Medien-Echo

Zu alt für was, bitte?

Hollywood hat ein Problem mit Frauen über vierzig. Dass dort "Aging out" betrieben wird, belegen die Zahlen. Aber gilt das auch für die deutsche Film- und Fernsehbranche?
Als Anke Sevenich im Frühjahr die Berlinale besuchte, wurde sie wie so oft in den vergangenen Jahren gefragt: "Was ist eigentlich aus eurem preisgekrönten Drehbuch geworden?" Die Geschichte lohnt sich zu erzählen, weil sie womöglich symptomatisch ist für das, was in Hollywood "Aging out" genannt wird: das Ignorieren von Schauspielerinnen ab vierzig in einem von Jugendlichkeit besessenen Geschäft.
Anke Sevenich, 1959 geboren und in ihrem Beruf zunehmend mit diesem Problem konfrontiert, hat die Erfahrung des Älterwerdens nicht Trübsal blasen lassen. Sie ging einen anderen Weg. Die Schauspielerin, die sich als junge Frau mit einer einzigen Rolle, dem Schnüsschen in Edgar Reitz' "Heimat"-Epos, in die deutsche Filmgeschichte eingeschrieben hatte, wollte mit dem Rollenwechsel, den ihr Beruf ihr abverlangt, produktiv umgehen.
Das weibliche Fach kennt bekanntlich mehrere Rollenfächer, von der jugendlichen Naiven über die junge Liebhaberin und spätere Heldin, Mutter und Charakterdarstellerin bis zur "komischen Alten", wie es in einem Schauspiel-Handbuch aus dem achtzehnten Jahrhundert heißt. Das Erklimmen der jeweiligen Stufe stellt sich in der harten Realität des Filmgeschäfts mitunter herausfordernder dar als in Hesses berühmtem Gedicht, wonach jedem Anfang, auch wenn die Blüte welkt und die Jugend dem Alter weichen muss, ein Zauber innewohnt. Was war passiert mit "Sayonara Rüdesheim"?
Vor sieben Jahren hatte Anke Sevenich das gleichnamige Drehbuch zusammen mit Stephan Falk geschrieben. Falk ist Drehbuchautor und ihr Lebenspartner. Für sie war es ihr erstes Skript und dessen Heldin eine Frau, die wie Sevenich bereits ihre Lebensmitte überschritten hat. Der Film erzählt die Heldinnenreise einer Figur, die aus dem Hunsrück aufbricht, um sich mit ihren Chorfrauen einen Lebenstraum zu erfüllen und in Japan zu singen. Leider kommt sie nur bis Rüdesheim am Rhein. Die Rolle der Agnes ist differenziert, handlungstreibend und mit Humor erzählt. Und Anke Sevenich auf den Leib geschrieben.
Das war der Plan. Die Schauspielerin hatte das Drehbuch nicht zuletzt deshalb geschrieben, weil ihr damals, mit Mitte fünfzig, mehrheitlich Rollen angeboten wurden, die sie eher mäßig herausfordernd fand. "Natürlich wollte ich die Agnes auch spielen", erzählt sie bei einem Treffen in Frankfurt. Entsprechend groß war die Freude, als das Drehbuchdebüt auf der Berlinale 2016 den Deutschen Drehbuchpreis, die "Goldene Lola" gewann. Die Zukunft für einen Kinofilm schien gesichert.
Um es kurz zu machen: Es wurde kein Kinofilm. Und wenn der Fernsehfilm demnächst in der ARD zu sehen ist, hat sich Entscheidendes geändert. Am auffallendsten ist: Die Hauptrolle spielt jetzt eine knapp zwanzig Jahre jüngere Kollegin. In der Umbesetzung sieht Anke Sevenich nicht zuletzt das "Resultat eines veralteten Bildes von Frauen über 55 in deutschen Fernsehanstalten. Ihre gesellschaftliche Bedeutung und Rolle hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert, aber die Medien spiegeln das nicht wider".
Dem widerspricht Jörg Himstedt. Der Leiter der HR-Fernsehfilmredaktion, die den Streifen unter dem neuen Titel "Sayonara Loreley" mit der Degeto betreut, sagt, es sei vielmehr gang und gäbe, dass sich Sender und Produzent, die ein Drehbuch gekauft haben, gemeinsam hinsetzen und sich mit der Regie die Besetzung des Films überlegen: "So sind wir auf Katharina Marie Schubert gekommen. Sie erschien uns als die beste Besetzung für die Rolle." Durch den Verkauf der Drehbuchrechte sei zudem von vornherein klar gewesen, dass die Autoren Sevenich und Falk keinerlei Mitspracherecht mehr hätten am Entstehen des Films. "Wir haben die Rolle ausgehend von der Mutter der Protagonistin angelegt, weshalb sie bei uns deutlich jünger ist als im Buch", sagt Himstedt.
Ist das Alter denn überhaupt noch ein Problem auf der Leinwand? Hat sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nicht schon viel geändert? Bekam nicht 2021 die damals vierundsechzigjährige Frances McDormand einen Oscar, den dritten, für "Nomadland"? Brilliert nicht Emma Thompson gerade im Kino mit "Meine Stunden mit Leo" als pensionierte Lehrerin, die einen Callboy bestellt? Stellt nicht sogar ein Streaming-Dienst wie Netflix in der Romanverfilmung "Du hast das Leben vor dir" die uralte Sophia Loren ins Zentrum? Was ist mit Iris Berben, Hannelore Hoger, Senta Berger? Von Helen Mirren, Isabelle Huppert und Meryl Streep ganz zu schweigen? Widerlegen sie die Annahmen, oder sind sie die Ausnahmen, die die Regel bestätigen?
Die Zahlen scheinen Letzteres zu belegen. So stehen einer aktuellen Studie des Instituts für Medienforschung der Universität Rostock über Geschlechtervielfalt in Film und Fernsehen zufolge bei der "ü60"-Rollenvergabe 29 Prozent Frauenrollen 71 Prozent Männerrollen gegenüber. Demnach nimmt hierzulande der Anteil von Frauenfiguren, die älter als dreißig sind, ab, während mehr als zwei Drittel der zentralen Figuren über fünfzig männlich sind. Zwar nehme das Personal mit zunehmendem Alter insgesamt ab, doch während dies bei Schauspielern ab fünfzig der Fall sei, würden ihre Kolleginnen bereits ab Mitte dreißig aussortiert. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass Frauenfiguren mit Schauspielerinnen besetzt werden, die wesentlich jünger sind als die Rollenvorlage. "Das führt bisweilen zu aberwitzigen Konstellationen, dass wir vierundzwanzigjährige Schauspielerinnen sehen, die im Film ein abgeschlossenes Ingenieurstudium haben, außerdem zwei Teenagerkinder und im Beruf auch noch erfolgreich sind", sagt Anke Sevenich.
Adriana Altaras weiß, wovon ihre Kollegin spricht: "Erst war ich zu klein, dann war ich zu ausländisch, dann zu jüdisch und jetzt bin ich zu alt", wetterte die Schauspielerin und Bestsellerautorin bei einer Diskussion während der Hofer Filmtage 2021 unter der programmatischen Überschrift "Und bitte! Mehr Schauspielerinnen über 50 in Kinofilme, Streaming und Fernsehen". Auch die Schauspielerin Anne Brüggemann bekannte dort, mit dem Schreiben angefangen zu haben, weil ihr die angebotenen Rollen zu "langweilig" wurden. Film sei ein optisches Medium, so Brüggemann, "und alle denken, Männer sind länger attraktiv, weil sie länger reproduktionsfähig sind".
Während Männerfiguren im fiktionalen Gewerbe altern dürften, gern auch mit dickem Bauch und verbraucht, würden die Kolleginnen in dieser Altersklasse aus der Sichtbarkeit verschwinden, so der allgemeine Vorwurf. Anke Sevenich sieht auch als Zuschauerin ihre eigene Lebensrealität in fiktionalen Formaten zu selten repräsentiert. Weil die Frau über sechzig zu häufig stereotyp angelegt sei, betulich oder schusslig, unsouverän, bissig.
Warum aber sollten Produzenten glauben, dass die Leute ältere Frauen auf der Leinwand und im Fernsehen nicht sehen wollten? In Hollywood liegt die Erklärung auf der Hand. Dort gibt es seit jeher deutlich jüngere Zuschauerzahlen als in Europa. Da mag eine Frances McDermond im Independentkino brillieren. Doch 75 Prozent des Umsatzes an der Kinokasse wird in Amerika mit den Vierzehn- bis Dreißigjährigen gemacht. Das spiegeln die Casts der Mainstream-Filme wider. Selbst ein Film über das eigene Gewerbe wie "Mank" will auf weibliche Verjüngung nicht verzichten: Da verkörpern Gary Oldman (65 Jahre) und Tuppence Middleton (36 Jahre) ein Paar, das gleich alt ist. Wie überhaupt der Regisseur David Fincher darauf verzichtet hat, auch nur eine Schauspielerin zu besetzen, die älter ist als vierzig.
In Europa ist die Zuschauerstruktur eine andere. Hierzulande werden insbesondere Arthouse-Filme von Älteren frequentiert, und das Durchschnittsalter bei ARD und ZDF liegt ohnehin bei sechzig Jahren. Dass der europäische Film ein vergleichbares "Aging out" betreibt, bestreitet daher auch Vinzenz Hediger von der Frankfurter Goethe-Universität. Der Filmwissenschaftler hat gerade ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, wie er der F.A.Z. erläutert, um anhand von vierhundert Filmen weibliches Altern im europäischen Film zu untersuchen. Hediger will überprüfen, ob seine These stimmt: Dass die hiesige Kinoindustrie auf den demographischen Wandel dergestalt reagiert, dass das Thema Altwerden selbst thematisiert werde, zum Beispiel in Filmen wie "Amour" von Michael Haneke oder "Wolke 9" von Andreas Dresen. Für die groß angelegte Recherche kooperiert er unter anderem mit Universitäten in Spanien, Frankreich, Italien und England.
Während im amerikanischen Kino das "Aging out" für Schauspielerinnen im Alter vor 35 Jahren beginne, glaubt Hediger, dass im europäischen Kino Publikum und Darsteller miteinander alterten. Er vermutet, dass im europäischen Kino mehr Frauen in Entscheidungspositionen säßen als in Amerika, weshalb bei uns die Sichtbarkeit älterer Frauen entsprechend höher sei.
Die Journalistin Silke Burmester, die "Palais Fluxx" betreibt, ein "Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre", wird das nicht besänftigen. Erst unlängst veröffentlichte sie in der "Zeit" eine "Wutrede" über das Mangelwesen Frau im Fernsehen ab fünfzig: "Ich bin eine von etwa 20 Millionen Frauen in diesem Land, die älter als 50 Jahre sind. Wäre ich eine deutsche Filmschauspielerin - ich hätte wahrscheinlich wenig zu tun", beklagte sie und forderte interessantere Frauenfiguren "jenseits von Enkelkindern, Tieren oder einem Ehemann".
Womöglich wissen wir in vier Jahren mehr, wenn Vinzenz Hediger die Ergebnisse seiner Gender-Studie im europäischen Film vorliegen hat. Womöglich hat der Film dann aber auch einige andere Probleme. Zum Beispiel steht zu befürchten, dass wir es bald nicht mehr mit echten Schauspielerinnen und Schauspielern zu tun haben, weil die Künstliche Intelligenz uns dann auch diese Freude genommen haben wird. Gerade die digitale Alterungstechnologie auf der Kinoleinwand schreitet in Riesenschritten voran. Ein Film wie "The Irishmen", in dem lebensechte digitale Menschen erzeugt wurden, hat bereits einen Vorgeschmack auf diese Zukunft gegeben. Weil weder mithilfe von Make-up noch digitaler Retuschen die alten Haudegen Al Pacino und Robert de Niro für die Rückblenden solcherart jugendlich zurückverwandelt werden konnten, dass der Regisseur Martin Scorsese zufrieden war, wurde kurzerhand zu modernsten digitalen Technologien gegriffen. Diese könnten das Filmschaffen so sehr verändern, dass bald nicht mehr nur die Sichtbarkeit alternder Schauspielerinnen zur Disposition steht, sondern die Bedeutung von Schauspielerinnen und Schauspielern überhaupt.
Und was macht Anke Sevenich? Für sie ist "Sayonara Rüdesheim" ein abgeschlossenes Kapitel. Mittlerweile haben sich neue Türen für sie eröffnet. Nachdem sie einen erfolgreichen Kurzfilm über Jung und Alt und die menschliche Vergänglichkeit realisiert hat, arbeitet sie gerade an ihrem ersten Langfilm "Grenzgebiet" - nomen est omen, handelt es sich doch um das Debüt einer Frau "60+".

Von Sandra Kegel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Feuilleton vom 23.05.2023, Seite 9. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

"Faszinierend, aber auch erschreckend"

FRANKFURT Der Juraprofessor Christoph Burchard hat sich einen Fachartikel zum Teil von ChatGPT schreiben lassen. Heraus kam die Definition eines neuen Forschungsfeldes, für das die Goethe-Universität nun ein eigenes Zentrum einrichtet. Im Interview sagt Burchard auch, wie Chatbots die Rechtspflege verändern könnten.

Herr Burchard, Sie haben sich einen Aufsatz für das Fachmagazin "Computer und Recht" zum Teil von der Künstlichen Intelligenz ChatGPT schreiben lassen. Worum geht es in dem Text?

Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie der Einsatz von Chatbots wie ChatGPT das Recht und die Rechtspflege verändern könnte. Ein Großteil wurde von ChatGPT erzeugt. Ich habe das Programm zwei Personen erfinden lassen, von denen die eine für den Einsatz von Chatbots argumentiert, die andere dagegen. So ist eine Art Streitgespräch entstanden. Es bildet den ersten Teil des Aufsatzes. Im zweiten Teil reflektiere ich dann selbst über das, was ChatGPT geschrieben hat.

Wie lange hat es gedauert, das virtuelle Streitgespräch zu erzeugen?

Etwa vier bis fünf Stunden.

Wenn Sie den automatisch generierten Block selbst verfasst hätten - wie lange hätten Sie dann gebraucht?

Wenn man tief im Thema eingearbeitet ist, hätte man das ungefähr in der gleichen Zeit hinbekommen. Wenn man sich erst einlesen müsste, würde es deutlich länger brauchen.

Wenn Sie das künstliche Streitgespräch gelesen hätten, ohne zu wissen, wie es entstanden ist - hätten Sie dann gemerkt, dass es aus dem Computer stammt?

Mittlerweile bin ich dafür sensibilisiert, Unterschiede zu erkennen. Wenn ich aber nicht genau hinschauen würde, könnte ich vermutlich auch darauf reinfallen.

Woran kann man erkennen, dass der Text von einer Maschine stammt?

An mancher hölzernen Formulierung. Im Text kommt zum Beispiel der Ausdruck "Rechtsbranche" vor. Dieser Begriff ist sehr ungewöhnlich. ChatGPT hatte auch den Auftrag, eine Konferenz zu erfinden, auf der das Streitgespräch stattgefunden habe. Als Ort gab das Programm dann "Universität Heidelberg" an. In einer wissenschaftlichen Publikation hätte man den vollen Namen "Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg" erwartet. Mittlerweile gibt es Bots, die solche minimalen Fehler finden, um eine Künstliche Intelligenz zu identifizieren.

Wie überzeugend finden Sie die Inhalte, die ChatGPT erzeugt hat? Sie schreiben, das Programm habe eine brauchbare Definition eines Forschungsfeldes gegeben, das gerade erst im Entstehen sei - der Critical Computational Studies.
Es ist einerseits faszinierend, andererseits beängstigend, dass etwas generiert werden kann, was durchaus brauchbar ist. Nämlich die Definition eines neuen Forschungsfeldes, die als Ausgangspunkt taugt, an der man weiterarbeiten kann.

Wie hat ChatGPT Critical Computational Studies definiert?

Als kritisch im Sinne eines reflektierten Blicks auf den Umgang mit Algorithmen und Datenverarbeitung sowie die sich ergebenden Konsequenzen für Politik, Recht und Gesellschaft, aber eben auch für die Wissenschaft selbst. Die Frage ist dann, wie diese Felder durch "das Computationale" gestaltet werden, wie wir Letzteres aber zugleich gestalten können.

Und die Goethe-Uni richtet nun tatsächlich ein Center for Critical Computational Studies ein?

Ja. Ich werde als Gründungssprecher mit einem interdisziplinären Team von Kolleginnen und Kollegen den Aufbau dieses Zentrums in den nächsten Jahren verantworten.

Welche Folgen wird ChatGPT für Ihre Arbeit als Professor haben? Da das Programm ziemlich intelligent wirkende juristische Texte fabriziert, könnten Studenten und Forscher es nutzen, um beim Abfassen von Arbeiten zu betrügen.

Im juristischen Kerngeschäft, der Dogmatik, produziert das System derzeit noch viel Humbug. Vermutlich stammen die Daten, mit denen die Maschine trainiert wurde, überwiegend nicht aus Deutschland und auch nicht aus dem großen Fundus an rechtswissenschaftlichen Texten, Urteilen und Ähnlichem. Es werden oft unpräzise oder schlichtweg erfundene Antworten gegeben. Nichtsdestoweniger muss ein Lehrender sowohl bei Studien- als auch bei Qualifikationsarbeiten damit rechnen, dass solche Systeme zum Einsatz kommen. Die Maschine kann Forschungsstände zusammenfassen, und die Ergebnisse lesen sich auf den ersten Blick plausibel. In der Zukunft könnte man etwa darüber nachdenken, die komplette Rechtsprechung einer bestimmten Rechtsordnung vom ersten bis zum letzten Urteil zu analysieren. Und wenn man solche Texte erstellen kann, besteht natürlich auch der Anreiz, sie zu übernehmen - womöglich ohne Quellenangabe.

Wie sollen Lehrende mit diesem Risiko umgehen?

Auf der einen Seite benötigt das Wissenschaftssystem Regeln, wie der Einsatz von Chatbots in Studien- und Qualifikationsarbeiten zu bewerten ist. Ob es ein Plagiat ist, wenn man solche Texte übernimmt, darüber streiten sich die Gelehrten - es gibt ja keinen menschlichen Autor, von dem man abschreibt. Urheberrechtlich gesehen stellt sich die Frage, wer hinter den Inhalten steht, die ChatGPT generiert. Kann die Künstliche Intelligenz selbst ein Urheber sein? Das klingt nach Science Fiction, aber es sind konkrete Probleme. Auf der anderen Seite müssen wir Lehrende und Studierende befähigen, mit den "neuen Realitäten" reflektiert, sicher und produktiv umzugehen. Daraus ergeben sich neue Studieninhalte und Prüfungsformate, und in letzter Konsequenz sogar ein neues Berufsbild, das "Prompt Engineering": Wie stelle ich einer KI die richtigen Fragen?

Zurück zum Thema Ihres computergenerierten Aufsatzes: Wo könnten Programme wie ChatGPT in der Rechtspflege denn sinnvoll eingesetzt werden?

Eine Möglichkeit ist, dass juristische Texte in ein für Laien verständliches Deutsch übersetzt werden. Auch Antworten auf einfache und komplexere Rechtsfragen könnte ein Chatbot geben. Daran wird schon gearbeitet. Eine weitere Einsatzmöglichkeit ist die Hilfe beim Verfassen von Rechtstexten. Wir kennen ja schon die Vervollständigungsfunktion in Schreibprogrammen. Der nächste Schritt ist, dass nicht nur Wörter, sondern ganze Absätze vorgeschlagen werden.

Könnten Richter sich eines Tages ihre Urteile von ChatGPT schreiben lassen, sie nur noch auf Plausibilität prüfen und mit ihrer Unterschrift beglaubigen?

Es ist absehbar, dass es Programme geben wird, die Urteile vorschlagen können. Wichtig wäre Transparenz. Es muss zum Beispiel erkennbar sein, welche Teile des Urteils von einer Maschine verfasst wurden, welche Maschine zum Einsatz kam, mit welchen Daten sie trainiert wurde.

Wie könnte sich der Einsatz von Künstlicher Intelligenz auf die Akzeptanz von Rechtsprechung auswirken?

Viele Bürger könnten sagen: Gott sei Dank ist eine Maschine im Einsatz, die anders als ein Richter neutral, kohärent und effektiv entscheidet. Gerade Menschen aus nicht privilegierten Gruppen könnten so denken. Andererseits besteht die Gefahr, dass Künstliche Intelligenz Vorurteile aus den Daten reproduziert, mit denen sie angelernt wurde. Man muss einen Weg finden, Künstliche Intelligenz so zu nutzen, dass das Menschliche in Recht und Justiz nicht verloren geht: zum Beispiel Empathiefähigkeit und Reziprozität, also der Grundsatz, dass jener, der Recht spricht, auch diesem Recht unterworfen ist. Um hier das richtige Maß zu finden, brauchen wir mehr gesellschaftlichen Dialog, mehr Wissen, was diese Technologie kann und was nicht, und mehr demokratische Kontrolle dieser in erster Linie durch private Unternehmen vorangetriebenen Entwicklungen.

Die Fragen stellte Sascha Zoske.
 
Zur Person
Christoph Burchard hat seine juristischen Staatsexamina in Bayern und Baden-Württemberg abgelegt und in New York den Master of Law erworben. Nach der Promotion an der Uni Passau war er an der Uni Tübingen und der LMU München tätig. Auf Vertretungsprofessuren folgte 2015 der Ruf auf eine Professur für Straf- und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität. Burchard ist Principal Investigator des Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen".

Von Sascha Zoske aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Hochschule und Forschung (Rhein-Main-Zeitung), Seite 34 vom 4. April 2023. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Friede muss erkämpft werden

Der ukrainische Botschafter hat die Goethe-Uni besucht. Er lobt die Deutschen - und will auch mit Kritikern der Waffenlieferungen ins Gespräch kommen.

Wir kämpfen, wir haben keine andere Wahl." Diese Worte wählte der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksij Makejew, bei einem Besuch in der Goethe-Universität am Donnerstag. Wenn Diplomaten lange Reden hielten, verliere man das Vertrauen, sagte er. Eine echte und moderne Diplomatie müsse ehrlich sein. Deswegen wolle er bei seinen Reisen in die Bundesländer immer wieder mit Menschen sprechen. "Mit Studierenden, Politikern, aber auch mit Wählern, damit ich möglichst viele Menschen in Deutschland erreiche und damit die phantastische Solidarität, die wir Ukrainer in Deutschland erhalten, bleibt", so Makejew. Auch mit Zweiflern, die sich fragten, ob es richtig sei, deutsche Waffen in die Ukraine zu schicken, wolle er ins Gespräch kommen.
Neun Jahre habe man weggeschaut, sagte der Botschafter mit Blick auf die Besetzung der Krim und die Gefechte im Donbass, die 2014 begonnen hatten. "Wir alle sind für Frieden, und ich sage an die Schwarzers und Wagenknechts: Frieden fällt nicht vom Himmel." Die Soldatinnen und Soldaten in den Schützengräben wollten auch Frieden, aber den müssten sie erkämpfen, weil es die einzige Möglichkeit sei.
Eine anschließende Podiumsdiskussion moderierte Tobias Wille, Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt internationale Sicherheit an der Goethe-Universität. Auf die Frage, wie Unterricht an Universitäten in der Ukraine möglich sei, berichtete Makejew von einem Besuch aus Anlass der Botschafterkonferenz in der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine im Dezember. Dort habe es ein Gebäude der Hochschule gegeben, in dem internationales Recht gelehrt worden sei. Das Schild habe noch draußen an der Fassade gehangen, ansonsten sei das Gebäude völlig zerstört gewesen. Die Bedingungen seien schwierig, Studenten müssten bei Luftalarm in Schutzbunker gehen, dadurch sei eine regelmäßige Lehre nicht möglich. Zum Teil würden Vorlesungen in den Schützengräben gehalten.
Lisbeth Zimmermann, Professorin für Politikwissenschaft, Schwerpunkt Internationale Institutionen und Friedensprozesse, sagte, dass viele Studenten aus der Ukraine in Länder der Europäischen Union gekommen seien. Insgesamt seien es weniger als erwartet gewesen, auch weil in der Ukraine durch die Hochschulen, wenn auch zum Teil unter widrigsten Bedingungen, Digitallehre angeboten werde. Daran könnten die Studenten auch aus der EU heraus teilnehmen. Außerdem hätten einige ihren Schulabschluss nicht machen können, und die Sprachhürde halte manche vom Studium an einer deutschen Universität ab, da Sprachkenntnisse erst erworben werden müssten.
Enrico Schleiff, Präsident der Goethe-Universität, wies darauf hin, dass 1000 ukrainische Abiturienten im vergangenen Jahr ihre Prüfungen in Räumen der Goethe-Universität geschrieben hätten. Das sei eine "große Aufgabe" gewesen, die aber dank des Teamgeists aller Beteiligten bewältigt worden sei, sagte Schleiff.
Nach Zimmermanns Worten setzen sich die Studenten der Goethe-Universität mit dem Krieg auseinander. Dies zeige sich auch an den Themen von Abschlussarbeiten, die sich beispielsweise mit den historischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland auseinandersetzten. Das Narrativ der vergangenen Jahre sei immer gewesen, dass zwischenstaatliche Konflikte aktuell nicht das Problem seien. Dies habe sich geändert, sodass man sich in der Forschung und in der Lehre mehr mit zwischenstaatlichen Kriegen beschäftige. Auf die Frage eines Studenten, welche Rolle westliche Waffenlieferungen für einen möglichen Abzug russischer Soldaten aus der Ukraine spielten, antwortete der Botschafter, dass man sich ohne Waffen nicht gegen einen Riesen verteidigen könne. "Wir alle wollen Frieden, aber Frieden muss erkämpft werden. Jedes Waffensystem hilft." Die deutsche Diskussion darüber, wie viele Waffen man liefere, werde aber nicht entscheidend sein. Mit 18 Leopard-Panzern könne man keine Tausende Kilometer lange Grenze beschützen. dill.

Von Paul Dill aus der F.A.Z. Rhein-Main-Zeitung vom 17.03.2023. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Macht der Gewohnheit

FRANKFURT Neue Reihe zur "Frankfurter Schule"

Lange waren andere Dinge wichtiger, aber jetzt konnte Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD) endlich die Gesprächsreihe vorstellen, die sie, wie es hieß, immer wieder zurückstellen musste. Im Vortragssaal des Museums für Moderne Kunst hatte die "Frankfurter Schule" Premiere, denn David Dilmaghani, Leiter des Dezernatbüros für Kultur und Wissenschaft hat die Organisation der gleichnamigen Reihe in die Hand genommen. Hundert Jahre nach der Gründung des Instituts für Sozialforschung haben sich das Kulturamt und das Forschungszentrum "Normative Orders" der Goethe-Universität mit dem Institut zusammengetan, um Frankfurter Denker und die kritische Öffentlichkeit zum analogen Miteinander zu animieren. Denn, so Hartwig in ihrer Begrüßungsrede: "Frankfurt ist immer noch ein geistiger Mittelpunkt Deutschlands."
Einmal im Quartal stehen in der Nachfolge Horkheimers und Adornos aktuelle Themen an unterschiedlichen Frankfurter Museumsstandorten auf dem Programm. Zum Auftakt sprach der Publizist Cord Riechelmann mit Christoph Menke, Professor für Praktische Philosophie bei den "Normative Orders", über dessen bei Suhrkamp erschienenes Buch "Theorie der Befreiung". Riechelmann verwies darauf, dass Befreiung in der Geschichte immer in neue Herrschaft umschlage. Welche Mechanismen hinter solchen "paradoxen Gegeneffekten" stecken, untersucht Menke in seinem Buch. Herrschaft und Freiheit sind für ihn keine Gegensätze. Er sprach vielmehr von "Gewohnheit", die unfrei mache, und von einem "Erfahrungsereignis", aus dem Befreiung hervorgehen könne, falls man dieses möglicherweise auch ästhetische Moment ergreife.
Im Übrigen seien Freiheit und Befreiung nicht dasselbe. "Freiheit gründet nicht in Selbstverwirklichung, sie ist eine Seinsweise des Außersichseins", erläuterte Menke und bezog sich dabei auf Adorno als Musiktheoretiker. Einem Musikstück zu folgen, bedeute ein bejahendes Außersichsein. Das sei Freiheit. "Befreiung ist nicht etwas, das wir tun, sondern etwas, das uns widerfährt", so der Philosoph. "Knechtschaft bedarf nicht der Präsenz von Herren, sie ist freiwillig. Wir wollen nicht aus der Höhle raus", fuhr er mit Platon fort. "Wir ketten uns an Gewohnheiten. Wir haben die Knechtschaft in uns." Die Befreiung komme aus Erfahrungen, die nicht in unsere Gewohnheiten integrierbar seien. Als Beispiel führte er den Surrealismus an. Aber Gewohnheiten gingen aus Erfahrungen hervor: "Die Gewohnheit vergisst ihren eigenen Grund." Ein Zusammenspiel aus Trieb und Verdrängung.
Den Begriff der Dialektik vermieden die beiden Gesprächspartner. Schließlich sollen die Teilnehmer dieser Reihe möglichst ohne Fachterminologie auskommen, um von allen verstanden zu werden. Sie wurden verstanden. Das bewies das aufmerksame Publikum, das den Saal bis auf den letzten Platz füllte. Ältere, die mutmaßlich noch Adorno kannten, und Menkes Studenten gaben mit klugen Fragen Resonanz. Hartwig selbst fragte nach einem potentiellen Missbrauch dieses Befreiungsbegriffs. Da sprach Menke von "Selbstmissbrauch". Der Erfahrungsantrieb sei immer offen, ohne Bedeutung. Das Denken der Befreiung stelle sich erst danach ein - auch bei identitärer Politik.

CLAUDIA SCHÜLKE

Frankfurter Schule findet vierteljährlich statt, für den Sommer ist ein Gespräch mit Rainer Forst, Philosoph für Politische Theorie und Direktor des Forschungszentrums "Normative Orders" geplant.

Von Claudia Schülke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. März 2023. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Das Opfer hat keine Mitschuld an Kriegsverbrechen

Wann entsteht eine moralische Pflicht zum Kriegsaustritt? Reinhard Merkel beurteilt die Lage der Ukraine falsch.
Von Darrell Moellendorf

Am 28. Dezember 2022 schrieb Reinhard Merkel in diesem Feuilleton, die Regierung in Kiew sei in der Pflicht, "Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden". Sein Argument stützt sich auf einen Teil der Theorie des gerechten Krieges, das ius ex bello, an dessen Ausarbeitung ich maßgeblich beteiligt war. In meinen Augen geht es um zwei Kernfragen. Erstens: Ist es zulässig, einen Krieg fortzusetzen? Zweitens: Falls er beendet werden muss, wie sollte dies, in moralischer Hinsicht, geschehen? Merkels Antwort auf die erste Frage scheint zu sein, dass die Ukraine die Verantwortung habe, sich auf Verhandlungen mit Zugeständnissen einzulassen, um ein Ende des Krieges zu bewirken. Ich halte dieses moralische Urteil für grundfalsch und lehne auch dessen politische Implikationen ab.
Merkel hat mit vielem recht, etwa mit seiner Unterscheidung zwischen dem völkerrechtlichen Anspruch der Ukraine auf Selbstverteidigung und der moralischen Frage, ob die Ukraine den Krieg fortführen sollte, um ihre Souveränität zu verteidigen. Zudem zieht er die Ungerechtigkeit der russischen Invasion nicht in Zweifel. Merkel zufolge ist das ius ex bello gerade dann besonders bedeutsam, wenn eine gerechte Sache nicht oder zumindest nicht innerhalb der Grenzen der Moral verwirklicht werden kann. Das macht das ius ex bello zu einer bedrückenden Doktrin; was sie rät, ist schwer zu akzeptieren, vor allem wenn ein gerechter Grund, weiterzukämpfen, bestehen bleibt. Allerdings liefert Merkel kein überzeugendes Argument dafür, dass die Ukraine, die unter den Kriegsverbrechen eines anderen Landes, das nach Kolonialherrschaft trachtet, leidet, um des Friedens willen Zugeständnisse machen sollte. Gute Gründe sprechen vielmehr für die Annahme, dass ein solches Argument unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht triftig ist.
Das ius ex bello teilt einige der formellen Gesichtspunkte des ius ad bellum, das festlegt, wann der Eintritt in einen Krieg moralisch zulässig ist. Es geht in beiden Fällen darum, den gerechtfertigten Einsatz von Kampfmitteln zu begrenzen. Die Theorie des gerechten Krieges, zu der das ius ex bello wie auch das ius ad bellum gehören, unterscheidet sich vom Pazifismus dadurch, dass sie einige Kriege prinzipiell zulässt. Mitunter ist der Lehre vorgehalten worden, sie sei eine Ansammlung von Kriegsapologien. Dem ist jedoch nicht so. Sie geht davon aus, dass Kriege ungerecht sind, es sei denn, sie erfüllen eine Reihe von Bedingungen. In der Theorie des gerechten Krieges kann es starke Differenzen darüber geben, was diese Bedingungen sind und ob und wie genau sie auf einen bestimmten Fall anwendbar sind.
Jene, die zur Theorie des gerechten Krieges forschen, stimmen immerhin darin überein, dass ein Krieg nur zulässig ist, wenn er eine Reaktion auf ein gravierendes Unrecht darstellt. Es kann unterschiedliche Meinungen dazu geben, was genau einen "gerechten Grund" ausmacht. In jedem Fall gilt jedoch, dass ein gerechter Anlass allein noch keinen Krieg rechtfertigen kann. Denn möglicherweise gibt es moralisch weniger kostspielige Wege, diplomatische zum Beispiel, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Und selbst wenn dies nicht der Fall ist, können die Kosten, die eine Partei mit der militärischen Durchsetzung einer gerechten Sache verursacht, zu hoch oder die Erfolgsaussichten zu gering sein. Diese Kriterien werden als "Notwendigkeit", "Verhältnismäßigkeit" und "hinreichende Aussicht auf Erfolg" bezeichnet.
Im Rahmen des ius ad bellum darf ein Krieg, so würde ich argumentieren, nicht begonnen werden, es sei denn, ein gerechter Grund liegt vor, er ist notwendig, um für Gerechtigkeit zu sorgen, seine moralischen Kosten stehen in einem angemessenen Verhältnis zum normativen Ziel, und die Erfolgsaussichten sind günstig. Meiner Vorstellung des ius ex bello nach gelten dieselben Bedingungen, wenn die Fortsetzung eines Krieges, dessen Beginn gerecht gewesen ist, zur Debatte steht.
Ich kann nicht erkennen, dass Merkel anderer Meinung ist als ich, was die Bedeutung des gerechten Grundes sowie der Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und der Erfolgsaussichten betrifft. Ein Vorteil eines solchen moralischen Gerüsts ist, dass man sein Augenmerk auf bestimmte Streitpunkte richten kann. Merkel und ich sind uns einig, dass die Ukraine einen gerechten Grund hat, sich gegen die russische Aggression zu wehren. Aber wir sind anderer Meinung, was die Verhältnismäßigkeit und die Erfolgsaussichten des Verteidigungskrieges anbelangen.
Die Idee der Verhältnismäßigkeit besagt, dass es einen Punkt des Gleichgewichts gibt zwischen der Gerechtigkeit, die ein Krieg verficht, und den Kosten, die er verursacht. Ein Streben nach Gerechtigkeit, das Folgen nach sich zöge, die über diesen Gleichgewichtspunkt hinausgehen, wäre falsch, selbst wenn ein Sieg möglich ist. Kein Gut ist jeden Preis wert. In der wissenschaftlichen Literatur zur Theorie des gerechten Krieges wird fortlaufend diskutiert, wie dieser Punkt genau zu verstehen und wie er zu rechtfertigen ist.
Außer Frage steht aber, dass Merkel sich mit seiner Zurechnung der Folgen des ukrainischen Verteidigungskrieges täuscht. Er scheint die irrtümliche Ansicht zu vertreten, dass, sollten die moralischen Gesamtkosten des Krieges vorhersehbar massiv sein, die Ukraine aus Gründen der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sei, den Krieg zu beenden - unabhängig davon, welche Partei das Elend erzeugt. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit erfordert zwar, wie gesagt, die Folgen der Kriegsführung in Grenzen zu halten. Allerdings unterscheidet Merkel nicht klar zwischen Kosten, die auferlegt, und Kosten, die erlitten werden. Seine Sichtweise würde der Ukraine aufgrund russischer Kriegsverbrechen die Verantwortlichkeit aufbürden, den Frieden zu suchen.
Da politisch viel auf dem Spiel steht, ist moralische Klarheit ausgesprochen wichtig. Deshalb möchte ich näher erläutern, warum sich Merkel irrt. Zunächst behauptet er, dass die Ukraine die Verantwortung für die Todesfälle in dem polnischen Dorf Przewodów nicht von sich weisen könne, falls sie sie tatsächlich verursacht habe, um sich vor einem russischen Angriff zu schützen. Es stimmt: Unbeabsichtigte Todesfälle sind auch jenen anzulasten, die für eine gerechte Sache kämpfen. Obwohl die Ukraine die Kriegsopfer nicht beabsichtigt hat, hat sie sie herbeigeführt. Deshalb sind sie ihr zuzuschreiben, obwohl sie mit ihrem Verteidigungskrieg zweifellos eine gerechte Sache verfolgt.
Erstaunlicherweise ist der polnische Fall jedoch das einzige konkrete Beispiel für eine ukrainische Verantwortlichkeit, das Merkel heranzieht, um die übermäßig hohen Kosten des Verteidigungskrieges zu betonen. Im Vergleich zu den Todesopfern und dem gewaltigen Elend, das die russische Terrorkampagne mit ihren gezielten Angriffen auf die Bevölkerung sowie die Infrastruktur des Landes verursacht hat, war das ukrainische Militär bemerkenswert zurückhaltend. Die Vielzahl russischer Verbrechen als Grund gegen den Verteidigungskrieg der Ukraine gelten zu lassen ist jedoch schlicht Opferbeschuldigung: "Die Ukraine mag diesen Krieg am Ende gewinnen können, politisch und vielleicht auch militärisch, aber allenfalls mit einer Zerstörungsbilanz, die dem Begriff eines solchen Sieges keinen fassbaren Sinn mehr einräumt." Das Elend wird nicht nur jenen angelastet, die es auferlegen, sondern auch jenen, die es erleiden.
Merkel antizipiert den Vorwurf der Opferbeschuldigung, doch sein Ausweichmanöver misslingt. Die Ukraine trage Verantwortung für die Destruktivität des Krieges, behauptet er, obwohl Russland der Täter sei: "Regierungen haben Schutzpflichten gegenüber den Bürgern ihrer Länder. Dazu gehört auch die Verteidigung des Staates gegen Aggressoren, aber der Schutz von Leib und Leben und Zukunft seiner Bürger ebenso." Das ist in diesem Zusammenhang keine moralisch überzeugende Sichtweise. Jeder Verteidigungskampf kann dazu führen, dass der Aggressor die Bürger des sich verteidigenden Staates malträtiert und ermordet. Dies gegen die Gerechtigkeit des Grundes, sich zu wehren, aufzuwiegen hätte zur Folge, dass Verteidigungskriege rasch unverhältnismäßig wären. Der Invasor müsste einfach genug Unheil anrichten. Das Kernproblem ist, dass die Dimension des Leids ausreichen würde, um einen Verteidigungskrieg zu delegitimieren.
Anders sähe es aus, wenn die Bürger der Ukraine gegen ihr Leid protestieren und von ihrer Regierung fordern würden, Konzessionsverhandlungen aufzunehmen. In dieser kontrafaktischen Situation würde sich Merkels Behauptung, dass die ukrainische Regierung eine Ex-bello-Pflicht habe, auf das schwindende Vertrauen in die Legitimität des Verteidigungskrieges berufen. In der derzeitigen Berichterstattung gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass viele Ukrainer solche Ansichten tatsächlich vertreten. Kurzum, die Aussage, die ukrainische Regierung schulde es ihren Bürgern, umgehend eine Verhandlungslösung zu suchen, ist nicht haltbar.
Letztlich sind es vier Gründe, die dafür sprechen, dass die Ukraine das Recht hat, ihren Kampf fortzusetzen. Erstens ist das Ziel, den russischen Beherrschungsversuch abzuwehren, gerecht. Zweitens ist der Einsatz des Militärs hierfür das einzig wirksame Mittel. Drittens sei daran erinnert, dass, obgleich die Erfolgsaussichten schwer abzuschätzen sind, die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen Sieges von Anfang an unterschätzt worden ist. Zuletzt: Solange man der Ukraine nicht fälschlicherweise die Schandtaten des ungerechten russischen Eroberungskrieges indirekt zuschreibt, sind ihre Verteidigungsbemühungen verhältnismäßig.
Damit soll nicht gesagt sein, dass nie ein Zeitpunkt erreicht werden kann, an dem Verhandlungen ein vernünftiges Mittel wären, um die Feindseligkeiten zu beenden. Doch die Anwendung des ius ex bello auf den Ist-Zustand hat nicht zur Folge, dass sich die Ukraine mit Konzessionen um eine Lösung bemühen sollte. Diese Schlussfolgerung beruht auf einem moralischen Missverständnis.
Darrel Moellendorf lehrt Internationale politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Sein Artikel wurde von Amadeus Ulrich aus dem Englischen übersetzt.

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Feuilleton, Seite 12 vom 17. Januar 2023


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