Die Lust an der List
Die Römerberggespräche beleben den politischen Streit
Die Welt bewege sich mit etwa dreißig Kilometern je Sekunde um die Sonne, tuschelt eine alte Dame zu ihrer Sitznachbarin im Chagallsaal des Schauspiels Frankfurt. Das könne man nicht aufhalten. Um genau zu sein, sind es 29,78 Sekundenkilometer, doch gefühlt dreht sich die Welt immer schneller. Und Gefühle nehmen ja auch einen immer größeren Raum ein, bei manch einem sogar so sehr, dass die gefühlte Wahrheit die Fakten schlägt.
Das, so ist bekannt, hat den Aufstieg Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten begünstigt, hat den Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa befördert und nicht zuletzt, vor gut einer Woche, den Wahlsieg Jair Bolsonaros in Brasilien möglich gemacht. Da können einem die 29,78 Sekundenkilometer der Erde schon einmal noch schneller vorkommen, als sie es ohnehin sind. Wie können die Demokratien verhindern, sich zu schnell in eine falsche Richtung zu bewegen? "Die neue Lust an der Zerstörung - oder wie die Demokratie ihre Fassung bewahrt" hieß die 46. Auflage der Frankfurter Römerberggespräche.
Die interessanteste Zustandsbeschreibung lieferte die Historikerin Ute Frevert. Angst, sagte sie, könne förderlich sein, solange sie Kommunikation öffne. Als Beispiel dienten ihr die Friedensdemonstrationen in den achtziger Jahren. Die Angst damals habe sich nicht an Personen ausgelassen, sie habe aber die Politik unter Druck gesetzt. "Damals wollte niemand diesen Staat zerschlagen", sagte sie. "Die heutige Politisierung der Gefühle schließt Kommunikation eher und erwartet gar nichts mehr. In dem Moment funktioniert Streit nicht mehr. Das ist das Neue." Einige Bürger stellten sich als vermeintliche Opfer dar, so Frevert, um aus diesem Status Stärke zu gewinnen und zurückzuschlagen.
Wie aber umgehen mit all jenen, die sich von der Demokratie, vom "System", aus der Mitte der Gesellschaft abwenden? Mit den Rechten reden oder nicht reden? Oder zumindest mit den Anhängern der Rechten reden? Diese Frage stellen sich viele in diesen Zeiten. Eine diskussionswürdige These äußerte Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Der momentane Erfolg der Grünen sei das Ergebnis einer Flucht aus der Politik. Will heißen: Wer die Grünen wählt, wählt den geringsten Widerstand. Und beendet damit den gesellschaftlichen Dialog. "Mit diesem Wechsel wenden sich Wähler der Partei zu, die am wenigsten mit der AfD zu tun hat." Sie verließen also einen Raum, in dem es noch gewisse Schnittmengen mit AfD-Wählern gebe.
Das Problem in der Auseinandersetzung mit der AfD sei es auch, dass die Debatten zu häufig moralisch aufgeladen würden. Das sei in den meisten Fällen aber ein Fehler, bedeute man dem Gegner doch damit, dass er unmoralisch sei, was jegliche Debatte zunichtemache. Hierbei nannte Möllers auch ein Beispiel, das vor allem jeden Sozialdemokraten interessieren sollte. Anstatt beispielsweise zu sagen, Italiens Innenminister sei ungerecht gegenüber Migranten, könne man auch sagen: Der macht Schulden. Und schon stelle man die mit Italiens Regierung sympathisierende AfD. "Sie müssen auf moralisches Oberwasser verzichten. Wir brauchen so was wie die Kunst der politischen Listigkeit."
Vielleicht ist es auch diese Listigkeit die für den Auftrieb der Grünen sorgt, und die Partei damit von der profillosen SPD absetzt. Die Verbannung der Moral aus der Politik, sagte Robert Habeck, der Bundesvorsitzende der Grünen, sei nicht erstrebenswert. "Im Diskurs sollten wir aber über politische Argumente diskutieren und nicht suggerieren, im Vollbesitz der Wahrheit zu sein." Damit gestand er einen Fehler seiner eigenen Partei in der Vergangenheit ein und begründete zugleich die Neubesetzung des Heimatbegriffs, den er nicht den Rechten überlassen wolle: "Wenn man anfängt, Begriffe aufzugeben, hört man auf, politisch agieren zu können. Die Diskussion in der Flüchtlingspolitik ist auch verlorengegangen, weil linke Parteien von subsidiär Geflüchteten gesprochen haben."
Es ist also die Auseinandersetzung, die benötigt wird. "Die Demokratie lebt doch gerade von Streit", sagte die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff. "Gute Argumente formen wir doch erst in der Auseinandersetzung." Die liberale Streitverweigerung befördere nur den Unmut in Teilen der Bevölkerung. Es gehe dabei gar nicht mal darum, die Gegenseite zu überzeugen, sondern diejenigen, die drum herumstehen. "Demokratie ist eine Zumutung. Der Streit muss gesucht werden."
Wer dieser Tage den politischen Diskurs verfolgt, der sieht ja, dass sich die Parteien wieder voneinander abzugrenzen versuchen. Ein Beispiel dürfte der Streit zwischen dem FDP-Bundesvorsitzenden Christian Lindner und Robert Habeck jüngst bei Anne Will gewesen sein, bei dem Lindner die Grünen als "cremig" und als "Klimanationalisten" bezeichnete. "Diesen zehnminütigen Schlagabtausch hätte ich mir gerne erspart", sagte Habeck. Viele Zuschauer wohl auch. Aber wohl nur, weil er moralisch aufgeladen war.
Von Tim Niendorf. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.2018, Feuilleton (Feuilleton), Seite 11. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv