Bericht zum Denkraum: „Demokratie – Was wird aus der Krise des Politischen?“ mit Prof. Dr. Martin Saar am 11. Februar 2020
Von Andrea C. Blättler
Am 11. Februar 2020 war der Chagall-Saal des Schauspiels Frankfurt bis auf die letzten Plätze besetzt – es ging um nichts weniger als um die Zukunft der Demokratie. Einen besseren Zeitpunkt hätte es für eine solche Veranstaltung vielleicht gar nicht geben können als kurz nach den Ereignissen rund um die Landtagswahl in Thüringen und kurz bevor SARS CoV 2 zur Pandemie deklariert wurde. Denn Martin Saar, Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität und Mitglied des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“, setzte bei der Beschreibung interner und externer Herausforderungen der Demokratie an; für die internen Herausforderungen ist die Landtagswahl in Thüringen ein gutes Beispiel, für die externen die Klimaerwärmung und auch das Corona-Virus, das Saar an jenem Abend „nicht an die Wand malen“ wollte, aber als demokratietheoretisches Problem bereits im Blick hatte. Es ist in den letzten Jahren beinahe üblich geworden, angesichts solcher Herausforderungen von Demokratie weniger als Teil der Lösung denn des Problems zu sprechen. Saar stimmte nicht in solche Abgesänge ein. Denn Demokratie, so führte er aus, ist nicht nur ein Regierungsregime, sondern auch eine Form des Politischen, der es genau dort bedarf, wo viele Verschiedene zusammen agieren (müssen), weil sie einen Raum teilen. So verstanden ist Demokratie ebenso heterogen wie unterbestimmt – und das bedeutet: spannungsgeladen. Denn wer zusammen handeln soll (und wer nicht), wie dabei genau vorzugehen ist, wo der geteilte Raum anfängt und wo er endet, und ob das alles nicht je nach politischer Frage unterschiedlich sein kann, all dies ist eben in einer Demokratie nicht per se festgelegt, sondern Gegenstand kollektiver Aushandlung. Was somit oft allzu rasch als Krise der Demokratie beschrieben wird, nämlich das Umstrittensein ihres Subjekts (das Volk?), ihres Raums (der Nationalstaat?) und ihrer Verfahren (der parlamentarische Betrieb?) ist daher weniger Ausdruck dessen, dass die Demokratie an ihre Grenzen kommt. Vielmehr zeigt sich dabei gerade ihr Wesen. Denn was umstritten ist, ist nicht festgelegt und nur was nicht ganz festgelegt ist, kann zum Gegenstand kollektiver Entscheidung werden. Damit sich ein Zusammenhandeln auf Dauer stellen kann, gießt es sich in institutionelle Formen. Aber nur, wenn immer wieder kontestiert werden kann, wer eigentlich wo zum Demos gehört und wie man sich genau selbst regiert, bleiben politische Institutionen wesentlich demokratisch. Diese Spannung auszuhalten ist nicht immer angenehm, aber unumgänglicher Preis kollektiver Selbstbestimmung. Und vielleicht ist es gerade ihre Unterbestimmtheit, welche die Demokratie lebendig hält. Doch der Reihe nach.
Zukunft – aber wie?
Wie schon in früheren Jahren flankierte das Schauspiel Frankfurt auch sein diesjähriges Spielzeitmotto „Morgen ist heute – Wie wollen wir leben?“ mit der partizipativen Vortragsreihe „Denkraum“. In den Denkraum werden, in Zusammenarbeit mit dem Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität und gefördert durch die Heräus Bildungsstiftung, eine Reihe von Gästen aus Philosophie, Politik, Medien und Literatur eingeladen. Ziel ist, mit den Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen und gemeinsam Gegenwart kritisch zu betrachten und Entwürfe für die Zukunft anzuregen. Die Interaktivität zeichnet das Format aus: Auf einen halbstündigen Input entwickeln die Teilnehmenden in ebenfalls halbstündigen Gruppendiskussionen Gesprächspunkte, die von Moderator_innen gesammelt und dem Gast zugespielt werden. Nach Prof. Dr. Nicole Deitelhoff und Dr. Robert Habeck im letzten Jahr war nun im Februar Prof. Dr. Martin Saar an der Reihe. Im Anschluss an die Einführung durch die stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin des Schauspiels, Prof. Marion Tiedtke, erklärte Saar, was gemeint ist, wenn von der Krise der Demokratie die Rede ist, stellte drei Antworten darauf vor, und setzte diesen ein alternatives Demokratieverständnis gegenüber.
