Weg mit dem Bildschirm! Last Exit No Screen Policy: Warum Handys und Tablets Vorlesungen und Seminare rettungslos ruinieren und wie Dozenten und Studenten ihnen glücklich entrinnen können
Last Exit No Screen Policy: Warum Handys und Tablets Vorlesungen und Seminare rettungslos ruinieren und wie Dozenten und Studenten ihnen glücklich entrinnen können.
Es gibt eine fiebrige Sehnsucht nach der Vereinbarkeit von Handys, Tablets und wissenschaftlichem Unterricht. Vor drei Jahren war ich selbst fest entschlossen, das Smartphone in die Wissensvermittlung einzubinden. Ich identifizierte eine Software, mit der man im Hörsaal Umfragen und Wissenstests machen konnte. Ich stellte es mir interaktiv und studentenfreundlich vor, Jura-Anfänger in meiner verfassungsgeschichtlichen Vorlesung in Wien raten zu lassen, wie viele Gesetze es im Heiligen Römischen Reich wohl zwischen 1500 und 1800 gegeben habe. Bei Stoffwiederholungen würde ich überprüfen können, wie viel von der letzten Stunde hängengeblieben war. Von Neurologen und Bildungswissenschaftlern lernte ich hingegen: "Weg mit dem Ding!" Eine heilsame Entscheidung.
Die Befürworter interaktiver Informationstechnologie versprechen einen Zugewinn gegenüber konventionellen Methoden im Unterricht. Solcher Expertenrat besitzt den Anschein des Vorsprungs durch Technik und gibt sich didaktisch avanciert. "Handys gehören nicht verboten, sondern als selbstverständliches Lernmittel auf den Tisch", heißt es seitens der Bertelsmann-Stiftung. Die praktische Umsetzung dieses Rats gleicht jedoch dem Versuch, bei einem romantischen Flirt eine Balance zwischen dem tiefen Blick in die Augen des anderen und dem zerstörerischen Seitenblick auf das allgegenwärtige Handy zu finden: Es ist rettungslos zum Scheitern verurteilt.
Elektronische Medien haben das Machtgefälle zwischen Unterrichteten und Unterrichtenden verschoben. Der Kampf um die Aufmerksamkeit für den Stoff ist asymmetrischer denn je. Als Dozent kämpft man gegen einen übermächtigen Gegner. Die Verlockungen der bunten Bilder und der permanent oder potentiell einschießenden Nachrichten sind unwiderstehlich.
Es liegt nahe, der tatsächlichen Mediennutzung der Studenten wohlwollend entgegenzukommen. Nicht von ungefähr kursieren zahllose Vorschläge und Überlegungen, wie man Handy und Tablet sinnvoll in den Unterricht einbinden kann. (Medien-)Industrie und Politik setzen gerne auf diese Karte, freilich aus zweifelhaften Motiven. Ihre Plausibilität gewinnen diese Ideen aus der technikgläubigen Hoffnung, die Chancen der faszinierenden Instrumente zu nutzen und zugleich die Nachteile im Zaum zu halten. Praktisch alle Studenten führen das Gerät mit sich, was wäre schöner als die Vorstellung, sie dort abzuholen, wo sie sich ohnehin gerne aufhalten: zwischen Bildschirm und Tastatur.
Denn auch an der Universität bilden die Vorlesungen und Seminare keine Unterbrechung der exzessiven Mediennutzung. Überlässt man den Studenten kommentarlos die Wahl, so halten sie das Gerät meistens in Griffweite oder sogar im Blickfeld, immer bereit, dem Impuls nachzugeben. Im Halbdunkel des Hörsaals sieht man dann gesenkte Gesichter, auf die bisweilen ein fahler blauer Schein fällt, mit einer Hand werden Wisch- und Tippbewegungen unter dem Tisch ausgeführt. Zwischendurch hebt sich der Blick, und man sieht in ein Gesicht, über das eben noch ein verborgenes Lächeln gehuscht war.
Es genügt, dass unter den Hunderten von Zuhörern in meiner Vorlesung einer abgelenkt ist, damit ich für den Moment, nachdem ich ihn gesehen habe, selbst unkonzentriert werde. Weil es sich um eine massenhaft praktizierte Kulturtechnik handelt, die an der Universität von manchen Dozenten bisweilen sogar geduldet wird, schwindet das Bewusstsein für den Manierenverstoß. Die Kränkung, die das für die Dozenten bedeutet, ist weniger dramatisch als die Zerstörung der Lernatmosphäre. Dozenten können sich bestens vorbereiten, zu Gedankenflügen aufschwingen oder ein Feuerwerk an intellektuell oder emotional fesselnden Episoden abbrennen und mit Power-Point visuell unterstützen: Wie das tägliche Murmeltier wird noch jedes Bemühen um kollektive Konzentration von der sichtbaren Abschweifung der Adressaten unterlaufen werden.
Die Dozenten sind um keinen Deut besser als ihre Studenten: Auf Konferenzen brechen erst recht alle Dämme der elektronischen Ablenkung. Während vorne mutmaßlich Neues präsentiert wird, schweifen die regungslosen Gesichter der Zuhörer und des Moderators über aufgeklappte Bildschirme. Wer auf ihrer Rückseite sitzt und den Lesenden über die Schulter sehen kann, sieht, wie weit weg sie mit ihrem Pokerface gedanklich gerade sind. Vielflieger nehmen Umbuchungen vor, Internetbestellungen werden abgeschlossen, PDF-Dateien durchforstet, potentielle Partner gemustert. Am Ende des Vortrags reicht es meist dennoch für eine sich klug-kritisch gerierende Wortmeldung. Die Simulation gedanklicher Hingabe wird also auch hier beherrscht, die Fassade der respektvollen Ernsthaftigkeit aufrechterhalten. Gemeinsam einem dialogischen Gedankengang nachzugehen ist dennoch etwas anderes.
Dass ich schließlich meinen Vorsatz fallenließ, neue Medien in den Unterricht einzubeziehen, war zugegebenermaßen nicht das Ergebnis praktischen Scheiterns. Vielleicht wäre tatsächlich der erstrebte didaktische Erfolg eingetreten, wenn ich es bloß versucht hätte? Vielmehr habe ich mich grundsätzlich von der Idee verabschiedet, eine "intelligente" Verwendung digitaler Technik seitens der Studenten im Hörsaal anzustreben. Denn das würde auf eine praktisch unkontrollierbare Nutzung hinauslaufen, die den Ablenkungseffekt potenzieren würde: Die Aufforderung zum Griff zum Handy wäre der Blankoscheck an die Studenten für alle möglichen parallelen Zerstreuungen und eine Kapitulation vor der Macht der Unterhaltungselektronik.
Die empirische Unterfütterung meiner intuitiven Vorbehalte brachten hochschuldidaktische Fortbildungen, die ich während eines Fellowship an der New York University (NYU) genoss. Dort dozierte der Didaktik-Guru und Wunderwuzzi Clay Shirky vor Kollegen aller Fächer. Er sprach unter dem Titel "Competing with Distraction" über die Effekte der digitalen Technologien auf seinen Unterricht, reflektierte seine Erfahrungen in den vergangenen drei Jahren in Singapur und gab die schnörkellose Empfehlung zugunsten einer "No Screen Policy".
Shirky berief sich auf zahllose sozialwissenschaftliche Studien und war am eindrücklichsten dort, wo er gegen den Mythos des Multitasking in Kombination mit der angeblich selbstbestimmten Lernstrategie argumentierte. Denn, so Shirky, der von Sucht getriebene Blick auf den Bildschirm sei wie Rauchen im Verhältnis zu Passivrauchen: Auch jene, die nur mittelbar davon betroffen sind, leiden massiv. Intellektuell beeinträchtigt sei vor allem der reflexive Teil des Lernens. Allein schon die Wahrnehmung eines durch einen Bildschirm abgelenkten Kommilitonen lenke einen selbst intensiv ab, egal ob Studentin oder Dozent. Man selbst werde übrigens schon unhintergehbar abgelenkt, wenn man bloß das Handy in der Hosentasche spüre.
Ich hörte auch von einem der etabliertesten Professoren in der juristischen Kollegenschaft, Joseph H. H. Weiler, Erstaunliches: Bei ihm waren nicht nur Bildschirme im Unterricht verboten, sondern sogar das Mitschreiben, das an zwei Kommilitonen delegiert wurde, die dann ihre Mitschriften teilten (nach Durchsicht von Weilers Assistent): "Ich will Juristen ausbilden, keine Stenotypisten."
Shirkys Ansatz war empirisch, von eigener und fremder Ernüchterung getragen, und er argumentierte auch mit der Selbsterkenntnis der Betroffenen. Denn sie wussten um ihre emotionale Verführbarkeit und die Schwierigkeiten bei der Rückeroberung ihrer Selbstkontrolle. Nicht von ungefähr beschäftigten die Mediengiganten im Silicon Valley mehr Neurowissenschaftler als die ganze NYU, um unsere menschliche Sucht nach neuronaler Belohnung zugunsten ihrer Aufmerksamkeitsökonomie zu plündern. Allein diese Tatsache erschüttert die naive Forderung nach einem scheinbar aufgeklärten Umgang mit Technik. Was würde wohl geschehen, fragte Shirky, wenn die Universität einen Raum der Bibliothek oder Hörsäle so einrichten würde, dass dort kein Empfang mehr möglich wäre? Shirky tippt darauf, dass er von Dozenten wie Studenten gleichermaßen ausgebucht sein würde, die endlich in Ruhe arbeiten wollten.
Ich dachte noch oft an den Satz, wenn ich zurück in Wien durch die Bibliothek für Rechtsgeschichte ging und dort am späten Vormittag jene Studenten zählte, die am Handy waren. Bisweilen traf ich erst nach einem halben Dutzend Surfern auf einen Lesenden. Shirkys Ermahnung für solche Fälle war, sich zu vergegenwärtigen, dass Aufmerksamkeit die wertvollste Ressource ist, die Studenten an der Universität besitzen: Sie sollen sie dort vollkommen fokussiert einsetzen, wo sie sich fachliche Gewinne für die eigene berufliche Zukunft versprechen, also gerade nicht auf Snap-Chat.
Shirkys und Weilers Ausführungen wurden lebhaft und kritisch diskutiert, und zwar gerade im Hinblick auf die ausgeschlagenen Chancen und Nachteile einer solchen Abwendung. Sollte man nicht auf Texte auf dem Notebook zurückgreifen dürfen, die man heruntergeladen hatte und um deren genaue Wortlaut-Interpretation es im Unterricht ging? War nicht das digitale Mitschreiben jenem von Hand insofern überlegen, als man den Stoff später einfacher ergänzen und umstrukturieren konnte? Hier galt es, kritische Abwägungen vorzunehmen.
Nach einem ganzen Semester mit "No Screen Policy" kann ich sagen, dass die Umsetzung leichter als erwartet war. Ich hatte am Anfang jeder Lehrveranstaltung mein didaktisches Konzept wie immer erläutert, nun aber um das Problem der digitalen Ablenkung erweitert und alle Überlegungen offengelegt. Statt von einem Verbot warb ich um Teilnahme an einem kollektiven Versuch und appellierte auch an die Solidarität zugunsten jener, die sonst den Passivrauchen-Effekt zu befürchten hätten. Und ich war ebenso erfreut wie erstaunt, schon bei meinem ersten Auftritt vor Studenten sofort ein Gefühl des Durchatmens zu spüren: Endlich waren sie die Last los, ständig ihr Mobilgerät checken zu müssen oder jedenfalls eine Entscheidung darüber zu treffen. Sie blickten offener, wacher und engagierter in den Hörsaal.
Die Kulturszene befeuerte meine neue Haltung mit Berichten von Konzerten, bei denen die Veranstalter die Handys der Besucher verwahrten, damit wieder eine lebendige Live-Atmosphäre entstehen konnte. Es war nur eine Chance, aber eine wichtige, und die Idee ließ sich analog auf den performativen Akt der Hochschullehre übertragen. Die Lobeshymnen auf die Digitalisierung schienen mir demgegenüber eine populistische bis naive Ersatzhandlung: Bildungsvermittlung und Bildungserwerb werden an ein technisches Gerät delegiert und geraten zu einer neuen Variante von Interpassivität. Statt Dozenten und Studenten auf Ernsthaftigkeit zu verpflichten, wird diese Position als "konservativ" und technisch rückständig verächtlich gemacht. Natürlich fordern Medienkonzerne massive Investitionen in Digitaltechnologie, deren Anschaffung und Unterhalt ihre Zukunft sichert. Die Universität sollte jedoch die Berichte über das vermeintlich selbstbestimmte Lernen am Bildschirm kritisch hinterfragen und Sorge tragen, dass sich alle Beteiligten tatsächlich auf Augenhöhe begegnen. "Schau mir in die Augen, Display" funktioniert nicht. Übrigens nehme ich seither auch mein eigenes Handy nicht mehr in meine Lehrveranstaltungen mit.
Von Milos Vec. F.A.Z., 22.08.2018, Forschung und Lehre (Natur und Wissenschaft), Seite N4. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.