Achtundsechzig überall. Römerberggespräche zur Protestbewegung vor 50 Jahren
rieb. FRANKFURT. Achtundsechzig ist keineswegs aus dem Nichts gekommen. Die Protestbewegung war ein internationales Phänomen, das sich in nahezu allen westlichen Industriestaaten entwickelte und sich auch in einigen Ostblockstaaten verfolgen ließ, wie der Freiburger Historiker Ulrich Herbert gestern bei den Römerberggesprächen im Frankfurter Schauspielhaus zum Thema "1968 - 2018. What is left" überzeugend darlegte.
Gemeinsam war allen Ländern laut Herbert ein Konflikt zwischen der Kriegs- und der nachwachsenden Generation. In politischer Hinsicht habe eine Enttäuschung über die Widersprüche zwischen den postulierten Werten Frieden, Gleichheit, Demokratie und der Alltagspraxis wie etwa der Rassensegregation in den Vereinigten Staaten oder dem Vietnam-Krieg bestanden. Zudem habe sich eine Subkultur herausgebildet, die neue Lebensformen herausgebildet und mit Rock und Flower-Power ihren kulturellen Ausdruck gefunden habe.
Bei aller Gemeinsamkeit mit der amerikanischen beziehungsweise internationalen Protestbewegung unterschied sich Herbert zufolge die Bewegung in der Bundesrepublik von denen anderer Länder durch ihren Bezug auf die NS-Vergangenheit. Die hiesigen Achtundsechziger seien in einer Atmosphäre des peinlichen Schweigens über die Verstrickungen der Väter- und Großvätergeneration in den Nationalsozialismus aufgewachsen. Allerdings hätten sie im Zuge dieser Auseinandersetzungen den Begriff "Faschismus" als Chiffre für nahezu alle kritisierten Elemente der westdeutschen Gegenwart verwandt.
Mit dem 2. Juni 1967, als bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden sei, habe sich alles geändert: "Die Demonstrationen wurden lauter, die Forderungen radikaler." Es sei gegen Bürokratie und Kapital gegangen, gegen Konsumterror und Vietnam-Krieg, gegen Entfremdung und Repression, gegen Faschismus und Springer-Verlag. Manch einer habe nun an eine revolutionäre Krise im Weltmaßstab geglaubt.
Herbert sprach von "überschießenden Reaktionen". Bei einem nicht geringen Teil der akademischen Jugend sei eine Verachtung gegenüber Demokratie und Rechtsstaat entstanden, verbunden mit der Bewunderung monströser Diktaturen wie in China. Die Gleichung, wonach selbst die radikalsten Achtundsechziger letzten Endes die fortschreitende Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft befördert hätten, gehe nicht auf.
Von Hans Riebsam. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.04.2018, RHEIN-MAIN (Rhein-Main), Seite R2. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv