Belgien erlebte sein Waterloo in Paris. Repressive Innovationen des Völkerrechts: Eine Tagung in Tilburg beleuchtet die Friedensverträge von 1919/20
Die Bewertung der Pariser Friedensverträge von 1919/20 ruft bis heute lebhafte Kontroversen hervor. Elementare Fragen der internationalen Gemeinschaft wurden neu ausgehandelt, die Antworten zu verbindlichen Regeln des Völkerrechts gegossen. Der Völkerbund sollte den Frieden sichern, das Selbstbestimmungsrecht der Völker schwelende Nationalitätenkonflikte dämpfen, das Völkerstrafrecht begangenes Unrecht sühnen. Aber waren es gute Prinzipien und, wenn ja, unter welchem Aspekt und für wen? Im niederländischen Tilburg kamen jetzt Völkerrechtshistoriker zusammen, um mit Augenmaß zwischen Recht, Moral und politischen Interessen zu sondieren.
Mit Erfolg? Der an der Tsinghua-Universität in Peking lehrende Ire Anthony Carty zog ein kritisches, fröhlich donnerndes Fazit: Es habe sich um einen "provinzlerischen" Workshop gehandelt. Die Veranstaltung habe in ihrem Eurozentrismus wichtige Fragen globaler Geschichtsschreibung verfehlt. Einige globale Weichenstellungen kamen gleichwohl zur Sprache.
Ambivalent skizzierte Kirsten Sellars (Chinese University of Hong Kong) die Fortbildungen im Völkerstrafrecht. Die Versuche, Wilhelm II. strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, zeugten von einem neuen Denken, in das frische Erfahrungen aus dem nationalen Strafrecht eingingen. Ein Exempel der Kriminalisierung politischer Verantwortlichkeit war 1918 in Frankreich der Hochverratsprozess gegen Louis Malvy, den Innenminister der Jahre 1914 bis 1917, der mit der Verurteilung zu fünf Jahren Verbannung endete. Im Fall des deutschen Kaisers wurde die Abschaffung der Immunität politischer Entscheidungsträger auf die Staatsoberhäupter ausgedehnt. Es war eine neue Macht, die Sowjetunion, die in den dreißiger Jahren dogmatische Fortbildungen unternahm - so sachlich sortierte Sellars die Moskauer Prozesse ein, deren Wirkungen sie bis nach Nürnberg verfolgte. Unter dem Chefankläger Andrej Wyschinski lautete die Maxime des stalinistischen Strafrechts, dass keine persönlichen Verbindungen zwischen "Verschwörern" notwendig seien, um sie zu einer Bande zusammenzuschließen.
Der Mitorganisator Jan Lemnitzer (University of Southern Denmark) widmete sich der neuen Ordnung auf den Meeren. Wie kam es, dass der amerikanische Präsident Woodrow Wilson eine epochale Abkehr von der Freiheit der Meere duldete, die in seinen vierzehn Punkten noch prominent vorgekommen war? Lemnitzers Analysen der diplomatischen Korrespondenz der Vereinigten Staaten und Großbritanniens zeigten, wie Wilson der Royal Navy im Zweifel einen großen Vertrauensvorschuss einräumte. Sie sei auf den Weltmeeren Garant der "Zivilisation" gewesen und habe diese Rolle nie missbraucht. Die Erfahrungen des Weltkriegs und technische Innovationen wie das U-Boot begünstigten auf den Konferenzen ein Klima, in welchem Seestreitkräfte als legitime Zwangsmittel der Zukunft gegen Störer angesehen wurden: Besser als jemals zuvor konnte man boykottieren, isolieren und blockieren, wenn Regeln des Völkerrechts gebrochen wurden. Das war innovativ, bedeutete aber auch ein aggressives Verteidigen der neuen Weltordnung.
