Menschenrechte, Gerechtigkeit und Toleranz: Die Herausbildung normativer Ordnungen im Verhältnis des Westens zum Islam
Projektleitung: Prof. Dr. Rainer Forst
Das Forschungsprojekt "Menschenrechte, Gerechtigkeit und Toleranz" hat die Zielsetzung verfolgt, im doppelten Dialog mit der islamischen Tradition und der zeitgenössischen Menschenrechtsphilosophie eine eigenständige Konzeption der Menschenrechte zu erarbeiten. Leitend war dabei die Frage nach den Ressourcen für eine übergreifende Rechtfertigungsordnung, die Menschenrechte als fundamentale Normen der Gerechtigkeit enthält und sich nicht dem Schema einer Gegenüberstellung von "westlich" und "islamisch" fügt.
Hierzu wurde zunächst die innerislamische Menschenrechtsdiskussion analysiert und mit Menschenrechtsdiskursen verglichen, deren Geltung und Genese als "westlich" angesehen wird. In kontextueller Hinsicht ließ sich dabei feststellen, dass ein wesentliches Motiv der islamischen Diskussion darin besteht, zu beweisen, dass der Islam keine fremden moralischen „Belehrungen“ benötige, da dieser, je nach Auffassung, entweder selbst bereits moralisch vollkommen sei und somit keiner fremden menschenrechtlichen Ideen bedürfe oder alternativ gar selbst der ursprüngliche Erfinder der Menschenrechte sei. In systematischer Hinsicht wurde der Versuch unternommen, die Bandbreite des islamischen Menschenrechtsdiskurses zu erfassen und diesen nach einem Kriterium zu ordnen, das die inhaltlichen und methodischen Differenzen in der Beantwortung der Frage nach der Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten verständlich werden lässt. Vier muslimische Argumentationshaltungen wurden dabei von einander differenziert und auf ihre inhaltliche Argumentation hin analysiert.
Die Rekonstruktion der innerislamischen Menschenrechtsdiskussion hat ergeben, dass es unter Muslimen ein sehr breites Meinungsspektrum gibt, wenn es um die Frage der Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten geht. Von einer oft suggerierten einheitlichen islamischen Menschenrechtsposition kann keine Rede sein. Auffällig war im Hinblick auf den Diskurs jedoch die Tatsache, dass es ihm in erster Linie darum geht, das Stigma des menschenrechtlichen Problemkinds loszuwerden. Aufgrund dieser reaktiven Dynamik ist der Diskurs bisher nicht dazu in der Lage gewesen, einen eigenständigen Beitrag zur Förderung des allgemeinen Menschenrechtsverständnisses beizusteuern. Dies wurde vor allem dann deutlich, wenn es um die Frage der Begründung der Menschenrechte geht. Die zentrale und auch von anderen Religionen geteilte Annahme, dass Menschenrechte von Gott gegeben sind oder ein göttliches Fundament besitzen, führt zur problematischen Schlussfolgerung, dass es sich hier um Rechte handelt, die dem Menschen nicht als solchem zukommen, sondern lediglich deswegen, weil er ein Geschöpf Gottes ist. Die Achtung der Menschenrechte wird somit also primär zu einer rituellen Pflicht gegenüber Gott, während die moralische Pflicht gegenüber dem Menschen nur sekundär bleibt und sich quasi erst aus der religiösen Primärpflicht ergibt. Dies führt unweigerlich zu einem weiteren Problem. Wenn die Achtung der Menschenrechte nämlich allein deswegen erfolgen soll, weil der Glaube dies zur Pflicht macht, dann hätten jene Menschen, die einen anderen oder gar keinen Glauben haben überhaupt keinen verpflichtenden Grund, die Menschenrechte zu achten.
Auf begründungstheoretischer Ebene ergibt sich daher also die Notwendigkeit, Menschenrechte unabhängig vom islamischen Glauben zu begründen, um die universale Gültigkeit der Menschenrechte zu garantieren. Die Problematik, die sich aus dieser Forderung jedoch aus muslimischer Perspektive ergibt, ist die, dass die muslimische Akzeptanz der Menschenrechte unmittelbar damit zusammenhängt, einen islamischen Bezug zu ihnen herstellen zu können, d.h. Menschenrechte aus dem islamischen Rechts- und Gedankengebäude heraus zu legitimieren. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Menschenrechte normative Ansprüche darstellen, die dem Menschen einerseits einen bestimmten Handlungsraum gewähren, ihm andererseits aber auch ein bestimmtes Handeln vorschreiben und somit in ein moralisches Terrain eindringen, das gleichzeitig von der Religion beansprucht wird. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Idee der Menschenrechte Teil eines Identitätsdiskurses ist, in dem sie nicht selten als „abendländisch-christliche Werte“ portraitiert werden, an die sich andere Kulturen anzupassen haben. Um die Annahme der Menschenrechte also nicht als bloße Übernahme von vermeintlich „westlichen“ Ideen erscheinen zu lassen, müssen sich Menschenrechte demnach aus der islamischen Tradition ableiten und begründen lassen. Der Herausbildungsprozess des muslimischen Menschenrechtsverständnisses befindet sich zusammengefasst also in einem Spannungsfeld von zwei unterschiedlichen Normativitätsansprüchen: dem Anspruch der Universalität einerseits und dem der islamischen Legitimität andererseits. In dem Projekt wurden zwei Ansätze entwickelt, auf diese Problematik zu antworten.
Eine Möglichkeit, diese beiden Ansprüche gleichzeitig zu erfüllen, ergibt sich den Forschungsergebnissen zufolge, wenn man Menschenrechte, anlehnend an die Theorie der islamischen Rechtszwecke (maqāsid al‐šarīʿa), als Institutionen zum Schutze grundlegender menschlicher Bedürfnisse konzipiert. Islamisch legitimiert ist die Grundlage der menschlichen Bedürfnisse deswegen, weil ihr Schutz den Zweck des islamischen Rechts symbolisiert. Universal konsensfähig ist sie deswegen, weil menschliche Bedürfnisse einstellungsunabhängig existieren und somit ethisch neutral und intersubjektiv rechtfertigbar sind. Es handelt sich hier also um eine Grundlage der Rechtsfindung, die nicht wesensmäßig, jedoch auch religiös ist. Die Erarbeitung dieser Konzeption erfolgte zunächst ideengeschichtlich anhand einer Rekonstruktion der klassischen islamischen Theorie der Rechtszwecke. Anschließend wurde durch Rekurs auf die interdisziplinäre Bedürfnisforschung der Frage nachgegangen, was Bedürfnisse sind und welche Bedürfnisse der Mensch hat. Dies ist die Position, die Mahmoud Bassiouni in seiner 2014 bei Suhrkamp erschienenen Dissertation entwickelt.
Eine andere Möglichkeit, die interne (aus der Binnensicht einer Kultur bzw. Religion) und externe (universalistische) Legitimität einer Menschenrechtskonzeption zu begründen, liegt in einer reflexiven Wendung auf das grundlegende "Recht auf Rechtfertigung" von Personen, keinen normativen Ordnungen unterworfen zu werden, die ihnen gegenüber nicht als Freien und Gleichen gerechtfertigt werden kann. Dies ist ein ebenso interner wie externer Rechtfertigungsanspruch, also einer, der innerhalb normativer Ordnungen gelten muss, sofern sie ihren Mitgliedern gegenüber allgemeine Geltung beanspruchen, wie auch einer, der von außen an normative Ordnungen herangetragen werden kann, die den Anspruch auf Geltung erheben. Die Menschenrechte, die auf der Basis des Rechts auf Rechtfertigung gerechtfertigt werden können, und zwar durch die Betroffenen selbst als normativen Autoritäten, sind entsprechend immanent und kontextübergreifend begründbar, in unterschiedlichen Graden der Konkretion. Dies ist die These, die Rainer Forst in seinen Arbeiten zu Menschenrechten, Gerechtigkeit und Toleranz begründet.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde eine internationale Konferenz organisiert, mit dem Titel „Human Rights Today: Foundations and Politics“ (Frankfurt, 17.-18.6.2010). Vortragende waren unter anderem Abdullahi Ahmes An-Na’im, Susanne Baer, Étienne Balibar, Charles Beitz, Seyla Benhabib, Costas Douzinas, Jürgen Habermas, Hans Joas und John Tasioulas. Die Beiträge dieser Konferenz bildeten die Grundlage für einen Schwerpunkt „Human Rights“ in Constellations 20:1, 2013, der von Rainer Forst gemeinsam mit Christoph Menke und Stefan Gosepath herausgegeben wurde.
Zu den wichtigsten Publikationen des Foschungsprojekts zählen: Bassiouni, Mahmoud (2014): Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legititmität, Berlin: Suhrkamp; Forst, Rainer (2014) Justice, Democracy and the Right to Justification, London: Bloomsbury, 2014 (Band mit einem Aufsatz (Two Pictures of Justice), sechs kritischen Beiträgen von A. Sangiovanni, A. Allen, K. Olson, A. S. Laden, E. Erman, S. Caney und einer ausführlichen Replik (Justifying Justification: Reply to My Critics) und Forst, Rainer (2014) The Power of Tolerance, zusammen mit Wendy Brown, New York: Columbia University Press.