Krise und Kritik der Demokratie
Die Ordnung liberal-repräsentativer Demokratie wird gegenwärtig durch ein starkes Krisen- oder gar Dysfunktionalitäts-Narrativ herausgefordert. Die Krisenwahrnehmung speist sich aus zwei Quellen. Erstens wird angesichts transnationaler Probleme eine Leistungskrise diskutiert: Entziehen sich der Klimawandel, die Konkurrenz um Arbeit, Kapital und Ressourcen, oder eben eine tödliche Pandemie nicht der Steuerung durch nationalstaatlich verfasste, schwerfällige Repräsentationssysteme? Zu diesen exogenen Problemen kommen, zweitens, endogene Herausforderungen dazu. Dass Regierungen demokratisch gewählt werden und danach eine Politik machen können, die nicht alle Teile der Gesellschaft adressiert und gleichbehandelt, wie es gegenwärtig etwa in Ungarn zu beobachten ist, geht aus dem Innern der Demokratie selbst hervor. Die Ereignisse um die Landtagswahl Thüringen erinnerten jüngst daran, dass es zur strukturellen Offenheit der Demokratie gehört, jederzeit Gefahr laufen zu können, von anti-demokratischen Kräften ausgehöhlt zu werden
Exogene wie endogene Herausforderungen führen dazu, dass Vertrauen und Legitimitätserwartungen in die Demokratie erodieren. Denn wer nicht glaubt, dass dieses System die wirklich drängenden Probleme lösen kann, wird es nicht mehr vorbehaltlos unterstützen, und wer glaubt, dass dieses System bestimmte Probleme erst hervorbringt, wird versuchen, Demokratie zu begrenzen. Gerade vor dem Hintergrund des Kontrasts zwischen der demokratischen Suggestion, dass das Volk sich selbst regiert, und dem eher vermittelten und indirekten Charakter dieser Selbstbestimmung im Alltag liberal-repräsentativer Demokratien ergibt sich eine toxische Mischung, die man als Krise der Demokratie beschreiben kann.
Abgesänge auf die Demokratie
Drei Reaktionen auf dieses Krisennarrativ sind in der gegenwärtigen politischen Theorie und Debatte prominent. Die erste fordert die Intensivierung des Popularen. Der, nicht selten als einheitlich postulierte, Demos solle sich direkt(er) selbst regieren, und der Demokratie jene Dynamik und Energie verleihen, welche sie aktuell scheinbar nicht (mehr) hat. Eine zweite Reaktion stellt den Demokratiebegriff ideologiekritisch in Frage. Sich auf (mehr) Demokratie zu fixieren, so das Argument, lenke von den wirklichen Problemen, etwa der Ungleichheit, ab. Demokratie steht hier unter Verdacht, eine Nebelkerze von Eliten zu sein, die nicht wollen, dass man merkt, dass man eigentlich nichts zu sagen hat. Eine dritte Reaktion besteht in der Juridifizierung. Besonders wichtige Dinge können durch rechtsstaatliche Instrumente der Disposition entzogen werden. Stärke man die Rechtstaatlichkeit, dann seien die Unruhen elektoraler Prozesse weniger bedrohend. Bei allen Unterschieden ist den drei Positionen etwas gemein: Sie verstehen die jetzige Form von Demokratie eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung.
Demokratie, anders
Indem die drei Variationen des Abgesangs auf die Demokratie darauf zielen, die Sprengkraft zu zähmen, die Differenzen mit sich bringen können, depotenzieren sie das demokratische Potential. Das zeigt sich, wenn man einen Schritt hinter die Vorstellung von Demokratie als Regierungsregime zurücktritt und auf einer grundsätzlicheren Ebene danach fragt, was denn Demokratie ausmacht. In Saars Perspektive ist Demokratie als spezifische kollektive Lebensform zu begreifen. Als Lebensform, gemäß welcher viele Verschiedene in einem Raum koexistieren und auf Grund dieser Konstellation zusammen etwas tun. Demokratie braucht es also gerade dort, wo in einem Raum unterschiedliche Interessen, Gesichtspunkte, Subjektivitäten und Gemütslagen aufeinandertreffen, und in dieser Verschiedenheit gemeinsam gehandelt werden muss.
So von Demokratie zu sprechen bedeutet, sie als wesentlich unterbestimmt zu verstehen. Saar machte das anhand des offenen wer, wo und wie der Demokratie anschaulich. So wird Demokratie oft mit der Selbstregierung eines bestimmten Volkes auf einem nationalen Territorium gleichgesetzt, doch zeigt der Blick in die Geschichte, dass das keineswegs immer so war. Nationale Demoi sind somit nur eine der möglichen Antworten auf die Frage, wer das Subjekt der Demokratie ist. Das Selbst in „Selbstregierung“, das wer der Demokratie, besteht nicht vorgängig, sondern es ist selbst ein Produkt von Akten der Selbstregierung. Auch der Raum, in dem diese Selbstregierung stattfindet, das wo der Demokratie, ist nichts Natürliches. Nicht nur halten sich der Klimawandel, die Weltwirtschaft oder die Corona-Pandemie nicht an die Grenzen nationaler Container, sondern es stellt sich auch ganz allgemein immer wieder die Frage, wo eigentlich ein Problem genau anfängt, wer davon wo und wie betroffen ist und wer daher in den Bearbeitungsprozess eingebunden sein sollte. Schließlich verstehen sich auch die Prozeduren und Verfahren, das wie der Demokratie, keineswegs von selbst. Kodifizierte Wahlverfahren und Repräsentationsinstitutionen bilden ein institutionelles Reservoir, aber dieses ist historisch gewachsen. Auch die Formen der Demokratie werden also nicht vorgefunden, sondern in der Demokratie selbst hergestellt.
Angesichts dieser Unterbestimmtheit ist es nicht erstaunlich, dass die konkrete Ausgestaltung der Demokratie immer wieder zu Streit führt. Aktuell wird mit verschärfter Intensität deutlich, dass demokratische Begrenztheiten neu gedacht werden müssen. Demokratie deswegen verabschieden zu wollen wäre aber ein Fehlschluss. Als unterbestimmte, streitbare Ordnung, in der Subjekt, Ort und Institutionen immer wieder neu verhandelt werden können und müssen, ist sie vielmehr zu verteidigen. Man erwartet von ihr dann weniger effiziente Problemlösung, gleichzeitig aber erwartet man auch mehr: dass nämlich gemeinsames Handeln Verschiedener ohne Leugnung oder Einebnung von Differenzen und Spannungen möglich ist und bleibt.
Machtbalancen herstellen, sozialere Demokratie wagen
In den an den Vortrag anschließenden Gruppendiskussionen erwies sich das von Saar gezeichnete Bild als äußerst fruchtbar: Nicht nur brachte Moderatorin Ursula Thinnes, Dramaturgin am Schauspiel Frankfurt, die Teilnehmenden fast nicht mehr von den Diskussionstischen weg, es musste auch die Pause verlängert werden, um die Diskussionsinputs zu ordnen. Es können hier nur ein paar wenige Aspekte angesprochen werden.
Das offene wie der Demokratie beschäftigte: Wie kann sich Demokratie gegen innere Erosion schützen, ohne selbst undemokratisch zu werden? Es gelte, so Saar, den Dynamismus des Volkswillens und die Begrenzung der Durchsetzungskraft Einzelner miteinander in ein kluges Verhältnis zu bringen. Allgemeiner gesprochen sind Machtbalancen herzustellen und Machtverklumpungen und -verballungen entgegenzuwirken. Als Beispiel wurden etwa starke öffentliche Medien genannt, die nicht nur nicht nach allen Regeln des Marktes spielen müssen, sondern auch verdeckteren Logiken einseitiger Einflussnahme und Repräsentation entgegenwirken wirken können. Von Thinnes herausgefordert, etwas konkreter zu benennen, was er der Politik praktisch mitgeben würde zeigte Saar, dass das Programm, mehr Demokratie zu wagen, auch ein halbes Jahrzehnt nach 1968 nicht an Aktualität eingebüßt hat. Demokratie verstanden als Lebensform kann nämlich nicht nur eine Sache von Parlamenten sein. Ganz im Sinne der Herstellung von Machtbalancen und des offenen wo ist vielmehr auf Selbstbestimmung in vielen gesellschaftlichen Bereichen hinzuwirken. Demokratie muss also aktiver und sozialer gedacht werden, sei dies in Fragen des Gemeindelebens, der Produktion oder der Familie. Bei der Anschlussfrage nach dem Verhältnis von Politischem und Ökonomischem zeigte sich, dass Mechanismen nötig sind, die das Ausmaß begrenzen, in dem sich politische Dominanzen entlang ökonomischer Machtverhältnisse verteilen. Welche Instrumente und Gesetzgebungsprozesse das erfordert ist eine realpolitisch entscheidende aber weitgehend praktische Frage. Theoretisch gesehen deutlich wurde aber: Dort, wo das Ökonomische auf das Politische trifft, verläuft die Front, an der sich die Machtfrage entscheidet – und dieser Frontverlauf hält sich eben nicht unbedingt an etablierte Grenzen. Schließlich zog die Thematik des unterbestimmten Subjekts der Demokratie die Frage nach sich, wer denn eigentlich als demokratisches Subjekt gehört wird – und wer nicht. Es sind, so zeigte sich, Minderheitenschutz und zum Teil auch positive Diskriminierung erforderlich, soll das wer der Demokratie offengehalten werden können.
An jenem Abend verschränkte sich die Offenheit der Demokratie mit jener der Diskussion. Wie etwa kann der Schwierigkeit begegnet werden, als Verschiedene einen Raum zu teilen und über adäquate Mechanismen zu streiten, wenn dieser Raum sehr groß und das Problem gleichzeitig sehr drängend ist. Mit anderen Worten: Wie setzt man sich transnational an einen Tisch, hält Differenzen aus und löst das Problem der Klimaerwärmung? Dass Saars Vortrag ein Gespräch über solch weitgehende Fragen anregte ist nichts weniger als ein Ausdruck davon, dass es fruchtbar ist, Demokratie als heterogene, unterbestimmte Ordnung zu verstehen. Die Sprengkraft dessen, dass Verschiedene einen Raum teilen, in dem sie zusammen handeln, gehört nicht beklagt, sondern vielmehr als Potential affirmiert und – im Herstellen von Machtbalancen ebenso wie im Wagnis von mehr Demokratie – ausagiert.