Die Normativität formaler Ordnungen und Prozeduren in der Antike – Mathematische und rechtliche Regelsysteme im Vergleich
Das Projekt "Normativität formaler Ordnungen und Prozeduren in der Antike – Mathematische und rechtliche Regelsysteme im Vergleich" ist Teil eines Projektes, das den Zeitraum von der Antike (inklusive Ägypten und Mesopotamien) bis in die Moderne erfassen soll. Systeme von Rechtsnormen (Verfassungen, Gesetzessammlungen, juristische Lehrtexte) und mathematische Satz- oder Regelsysteme stellen beide formale Ordnungen dar, deren Wert in bestimmten rechts- und wissenschaftstheoretischen Perspektiven gerade darin liegt, dass sie eine hohe innere Kohärenz besitzen, welche deduktive Ableitungen ermöglichen kann und in ihrer Anwendung auf konkrete Probleme eindeutige Entscheidungen (Problemlösungen) erstrebt. Auf beiden Seiten wird das Bestehen einer formalen Ordnung durch gewisse übergeordnete Normen geprägt, die den Aufbau und die Anwendung des Normen- bzw. Regelsystems leiten (im Folgenden: Meta-Normen).
Die Orientierung an solchen Meta-Normen, die einem formalen Verständnis von rechtlichen und mathematischen Ordnungen und Prozeduren zugrunde liegen, ist auf den ersten Blick ein charakteristisches Kennzeichen eines spezifisch modernen Rechts- und Mathematikverständnisses, formuliert und begründet vor allem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Kontext der wissenschaftlichen und kulturellen Moderne, auf rechtstheoretischer Seite etwa durch Hans Kelsen, auf mathematischer Seite durch Vertreter der ‘modernen’ Mathematik, unter denen David Hilbert ikonische Stellung erlangt hat.
Allerdings – und dies bildet den Ansatzpunkt des vorliegenden Projekts – zeigt sich schon beim Blick auf sehr frühe Stadien schriftlich verfasster rechtlicher und mathematischer Systeme und Verfahren, dass der Aufbau formaler Ordnungen in diesen beiden (und in der Tat weiteren) Bereichen eine historisch frühe Errungenschaft mindestens mancher (wenn nicht gar aller) Schriftkulturen war. Die Herausbildung, aber auch die historische und kulturelle Variation jener Meta-Normen, die sich auf den Aufbau und die Anwendung formaler Ordnungen und Prozeduren in Recht und Mathematik beziehen, kann (und muss) daher als ein historischer Prozess der longue durée verstanden werden. Eben diesen Prozess in wichtigen Phasen besser zu verstehen ist das Ziel des hier vorgestellten Vorhabens.
Das Projekt untersucht anhand von ägyptischen, mesopotamischen, hethitischen sowie griechischen und römischen Rechtssammlungen und mathematischen Texten die Normativität formaler Ordnungen und Prozeduren. Die in den frühen Schriftkulturen entstehenden Regelsysteme geben bedeutende Aufschlüsse über die Bedingungen für die Normativität und Charakteristiken des Formalen, beispielsweise auf sprachlicher Ebene. Sie erzwingen eine Reflexion über die Begriffe von Kohärenz und Abstraktion und ermöglichen Rückschlüsse für die Gültigkeit, Anerkennung und prozedurale Durchsetzung von Normen in vormodernen Kulturen.
Die Erforschung der Regelwerke früher Schriftkulturen fördert wichtige Erkenntnisse über die Bedingungen für die Entstehung und Akzeptanz formal strukturierter Normensysteme. Die Bedeutung kasuistischer Verfahren, regionaler und temporaler Einflüsse sowie die Notwendigkeit von Konsistenz und Kohärenz in ihrer logischen Struktur lassen wichtige Aussagen über die Beschaffenheit von Ordnungssystemen zu, die auch in der Forschung zu neueren und neusten Entwicklungen verwendet werden können. Eine enge Zusammenarbeit mit Prof. Moritz Epple und Prof. Guido Pfeifer förderte die Diskussion der Ergebnisse projektübergreifend.
Der Austausch der Wissenschaftler über den Forschungsgegenstand und geeignetes Quellenmaterial wurde durch einen initialen Workshop im April 2013 sichergestellt. Dieser bereitete eine internationale Tagung vor, die im März 2015 stattfand. Die Ergebnisse wurden in einem weiteren Workshop im Februar 2016 diskutiert und werden zurzeit für eine Publikation aufbereitet. Der Workshop diente der weiteren Vernetzung der einzelnen Beiträge untereinander.
Vormoderne mathematische und rechtliche Textsammlungen weisen bereits spezifische formale Strukturen auf. Die Normativität dieser formalen Strukturen ist schon in den frühesten Texten aus Ägypten und Mesopotamien ausgeprägt und ermöglicht Rückschlüsse auf inhaltliche Einschnitte (vgl. z.B. die Analyse des Codex Hammurapi durch Jim Ritter und die Analyse des Codex Urnamma durch Hans Neumann). Zwischen Ägypten und Mesopotamien sind in Bezug auf die Verschriftlichung von Rechtstexten signifikante Unterschiede festzustellen (Annette Imhausen). Anhand hethitischer (Daliah Bawanypeck) und griechischer sowie römischer Rechtstexte (Markus Asper, Peter Gröschler) sowie Texten aus dem ptolemäischen Ägypten (Katelijn Vandorpe, Mark Depauw) lassen sich verschiedene Möglichkeiten aufzeigen, wie durch Normativität (sprachliche Ausgestaltung, Formelhaftigkeit, besondere Gestaltung der Schriftträger) dauerhafte Gültigkeit und Autorität erzeugt werden sollten. Guido Pfeifer belegt die Verwendung mathematisch spezifizierter Werte in den mesopotamischen Rechtstexten als weitere Verbindung zwischen den beiden Fachgebieten.
Die Ergebnisse des Projekts erscheinen in Form eines Projektbandes (Publikation in Vorbereitung). Dieser wird in der Reihe KEF (Kārum – Emporion – Forum. Beiträge zur Wirtschafts-, Rechts- und Sozialgeschichte des östlichen Mittelmeerraums und Altvorderasiens) im Ugarit-Verlag erscheinen.
Die wichtigsten Veranstaltungen des Projekts:
Vorträge: Hans Neumann (Münster) und Jim Ritter (Paris), Wissensordnungen im Codex Ur-Namma und im Codex Hammurapi (Wissenschaftshistorisches Kolloquium), Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen”, Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 10. Mai 2016.
Workshop: The Normativity of formal structures, Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen”, Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 4.–5. Februar 2016.
Vortrag: Markus Asper (Berlin), On the Authority of Normative Texts. Inscriptional Law and Mathematical Literature in Ancient Greece (Wissenschaftshistorisches Kolloquium), Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen”, Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 15. Dezember 2015.
Internationaler Workshop: Die Normativität formaler Ordnungen und Prozeduren in der Antike und im Mittelalter: Mathematische und rechtliche Regelsysteme im Vergleich, Exzellenzcluster „Die Herausbildung Normativer Ordnungen”, Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 17.–19. März 2015.
Workshop: Normativity of formal structures and procedures in the ancient world. A comparison of mathematical and juridical systems, Exzellenzcluster „Die Herausbildung Normativer Ordnungen”, Goethe-Universität Frankfurt am Main, 11.–13. April 2013.
Personen in diesem Projekt:
Projektleitung / Ansprechpartner
Warner (Imhausen), Annette, Prof. Dr.
Projektmitarbeiter
Schmidl, Petra, Dr.