Bericht über den Auftakt der partizipativen Vortragsreihe DenkArt „Der Ausnahmezustand als neue Normalität?“ mit Professor Wilhelm Heitmeyer am 8. September 2020
Von Rose Troll
Der Auftakt der neuen DenkArt-Reihe, gemeinsam veranstaltet von der Katholischen Akademie Rabanus Maurus, Haus am Dom, dem Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen e.V.. mit Unterstützung durch die Sebastian-Cobler-Stiftung für Bürgerrechte im Haus am Dom, stand nicht nur thematisch unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie. Um Hygiene-Maßnahmen und Abstandsregeln zur Eindämmung des Virus umsetzen und dennoch einen öffentlichen Raum der Diskussion (wieder-)herstellen zu können, konnte nur eine sehr kleine Zahl an Teilnehmenden vor Ort mitmachen. Alle anderen Interessierten mussten auf eine digitale Beteiligung von zuhause ausweichen. Den gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie, von denen diese veränderten Bedingungen der demokratischen Gegenwart nur eine der Unmittelbaren ist, ist die aktuelle Reihe des partizipativen Veranstaltungsformats gewidmet. Der erste Abend am 8. September fragte nach einer Interpretation des Ausnahmezustands aus der Perspektive autoritärer Bedrohungen – moderiert wurde er von Rebecca Caroline Schmidt, Geschäftsführerin des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“ und Administrative Geschäftsführerin des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Anfang des Jahres 2020 war die autoritäre Bedrohung der offenen Gesellschaft und liberalen Demokratie durch den neuerlichen rechtsextremen, rassistischen Anschlag in Hanau und den Skandal um die Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten zentraler Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Kurze Zeit später wurde diese jedoch beinahe vollständig von der Corona-Pandemie und den zu ihrer Eindämmung eingeleiteten Maßnahmen dominiert. Mit der sommerlichen Entspannung durch niedrigere Infektionszahlen und Lockerungen diversifizierte sich die Berichterstattung und spätestens mit den sogenannten Corona-Demos, in denen sich verschwörungstheoretische Ablehnung der Maßnahmen mit rechtsextremer Mobilisierung verband, wurde ihre nicht nur beispielreiche, sondern vor allem drängende Aktualität erneut überdeutlich.
Wird diese gesellschaftliche Entwicklung unter anderem als Folge vergangener Krisen verstanden, so zeichnet sich mit Ausblick auf die Folgen der Corona-Krise und der (zu erwartenden) Wirtschaftskrise im Nachgang der Eindämmungs-Maßnahmen und in Abhängigkeit des Pandemieverlaufs ein düsteres Bild. Denn demnach wäre die Krise Verstärker oder Beschleuniger dieser Verschiebung nach rechts und es müsste nicht nur konstatiert werden, dass beide gleichermaßen aktuell sind, sondern auch, dass sie in einem beunruhigenden Zusammenhang miteinander stehen.
Genau dies ist es, was der Vortrag des live zugeschalteten Prof. Wilhelm Heitmeyer nahelegt. Der Rechtsruck kann als Folge der psychologischen Krisenverarbeitung unter den Bedingungen gesellschaftlicher Veränderungen der vergangenen „entsicherten Jahrzehnte“ verstanden werden. Die sich verdichtende autoritäre Bedrohung ist langjähriger Forschungsgegenstand des Soziologen, der Gründer und bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung an der Universität Bielefeld war. Heute hat der für Zeitdiagnosen gefragte Gesprächspartner dort eine Forschungsprofessur inne. Wie können wir vor diesem Hintergrund die Auswirkungen der Corona-Krise einschätzen? Äußerte sich Heitmeyer zu diesen und damit gegenüber einem Vorgriff auf deren empirische Erhebung zurückhaltend, so bot sein Vortrag doch einen Analyserahmen an, der vor allem eines verdeutlichte: „In der Krise wächst das Autoritäre.“
Kontrollverluste und rechte Antworten
Der zentrale Begriff für die Analyse Heitmeyers ist „Kontrollverluste“. Krisen bringen Kontrollverluste hervor, da sie die üblichen Bewältigungsroutinen dysfunktional werden lassen und der Zustand vor der Krise nicht wiederherstellbar ist. Entscheidend ist dann, wie Menschen diese Krisenerfahrungen unter den gegebenen strukturellen Bedingungen in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht verarbeiten und welche politischen Folgen dies hat. Die Krisenverarbeitung ist eingelagert in die gesellschaftliche Des-/Integrationsstruktur und Krisen wirken wiederum auf die Dynamiken der Des-/Integration ein. Diese Des-/Integrationsstruktur organisiert die statusbezogene, moralische und emotionale Anerkennung und aus ihr resultieren damit sowohl Anerkennung als auch Anerkennungsdefizite. Das ist deshalb relevant, weil Defizite wie materielle Einbuße, mangelnde Teilhabemöglichkeiten oder biographische Unsicherheit Kontrollverluste darstellen. Die eigene Auf- und Abwertung anderer durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist eine mögliche Verarbeitungsform. Durch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit werden Menschen hier aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten abgewertet. Lassen sich die Folgen dieser Krise zwar nicht vorhersagen, so sind doch Verarbeitungsmodi vergangener Krisen naheliegende, oder zumindest zu befürchtende, Folgen. Sie zeigen sich bereits in Verschwörungsideologien, die z.B. die Existenz von COVID-19 leugnen, als Verarbeitungsstrategie, durch die mit der Eindeutigkeit eines Glaubenssystem Kontrolle (vermeintlich) zurückerlangt wird.
Den Hintergrund dieser individuellen Umgangsweisen bilden strukturelle gesellschaftliche Bedingungen. Deren Veränderungen über die Zeit folgend, zeichnet sich auf ihm die der Corona-Pandemie vorausgehende Entwicklung ab, sowie die Voraussetzungen, unter denen sie die deutsche Gesellschaft als Krise trifft.
Der politische Kontrollverlust auf nationalstaatlicher Ebene gegenüber Kontrollgewinnen des globalisierten und neoliberal ausgerichteten Kapitalismus führt über desintegrierende Prozesse zu Demokratieentleerung. Daraus wird ein rabiater Rechtspopulismus als Gewinner hervorgehen. So die Einschätzung von Heitmeyer aus dem Jahr 2001 mit Blick auf die sich abzeichnenden strukturellen Umwälzungen, kurz nach Beginn des von Rolf Dahrendorf prognostizierten „autoritären Jahrhunderts“. Die Jahrhundertwende markiert zugleich den Beginn der fortschreitenden Entsicherung: 9/11, Einführung von Hartz IV, Finanz- und Bankenkrise und Flüchtlingsbewegung treffen als Krisenereignisse mit den strukturellen Veränderungen zusammen. Aus dieser langfristigen Perspektive lassen sich die autoritären Bedrohungen erkennen, die die politischen Folgen entfalten. Die AfD, deren Beschreibung als rechtspopulistisch Heitmeyer inzwischen als verharmlosend zurückweist, kann destruktive Krisenverarbeitungsmodi durch ein politisches Angebot kanalisieren und ist Teil der Realisierung dieser rückblickend zu bestätigenden Befürchtung. Der „autoritäre Nationalradikalismus“, so der terminologische Vorschlag, der AfD steht für die deutsche Seite der „Eindunkelung Europas“ und inzwischen in gefährlicher rechter Allianz.
Denn inzwischen haben sich, so Heitmeyer, neue rechte Bedrohungsallianzen herausgebildet. Grundlegend spricht er von einem konzentrischen Eskalationskontinuum rechter Gewalt. Im Bild einer „Zwiebel“ hat eine Schale für die je nächstgelegene legitimierende Wirkung und mit jeder weiteren Häutung eskaliert sich das Gewaltpotential hin zu ihrem Kern. Die äußerste Schale bilden wir, d.h. die Bevölkerung, in der gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Einstellungsmuster verbreitet ist. Sie legitimieren die nächste Zwiebelhaut, den autoritären Nationalradikalismus der AfD, die diese affirmativ aufgreift und von einer Gewaltmembran aus Begriffen umgeben ist. Sie ist durchlässig hin zu rechtsextremen Milieus, die deren Gehalt nicht mehr nur rhetorisch für sich beanspruchen. Die nächstgelegene Schale stellt die Gruppe klandestin agierender rechtsextremistischer Planungsgruppen dar, die die innerste, Einzel- wie Gruppentäter, die Anschläge wie den in Hanau verüben, umgibt. Neue Allianzen hier noch getrennter Gruppen zeigen nun das Verschwimmen dieser Grenzen und eine Radikalisierung an, die beispielsweise auch bei Anhängern von Verschwörungsideologien zu befürchten ist. Es vollziehen sich damit Normalisierungsprozesse, was deshalb so problematisch ist, weil sich alles, was normal ist, ungleich schwerer problematisieren lässt.
Nicht mehr „Wehret den Anfängen“, sondern „Wehret der Normalisierung“
Für Heitmeyer ist die hoffnungsvolle Diskussion um ein neues Aufleben von Solidarität, der Anerkennung sogenannter systemrelevanter wenn auch nicht entsprechend honorierter Berufe und weitere mögliche Anzeichen eines neuen warmen gesellschaftlichen Klimas hauptsächlich eines: Gesellschaftsromantik. Zwar sind neben negativen Krisenverarbeitungsformen auch andere Reaktionen denkbar und wurden auch praktiziert, doch weder sind diese realistisch über den Ausnahmezustand hinaus verstetigbar, noch insbesondere die erforderlichen strukturellen Veränderungen absehbar.
Dass die immer wieder im Vortrag hervortretende Spannung zwischen struktureller Bedingtheit und individuellen Reaktionen wie Handlungsmöglichkeiten, die vorwiegend einen auch von Heitmeyer immer wieder formulierten Pessimismus nahelegt, dennoch eine positive Wendung erlaubt, zeigte sich jedoch im abschließenden Plädoyer.
Denn in den Fragen, die aus den Gruppendiskussionen und dem begleitenden Chat an Heitmeyer zurückgegeben wurden, ging es dann insbesondere um die eine: Was können wir tun? Wie aber lässt sich also dieser nicht nur deutschen, sondern auch darüber hinaus international zu beobachtenden, Entwicklung als Herausforderung begegnen, wollte das Publikum wissen und insistierte damit auf ebendieser Möglichkeit.
Heitmeyer sprach sich daraufhin für die Umsetzung einer alltäglichen Handlungsoption der Einzelnen aus. Grundsätzlich bedarf es zwar struktureller Veränderungen im Ökonomischen und Politischen. Entscheidend ist aber auch, dass Einzelne nicht nur in Demonstrationen zusammenkommen und dort gesellschaftliche Normen zum Ausdruck bringen, sondern vor allem, dass man sich dort wo man im beruflichen und sozialen Alltag Berührungspunkte mit anderen Haltungen hat, selbst positioniert. Nicht um zu überzeugen. Denn dort kommt es darauf an, z.B. autoritär nationalradikale Positionen auf eine Position der Minderheit zu verweisen und sich die „Schweigespirale“ zunutze zu machen. Denn wer die eigene Position in der Minderheit weiß oder glaubt, der neigt soziologisch gesehen dazu, sie nicht zur Sprache zu bringen. Lässt sie sich aber problemlos äußern, so kehrt sich der Effekt um, denn nun wird diese Position zur wahrnehmbaren Mehrheit. Diesem sich hier vollziehenden Prozess der Normalisierung muss und kann wirkungsvoll begegnet werden. Die wiederum eigene Position der Angesprochenen muss dafür nicht die Voraussetzung erfüllen, versiert und gefestigt zu sein. Entscheidend ist hingegen, sofort zu widersprechen. Dafür bedarf es einer ganz anderen Voraussetzung, nämlich der Bereitschaft, die sozialen Kosten dafür zu tragen, die Übereinstimmung, die durch Absehung von politischen Fragen ermöglicht wird, zu stören. Abschließend schlägt Heitmeyer zwei Kriterien für den dafür erforderlichen Maßstab vor. Überall dort, wo die Ideologie der Ungleichwertigkeit latent oder manifest auftritt und psychische und physische Unversehrtheit in Frage gestellt oder tatsächlich angegriffen wird, muss man intervenieren.
Diese Übereinstimmung lässt sich allerdings auch durch das Verbleiben in der je eigenen Öffentlichkeit aufrechterhalten. Denn Jürgen Habermas zufolge kann längst nicht mehr von einer inklusiven Öffentlichkeit, nur mehr von Öffentlichkeit im Plural gesprochen werden. Ist dem zuzustimmen, so findet diese Diskussion in einem spezifischen öffentlichen Raum statt, einem, in dem sich bestimmte Menschen zusammenfinden, die einiges und auch einige Meinungen teilen dürften. Dem entgegen gilt es, so die Botschaft des Auftaktes der DenkArt-Reihe, die Diskussion nicht nur hier zu führen, sondern eben auch und vor allem woanders und dort Berührungspunkte auszumachen und Kante zu zeigen gegen Rechts.