Alte Texte tun nicht, was wir wollen. Die Übertragung heutiger Wertvorstellungen auf historische Ereignisse ist unzulässig: Warum die neue Version des Vaterunser, die Papst Franziskus vorschwebt, in die Irre führt
Verwirrend kann klingen, was man über die Taten und Worte Jesu erfährt. Er verflucht einen Feigenbaum, randaliert im Tempel von Jerusalem, und jetzt hat er die Gläubigen mit dem Vaterunser auch noch eine fragwürdige Bitte gelehrt, wenn man dem Papst und einigen anderen Kirchenleuten folgt: "Führe uns nicht in Versuchung" sei keine gute Übersetzung, ließ Franziskus verlauten (F.A.Z. vom 9. Dezember); es solle besser heißen: "Lass mich nicht in Versuchung geraten."
Tatsächlich, die vertraute Übersetzung lässt Gott als Versucher erscheinen. Was der Papst vorschlägt, klingt gefälliger - aber in welchem Verhältnis steht das zum griechischen Wortlaut des Vaterunsers, wie es frühe christliche Texte überliefern? Wer dieser Frage nachgeht, sollte bedenken, dass man nicht einmal dort die wörtliche Wiedergabe dessen findet, was Jesus gesprochen hat. Denn das Gebet dürfte er auf Aramäisch (allenfalls Hebräisch) vorgetragen haben - bekannt sind aber eben allein Übersetzungen ins Griechische.
Zu den Merkwürdigkeiten des Christentums gehört ohnehin, dass es sich auf einen Mann bezieht, der eine andere Sprache gebrauchte als die Texte, die von ihm Zeugnis ablegen. Und die Dinge liegen noch komplizierter: Zwischen den Versionen des Textes bei Matthäus (6,9-13) und Lukas (11,1-4) bestehen einige Unterschiede. Am schnellsten fällt bei Lukas das Fehlen der "Doxologie" am Ende auf ("Denn dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit"). Sie findet sich ebenso wenig in älteren Handschriften des Matthäus-Evangeliums und in der Didaché, einer sehr frühen christlichen, aber nicht neutestamentlichen Schrift, die mit der Welt des Matthäus-Evangeliums verbunden ist und auch das Vaterunser überliefert. Es dürfte sich bei der Doxologie also um einen späteren Zusatz handeln.
Eine Passage des Vaterunsers gibt noch heute ein sprachliches Rätsel auf, denn dort erscheint ein überaus seltenes griechisches Wort, das Adjektiv epioúsios: Die Bitte um das "tägliche Brot" dürfte eher mit "unser Brot für den kommenden Tag" zu übersetzen sein; vielleicht war indes von "ausreichendem" Brot die Rede.
Umso bemerkenswerter, dass der überlieferte griechische Text ebenso wie die Übersetzung bei der Bitte "Führe uns nicht in Versuchung" unstrittig ist, einschließlich der ersten Person Plural, die, wenn es nach dem Papst geht, zu einem Singular geändert werden soll. Die herkömmliche Übertragung ist eher zu schwach: "Bringe uns nicht hinein in die Versuchung", heißt es - Lukas verwendet das gleiche griechische Wort in demselben Tempus, als ein Kranker zu Jesus getragen wird. Hier steht die Möglichkeit im Raum, dass der Mensch nicht einmal auf eigenen Füßen läuft. Wer die Übersetzung im Sinne des Papstes ändert, setzt sich über den überlieferten Text des Vaterunsers hinweg.
Oder wurde das Aramäische missverständlich ins Griechische übersetzt? Das kann man nicht einmal ausschließen, da wir das Original nicht kennen, aber das ist nicht das päpstliche Argument und hätte bemerkenswerte Weiterungen für die Lektüre des Neuen Testaments insgesamt.
Übrigens meinte der große protestantische Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851 bis 1930), Markion, den viele Päpste als Häretiker verdammten, habe im zweiten Jahrhundert folgende Version geboten: "Und lass nicht zu, dass wir in Versuchung gebracht werden" - diese Zuschreibung wird inzwischen kontrovers diskutiert. Der karthagische Bischof Cyprian, als Denker hochanerkannt in der kirchlichen Tradition und 258 als Märtyrer gestorben, hat die Bitte mit Sicherheit so gelesen. Insofern vertritt der Papst keineswegs eine ganz neue Position. Schwierig wird es dennoch, wenn er das Vaterunser entgegen dem heutigen Stand der Textkritik umformulieren will, um den anstößigen Text aus der Welt zu schaffen.
Da gäbe es noch viel zu tun: "Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!", heißt es im 137. Psalm, dessen Sänger sich über Babylon empört. Diese Verse meidet man im Gottesdienst, aber noch erträgt man die Übersetzung in der Bibel. Soll man also eine bereinigte Fassung der Bibel herstellen?
Wer Texte der Vergangenheit liest, bekommt es mit sperrigen und anstößigen, ihrem Wesen nach unzeitgemäßen Texten zu tun; das ist anstrengend und enttäuschend, wenn man sich an einer überzeitlichen Moral erbauen will. Das gilt nicht nur für die Bibel. Will man denn wirklich die Kampfszenen der Ilias lesen oder die Machosprüche eines Faust? Historisch orientierte Geisteswissenschaften beschäftigen sich damit, Eigenarten von Texten aus früheren Zeiten zu identifizieren, einzuordnen und zu erläutern, sie eben dadurch für die Gegenwart fruchtbar zu machen.
Präsentismus versucht hingegen die Gegenwart vor jeder Äußerung zu bewahren, was Anstoß erregen könnte, oft in wohlmeinend politischer oder didaktisch-pastoraler Absicht, wie sie gewiss auch Franziskus geleitet haben. Texte der Vergangenheit sollen der Bestätigung der eigenen Moral dienen. Doch ihre Dignität liegt darin, dass sie eben das nicht tun. Sie zwingen dazu, Selbstverständlichkeiten der Gegenwart in Frage zu stellen.
Kirchen verwalten als Institution einen besonders sperrigen Text, die Bibel. Komplexe theologische Reflexionen bemühen sich im Konzert der Geisteswissenschaften, die Brücke zur Gegenwart zu schlagen, Predigten sollen das allen Gläubigen nahebringen. Man kann es sich auch leichter machen: Interkonfessioneller Präsentismus hat aus der Bibel die schlichte Welt der "Guten Nachricht Bibel" geschaffen. Sie übersetzt beim Vaterunser betulich: "Und lass uns nicht in die Gefahr kommen, dir untreu zu werden." Päpstlicher Präsentismus werkelt jetzt ebenfalls an der Übersetzung des Satzes. Man muss nicht gläubig sein, um sich an dem unhistorischen Charakter dieser gefälligen Übersetzungen zu stören. Alte Texte dienen einer selbstbezogenen Gegenwart dann am meisten, wenn sie sperrig bleiben.
HARTMUT LEPPIN
Der Verfasser Jahrgang 1963, lehrt Alte Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. 2015 wurde er mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet.
Hartmut Leppin, F.A.Z., 13.12.2017, Feuilleton (Feuilleton), Seite 13. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.