Respekt unter Gleichen. Rainer Forst spricht über Toleranz und Religionsfreiheit
Abermals war der Chagallsaal ausverkauft. Offenbar hat das Frankfurter Schauspiel den richtigen Kooperationspartner für seine partizipative Vortragsreihe "Denkraum" gewonnen. Nach dem Juristen Günter Frankenberg war es diesmal Rainer Forst, einer der beiden Direktoren des Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen" an der Goethe-Universität Frankfurt, der so viele Teilnehmer zum Nachdenken über unser Grundgesetz anziehen und anregen konnte. Der Professor für Politische Theorie und Philosophie sprach über Religionsfreiheit und fragte danach, wie viel Toleranz die demokratische Gesellschaft verlange. Damit konnte der Leibniz-Preisträger anschließen an seine Habilitationsschrift, die sich mit dem Begriff der Toleranz beschäftigt.
Wozu braucht man heute noch Toleranz? Ist das nicht ein altmodischer Begriff aus Zeiten obrigkeitlicher Willkürherrschaft, als Könige und Kirchen religiöse Minderheiten aus meist pragmatischen Erwägungen duldeten? Am Anfang des Vortrags stand daher die Begriffsklärung. Dankenswerterweise verzichtete Forst auf eine Powerpoint-Präsentation, welche die Aufmerksamkeit der Zuhörer ohnehin nur ablenkt vom gesprochenen Wort. Toleranz, so war zu hören, entspringe nicht, wie oft vermutet, der Indifferenz. Dem Toleranz-Bedarf gehe vielmehr ein negatives Urteil voraus: "Was wir tolerieren, finden wir eigentlich falsch." In einem Akt der Akzeptanz würden Gründe für und wider erwogen, die dann, trotz Ablehnung, zur Toleranz führten. Gravierende Negativgründe könnten allerdings auch Grenzen der Toleranz markieren.
Toleranz sei somit "eine von anderen normativen Ressourcen abhängige Tugend", so Forst und sprach von einer "Erlaubniskonzeption", sofern Toleranz nur von oben gewährt worden sei, wie etwa beim Edikt von Nantes 1598. Schon Kant habe dergleichen Toleranzbegriff für hochmütig gehalten, und Goethe schrieb Klartext: "Dulden heißt beleidigen." Toleranz solle zur Anerkennung führen. In diesem Sinne sprach Forst von einer "Respektskonzeption", in der Toleranz nicht aus der Vertikalen gewährt, sondern von Bürgern untereinander, also horizontal, ausgeübt werde. Wenn dagegen heute aus dem Munde von Mehrheiten Bürger zweiter Klasse definiert würden, dann sei das wieder die Sprache der "Erlaubniskonzeption". Doch schon der französische Frühaufklärer Pierre Bayle habe von einer "Raison universelle" gesprochen, die Christen mit Nichtchristen teilen müssten.
"Demokratie ist die Praxis, um zu gerechtfertigten gemeinsamen Normen zu kommen. Grundlage dafür ist der Respekt unter Gleichen." Mit diesen Worten schickte der Gastreferent das Publikum an die Diskussionstische im Wolkenfoyer und der Panoramabar. Anschließend stand er, moderiert von Dramaturgin Ursula Thinnes, Rede und Antwort. Dabei zeigte sich, dass Forst von Verboten und Relegationen nicht viel hält. Burka-Trägerinnen, aber auch Schüler, denen die Klassenfahrt von den Eltern verboten werde, könnten sonst leicht ins gesellschaftliche Off abgedrängt werden. Hier fange Toleranz erst an: "Toleranz ist eine Tugend, wenn sie weh tut. Aber der Schmerz der Ungerechtigkeit ist der schlimmste."
Von Claudia Schülke. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.12.2018, Kultur (Rhein-Main-Zeitung) © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv