848-2011 (AUP Dissertation Series), Amsterdam: Amsterdam University Press; Karimi, Somayeh (2013): Ethnicity and Normativity: An Anthropological Study of Normativity in Everyday Life of Gilak People in North of Iran (AUP Dissertation Series), Amsterdam: Amsterdam University Press; Müller, Dominik M. (2014): Islam, Politics and Youth in Malaysia: The Pop-Islamist Reinvention of PAS (Contemporary Southeast Asia Series), London/New York: Routledge  und Sharifzadeh, Natalie (2013): 200 gesicherte Helden auf Grenzgang: Polizeiaufbau in Afghanistan, Marburg: Tectum Verlag; Großmann, Kristina (2013): Gender, Islam, Aktivismus: Handlungsräume muslimischer Aktivistinnen nach dem Tsunami in Aceh, Berlin: Regiospectra Verlag; Seto, Ario (2017): Netizenship, Activism and Online Community Transformation in Indonesia, Palgrave Macmillan;  Suratno, Transformation of Jihad: De-Radicalization and Dis-Engagement of extremist Muslims in contemporary Indonesia (Dissertation abgeschlossen).

Die einzelnen Forschungsarbeiten lieferten ethnographisch reichhaltige Dokumentationen der häufig konfliktiv verlaufenden Aushandlung und Veränderung normativer Ordnungen in der gegenwärtigen „islamischen Welt“, insbesondere im Nahen Osten und Südostasien. Zwei dieser Studien basierten auf langfristiger Datenerhebung in islamistischen Bewegungen und Parteien, andere Arbeiten untersuchten die Transformation ethnischer Identitäten und (neo-) traditionalistischer Bewegungen im Zusammenhang islamisch definierter Staatspolitik. Während islamistisch geprägte Positionen zunehmend Diskurshoheit in sehr unterschiedlichen lokalen Kontexten erreichen, sind dezidiert anti-säkulare und anti-pluralistische Auslegungen des Islam in der Mitte vieler Gesellschaften angekommen und untergraben die Rechtfertigungshegemonie konkurrierender Normativitäten. Annahmen einer „post-islamistischen Wende“ halten der Überprüfung nicht stand, stattdessen finden in vielen Bereichen weitgreifende „Islamisierungen“ von Staat, Recht und populärer Kultur statt, auch wenn dem entgegenstehende säkulare Akteure darum bemüht sind, dieser Tendenz durch alternative Rechtfertigungsnarrative zur Rolle von Islam in Staat und Gesellschaft entgegenzuwirken. Kulturelle Transformationen stehen in engem Zusammenhang mit politischer bzw. rechtlicher Islamisierung, obgleich diese Bereiche im gegenwärtigen Forschungstand zumeist als voneinander weitgehend unabhängig gedeutet werden. Auch innerhalb des politischen Islamismus finden zunehmend Fragmentierungen und normative Diversifizierung statt, deren Ausgestaltung durch Akteure auf der Mikro-Ebene mit gängigen akademischen und medialen Darstellungen des „politischen Islam“ oft nur wenig gemeinsam haben.

Die ethnographischen Ergebnisse der Forschergruppe bieten vielversprechende Ansätze zur Anschlussforschung. Nachdem durch die Verbindung von regionalen und nationalen mit transnationalen und globalen Perspektiven im gegenwärtigen Forschungsstand vorherrschende Erklärungsmodelle empirisch hinterfragt und analytisch problematisiert wurden, kann dies nun als Ausgangsbasis für eine größer angelegte Theoriebildung dienen, die neue Zugänge zum Verständnis gegenwärtig ausgetragener normativer Konflikte um „gerechte Ordnungen“ in der islamischen Welt ermöglicht. Einzelne Teilprojekte sowie die Ergebnisse der komparativen Gruppenarbeit des Projekts bieten hierzu konkrete Ansätze, auf deren Grundlage nun weitere sozialwissenschaftliche Forschungen aufbauen können.

Außer der clusterinternen Doktorand/innengruppe arbeiteten 9 weitere Doktorand/innen zum Thema „Staat und Gesellschaft in der islamischen Welt“. In dieser extern finanzierten Gruppe lag der Forschungsschwerpunkt vor allem auf südostasiatischen Ländern.  Das größte zusammenhängende Einzelprojekt war ein dreijähriges von der DFG finanziertes Vorhaben zum Thema „Kulturelle und politische Transformationen in Aceh, Indonesien, nach dem Tsunami“, in dem drei Mitarbeiter beschäftigt wurden. Die Provinz Aceh in Nordwestindonesien war immer ein Zentrum des politischen Islam in Indonesien und nach der Unabhängigkeit des postkolonialen Staates sogar für mehrere Jahre Teil eines islamistischen Aufstandsgebietes (Darul Islam Indonesia), in dem sich eine eigene „Islamische Armee Indonesiens“ Gefechte mit der nationalen Armee lieferte. Nach der Niederlage im Jahr 1961 kehrte dennoch kein Frieden ein und eine eigene Guerillaarmee, die „Bewegung Freies Aceh“ kämpfte mehr als dreißig Jahre für die Unabhängigkeit von Indonesien und die Implementierung eines islamischen Staates. Nach dem verheerenden Tsunami im Jahr 2004 erfolgte ein Friedensabkommen zwischen der Unabhängigkeitsbewegung und der indonesischen Regierung, infolge dessen der Provinz zugestanden wurde, das islamische Recht auf allen Ebenen der Gesellschaft einzuführen. Im Projekt wurde diese Transformation unter mehreren Aspekten (Staats- und Nationsbildung, Friedenssicherung, Partizipation von Frauen) untersucht. Andere Projekte der Doktorand/innen befassten sich mit neuen Medien (Seto), Deradikalisierungsprogrammen (Suratno), salafistischen Frauenorganisationen (Marddent), Marginalisierung (Roy), Migration (Delalic) und Entwicklungszusammenarbeit (Barkabessy).

Innerhalb des Projekts konnten sieben Dissertationen fertiggestellt werden (s.o.). Darüber hinaus gingen aus dem Projekt u.a. folgende Publikationen hervor:
Susanne Schröter (2009):  „Acehnese culture(s)“, in: Graf, Arndt/Susanne Schröter/Edwin Wieringa, (Hg.): Aceh. Culture, history, politics, Singapur: ISEAS; Kristina Großmann (2013): Gender, Islam, Aktivismus: Handlungsräume muslimischer Aktivistinnen nach dem Tsunami in Aceh, Berlin: Regiospectra Verlag; Kristina Großmann/Gunnar Stange/Roman Patock (2012): Aceh nach Konflikt und Tsunami, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jahrgang, 11-12/2012, 12. März 2012; Müller, Dominik (2010):  “An Internationalist National Islamic Struggle? Narratives of ‘brothers abroad’ in the discursive practices of the Islamic Party of Malaysia (PAS)”, South East Asia Research, 18 (4), 757-791. (Special Issue: Islamic Civil Society in South East Asia: Localization and Transnationalism in the Ummah); Müller, Dominik (2010): “Review: Joseph C. Liow (2009): ‘Piety and Politics: Islamism in Contemporary Malaysia’, New York: Oxford University Press”, South East Asia Research, 18 (3), 616-620.

Die gemeinsame Arbeit und der Austausch innerhalb der Gruppe wurden durch ein wöchentliches Kolloquium, regelmäßige theoretische und methodische Workshops sowie eine einwöchige Summer School organisiert. Zu den wichtigsten gemeinsamen Veranstaltungen zählen die internationalen Konferenzen: “Formation of Normative Orders in the Islamic World”, 7.-9. Mai 2010, International Conference of Aceh and Indian Ocean Studies zum Thema “New Beginnings – Transformations in Post-Disaster and Post-Conflict Region” vom 25.-26.5.2011 in Banda Aceh, zusammen mit dem International Centre for Aceh and Indian Ocean Studies, und “The spreading of religions and the neutralisation of social space”, 25. - 26.6.2010 in Bad Homburg (zusammen mit Hartmut Leppin und Thomas Schmidt), die internationalen Workshops “New approaches to gender and Islam. Translocal and local feminist networking in South and Southeast Asia”, vom 29.-30.4.2011 an der Humboldt-Universität Berlin (zusammen Nadja-Christina Schneider, Asien-Afrika-Institut, HU, und Gudrun Krämer, Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies) und “Following the Path of the Prophet. Islamic Piety, Social Movements and Political Organizations”, am Forschungskolleg Humanwissenschaften, Bad-Homburg, 07.07.2012 sowie die Doktoranden-Summer School: “Discourses on State and Society in the Islamic World” in Fignano, Italien, 25-31.07.2011, und wöchentliche Forschungskolloquien: „Neue Diskurse zu Staat und Gesellschaft in der islamischen Welt – State and Society in the Islamic World“ je Semester (2009-2012) mit nationalen und internationalen Gastvorträgen, im Exzellenzcluster, Frankfurt/M.


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Der Newsletter aus dem Forschungszentrum „Normative Ordnungen“ versammelt Informationen über aktuelle Veranstaltungen, Neuigkeiten und Veröffentlichungen. Zur zweiten Ausgabe: Hier...

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