Wie die Pariser Verträge zwischen alter und neuer Weltordnung oszillierten, wurde vielleicht auf keinem Feld so deutlich wie im Mandatssystem, über das Leonard Smith (Oberlin College) sprach. Den Kriegsverlierern wurden ihre ehemaligen Kolonien weggenommen, aber was sollte man damit machen? Die Umwidmung zu Mandatsgebieten des Völkerbundes warf delikate politische und juristische Fragen auf: Wer war der Souverän? Einerseits versuchte man, die Mandatsmacht juristisch zu definieren und gegen Souveränität und Annexion abzugrenzen. Andererseits bestand keine Einigkeit, wer der Profiteur des neuen Status war. Die befreiten Völker sollten es nicht ohne weiteres sein. Das neue Völkerrecht ähnelte manchmal in fataler Weise dem alten, das den Kolonialismus der Imperien legitimiert hatte: Die Zivilisationsmission war lange noch nicht tot, im Gegenteil.
Immer wieder kam in Tilburg die Frage nach der Wirtschaft im Kontext von Krieg und Nach-Krieg auf. Zu regeln gab es in Paris nicht nur Reparationen für vergangenes Unrecht, sondern auch die neue Weltwirtschaftsordnung. Neben intensiveren Verflechtungen hatten sich auch hier neue Sanktionsmöglichkeiten etabliert, wie Nicolas Mulder (Columbia University) darlegte: Die Totalisierung des Krieges zog in die neuen Strukturen ein und förderte so zum Beispiel Enteignungen von Privatpersonen, wenn sie die falsche Staatsbürgerschaft besaßen. Die Völkerrechtsgelehrten, vielfach politisierte Patrioten im treuen Dienst ihrer Nationen, rekurrierten auf das britische Rechtsprinzip: "Es kann nicht gleichzeitig einen Krieg der Waffen und einen Frieden des Handels geben." Das war sehr viel früher gesagt worden, aber der Erste Weltkrieg verschärfte diese Haltung, indem man bei Sanktionen nicht mehr auf die Territorialität, sondern auf die Nationalität abstellte.
Und Belgien? Das kleine Land, eingezwängt zwischen Großmächten, von Deutschland 1914 in seiner Neutralität vertragswidrig verletzt, sah in den Pariser Vertragsverhandlungen seine Chance ganz eigener Art gekommen. Der Vortrag Frederik Dhonts (Brüssel/Antwerpen) verknüpfte auf höchst gekonnte Weise Völkerrechtsdoktrin und Staatenpraxis. Belgien war erpicht darauf, die ihm 1839 auferlegte Neutralität abzuschütteln. Diese hatte sie im militärischen Konfliktfall nicht zu schützen vermocht, nun wollte man aus der Verletzung des Völkerrechts politischen Profit schlagen und begehrte Souveränität sowie zusätzliche Garantien kollektiver Sicherheit, die über das System des Völkerbunds hinausgehen sollten. Das richtete sich politisch an die Gewinner des Ersten Weltkriegs und war moralisch besonders herausfordernd.
Übrigens waren die Belgier mit einem großen Stab technischer Sachverständiger angereist. Vincent Genin (Lüttich) sprach von einer "Armee von Experten". Diese vermochte freilich nicht zu verhindern, dass die belgische Stimme in Versailles nicht wirklich gehört wurde; auch die weltberühmten belgischen Völkerrechtler wurden an den Rand gedrängt. Die personelle Ausrichtung der neuen Diplomatie auf den Pariser Konferenzen gab einen Vorgeschmack auf das kommende Jahrzehnt der zwanziger Jahre. Wünsche nach internationaler Kooperation, Kriegsprävention und auch Sozial- und Wirtschaftspolitik sollten aufwendige Aktivitäten des Völkerbunds initiieren.
Dass ihn seine Friedensmission in den dreißiger Jahren schließlich überforderte, hat lange das Urteil über den Völkerbund negativ fixiert. Die Tilburger Konferenz hat gezeigt, wie ehrgeizig und widersprüchlich die neue Weltordnung geplant war. Das spiegelte sich in den Bewertungen, welche die anwesenden Spezialisten vornahm. Es wurden kaum verallgemeinerbare Einschätzungen sichtbar. Vermutlich muss die Antwort nach der moralischen Bilanz der Friedensverträge ähnlich heterogen ausfallen.
Von Milos Vec. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.07.2018, Geisteswissenschaften (Natur und Wissenschaft), Seite N3.© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv