von Juana de Oliveira Lorena

Die Corona-Pandemie hat zahlreiche Herausforderungen für unsere Gesellschaft mit sich gebracht. Mit dem Ausbruch der Krise in Europa Anfang 2020 ist auch der Begriff der Solidarität in das Zentrum vieler Debatten gerückt. Während viele auf eine solidarische Wende gehofft oder sogar gewettet haben, haben andere von Anfang an ihre Skepsis geäußert. Denn das Gedeihen von Solidarität ist von vielen Faktoren abhängig: persönlichen und kollektiven Emotionen, philosophischen Einstellungen, krisenhaften Umständen, Infrastrukturen, der wirtschaftlichen Lage und politischen Systemen – das alles kann das Verständnis und die Praxis der Solidarität beeinflussen.
Am Abend des 8. Juni 2021 widmete sich der Soziologe Prof. Sighard Neckel im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Solidarität_Aber wie?“ diesem Thema. In seinem Vortrag Solidarität_Welche Rolle spielen Emotionen, Regeln, Infrastrukturen? reflektierte Neckel über die Bedingungen Solidarität herzustellen.
Die öffentliche Diskussionsreihe ist eine Kooperation zwischen dem Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main, der Katholischen Akademie Rabanus Maurus, Haus am Dom, der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen e.V. organisiert. Unterstützt wird „DenkArt“ durch die Sebastian-Cobler-Stiftung für Bürgerrechte.
Zu Beginn des Abends wurde Sighard Neckel von der Geschäftsführerin des Forschungsverbundes „Normative Ordnungen“, Rebecca C. Schmidt, vorgestellt. Neckel ist Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel im Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirtschaftssoziologie, soziale Ungleichheit, Kultursoziologie, Emotionsforschung und Gesellschaftstheorie.  Aktuell leitet er in Hamburg gemeinsam mit Prof. Dr. Frank Adloff die DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“. Außerdem ist er Leiter des Teilprojekts „Die Fabrikation von Emotionsrepertoires“ am Sonderforschungsbereich 1171 „Affective Societies“.
In seinem Vortrag machte Neckel drei Schritte: Zunächst kontextualisierte er die Debatte über Solidarität im Rahmen der Corona-Pandemie. Danach spezifizierte er den eigentlichen Begriff von Solidarität aus soziologische Perspektive. Zum Schluss sprach Neckel über die titelgebenden Faktoren, die seiner Auffassung nach besonders wichtig für das Gedeihen von Solidarität in modernen Gesellschafen – nämlich Emotionen, Regeln und Strukturen – seien. In der Corona Pandemie, pointierte Neckel, sei viel über gegenseitige Rücksichtnahme diskutiert worden. Doch verwies er auch auf die andere Seite der Medaille: in einer Pandemie, wie durch das Coronavirus verursacht, stecke auch das Potenzial der Entwicklung von unsolidarischem, egoistischem oder sogar feindseligem Verhalten. Denn jede*r andere*r sei ein potenzielles Risiko für einen selbst. Anders etwa als bei Naturkatastrophen, werde während Epidemien häufig nach Sündenböcken gesucht. Auch die Maßnahmen, welche die Ausbreitung der Infektionen zurückzuhalten sollten und die Bereitschaft, sie zu verfolgen waren Thema des erstens Teils seines Vortrags. Am Beispiel des Umgangs mit der Pandemie in Ostasiatischen Ländern wie Japan, Taiwan oder Südkorea, stellte Neckel die Frage, ob diese Gesellschaften sich wirklich solidarischer oder einfach nur disziplinierter als andere verhalten haben. Um solche Fragen beantworten zu können, müsse jedoch erst erläutert werden, was unter Solidarität verstanden wird.
Im zweiten Schritt seines Vortrags ging Neckel daher der Frage nach, was ist eigentlich Solidarität? Ein zentraler Punkt in der Definition von Solidarität liegt für Neckel in der Unterscheidung von Solidarität als bestimmter gesellschaftlicher Zustand und Solidarität als eine spezifische Form des Handelns. Einerseits gehe es um die Verpflichtung aller Mitglieder einer Gemeinschaft zusammen zu halten. Dabei sei die Verpflichtung des Individuums für die Haftung der Schuld der Gemeinschaft – und umgekehrt – zu unterstreichen, um Reziprozität zu garantieren. Andererseits gehe es um die moderne Vorstellung des Begriffs der Solidarität, nach welchem Solidarität als moralischer Wert verstanden wird. Dieses Verständnis entstand, so Neckel, im Zug der bürgerlichen Revolutionen und vor allem der Französischen Revolution, welche das Prinzip der Brüderlichkeit (heute als Solidarität ausgedrückt) hervorgehoben hat. Doch, wie spielt der Wert der Solidarität mit wichtigen Werten wie Freiheit – und insbesondere individueller Freiheit – zusammen?
In Anlehnung an den Gründungsvater der Soziologie, Émile Durkheim, erläutert Neckel die Unterscheidung zwischen dem Konzept der mechanischen und der organischen Solidarität. Diese Unterscheidung sei nicht nur aus einer theoriegeschichtlichen Perspektive wichtig für die Diskussion um Solidarität. Vielmehr würde sie auch die gegenwärtige Praxis der Solidarität prägen. Die mechanische Solidarität basiert auf sozialen Bindungen innerhalb einer Gruppe (beispielsweise Familie, Clan, dem eigenen Volk oder der eigenen Nation) und ist durch das Kriterium der Ähnlichkeit definiert. Das heißt Fremde und Außenstehende hätten nach diesem Modell keinen Anspruch auf Solidarität. Im Gegenteil: man dürfe sogar unsolidarisch und unmoralisch gegen sie handeln. Die organische Solidarität wiederum, beruht nicht auf Gruppenzugehörigkeiten, sondern auf wechselseitiger Angewiesenheit und auf der Notwendigkeit der Zusammenarbeit. Moderne Gesellschaften gingen sogar noch weiter als solche organischen Solidaritäten da sie einen normativen Anspruch besitzen, nach welchem ein Mensch solidarisch gegenüber allen sein sollte, weil alle gleichgestellt seien und die gleichen Rechten besäßen. An dieser Stelle hebt Neckel einen zentralen und kritischen Punkt der Diskussion um Solidarität hervor: „Wem sprechen wir diese gleiche Rechte, Menschenrechte, Bürgerrechte zu und wer wird dabei mitunter häufig vergessen?“ Durch diese Fragestellung wird deutlich, dass Solidarität immer Ausschließungen generiert und damit Schwäche und Risiko mit sich bringt. Anders als die Gerechtigkeit, pointiert er aber. Weil Gerechtigkeit universalistisch gerichtet sei.
Wie lässt sich nun dieses Risiko der Solidarität vermeiden oder zumindest begrenzen? Was ist erforderlich damit Solidarität besser funktioniert? Welche sind die Vorbedingungen für solidarisches Handeln? „Solidarisches Handeln, das von Eigennutz absieht, basiert […] auf dem Vertrauen auf Wechselseitigkeit. Nicht unbedingt in einem unmittelbaren und ganz konkreten Sinne aber im Sinne einer allgemeinen Erwartung, auf die man vertrauen kann.“ Dieses Vertrauen wird in der Soziologie, so Neckel, durch die Idee der generalisierten Reziprozität gekennzeichnet und basiere auf langfristigen Verhältnissen, die über „geben und nehmen“ hinausgingen.
Das langfristige Vertrauen könne durch drei Mechanismen unterstützt werden, wie Neckel in dem letzten Teil seines Vortrags darstellt: Zunächst seien Emotionen notwendige Vorbedingungen zum Gedeihen solidarischen Handelns. Solidarität, so Neckel, basiert auf Freiwilligkeit und kann nur durch den Antrieb einer inneren Überzeugung funktionieren. Obwohl Gefühle labil seien und somit die Stabilität des solidarischen Handelns beeinflussen können, spielten sie eine zentrale Rolle bei der Konstruktion von einem gewissen „Wir-Gefühl“, welches als starke Motivation für Solidarität fungieren kann. Allerdings auch – und insbesondere – „Wir-Gefühle“ werden von Neckel kritisiert, da sie ebenfalls Partikularismen generieren können und damit auch Nepotismus, Kameraderie und Chauvinismus fördern könnten.
Aber nicht nur Emotionen seien wichtig für Solidarität. Auch Regeln oder Normen, die unabhängig von bestimmten Gefühlslagen gelten und überpersönlich sind, spielen beim solidarischen Handeln eine wesentliche Rolle. Sie verfestigen sich im Alltag einer Gesellschaft und leiteten so das menschliche Verhalten. Am Beispiel der Corona Pandemie nannte Neckel die Regel der Priorisierung bei der Impfreihenfolge. Dabei sollen die vulnerabelsten Mitglieder der Gesellschaft, das heißt diejenigen, für welche das Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus besonders hoch ist, kollektiv und solidarisch durch allgemeine Regelungen geschützt werden.
An die Debatte um die Impfpriorisierung anknüpfend, erläutert Neckel die letzte von ihm genannte Vorbedingung für den Erfolg des solidarischen Handelns. Hierbei beleuchtet er die Rolle der Infrastrukturen als materielle Einrichtungen, ohne welche Solidarität nicht praktiziert werden könnte, auch wenn Normen und Emotionen vorhanden wären. Unsichtbare Strukturen wie Verkehrsnetze, Wasserversorgung, Energiesysteme, oder Einrichtungen der Daseinsfürsorge seien insbesondere in krisenhaften Situationen bedeutsam. Sie sorgen dafür, dass Solidarität in modernen Gesellschaften auch funktionieren kann. Und zwar für alle Mitglieder einer Gemeinschaft in gleichen Maßen statt nur für bestimmte Gruppen. Während der Corona Pandemie etwa, sei die Bedeutung von gut ausgestatteten Krankenhäusern und von Pflegepersonal deutlich geworden. Insofern könnte Solidarität wichtige Systemfragen generieren und Diskussionen in dieser Richtung fördern.
Nach seiner Erörterung stellte das Publikum zahlreiche Fragen an den Referenten. Es wurde über die Aufhebung der Impfpriorisierung und ihre Bedeutung für die Gerechtigkeitsfrage, sowie über die Regierungsverantwortung für die angeordneten Solidaritätsnormen und die Verantwortung der Bürger*innen als Kontrapart dafür diskutiert. Auch wurden Fragen nach Sündenböcken und nach sozialen Ungleichheiten in der Pandemie thematisiert. Schließlich wurde über Solidarität im globalen Kontext und über die Möglichkeit nach Erziehung zur Solidarität debattiert. Viele andere Fragen sind aufgrund der begrenzten Zeit und des großen Interesses der Zuschauer*innen offengeblieben. Die Moderatorin bedankte sich für die intensive Beteiligung des Publikums und lud herzlich zur nächsten Veranstaltung der Reihe im nächsten Halbjahr ein.


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Nicole Deitelhoff erhält LOEWE-Spitzen-Professur an Goethe-Universität und HSFK

Die Co-Sprecherin des Forschungszentrums "Normative Ordnungen" Prof. Nicole Deitelhoff erhält eine LOEWE-Spitzen-Professur des Landes Hessen. Wir freuen uns, dass diese Förderung ihre Forschungen zur Produktivität von Konflikten auch weiterhin fruchtbar machen wird. Weitere Informationen: Hier...

Normative Orders Newsletter 02|23 erschienen

Der Newsletter aus dem Forschungszentrum „Normative Ordnungen“ versammelt Informationen über aktuelle Veranstaltungen, Neuigkeiten und Veröffentlichungen. Zur zweiten Ausgabe: Hier...

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5. Juni 2023, 18.15 Uhr

ConTrust Speaker Series: Prof. Dr. Armin von Bogdandy (MPI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Goethe-Universität, ConTrust): Vertrauen und Konflikt in der europäischen Gesellschaft. Mehr...

6. Juni 2023, 14 Uhr

Buchdiskussion mit Christoph Menke: Theorie der Befreiung. Über den Ausgang aus der inneren Knechtschaft. Mehr...

6. Juni 2023, 19 Uhr

Public Lecture: Michael J. Sandel (Harvard University): Democracy's Discontent. More...

7. Juni 2023, 18.15 Uhr

Stiftungsgastprofessur „Wissenschaft und Gesellschaft“ der Deutschen Bank AG: "Das Bauwerk der Demokratie": Prof. Dr. Andreas Fahrmeir (Goethe-Universität, Normative Orders): Demokratie, Nation und Europa – damals und heute. Mehr...

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