Wie man medienmündig wird
Denkraum im Schauspiel Frankfurt: Bernhard Pörksen plädiert für eine redaktionelle Gesellschaft
Für den seriösen Journalismus ist das eine gute Nachricht: Alle sollen so werden wie er. Jedenfalls, wenn es nach Bernhard Pörksen geht. Der Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen plädierte als Gast der partizipativen Redereihe "Denkraum" im Chagallsaal des Frankfurter Schauspiels für Medienmündigkeit: "Wir müssen medienmündig werden, weil wir medienmächtig geworden sind. Wir müssen von einer digitalen zu einer redaktionellen Gesellschaft werden." Pörksen forderte kritischeres Quellenbewusstsein, mehr Mut zur Wahrheit, mehr Relevanz und das Hören auch der je anderen Seite. Dafür stellt er sich ein interdisziplinäres Schulfach "Medienpraxis" vor sowie einen "Plattform-Rat" aus Medienwissenschaftlern, Journalisten, Juristen, die die Netzgemeinschaft zur Tranzparenz "zwingen" sollten.
Der Chagallsaal war ausverkauft. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass der diesjährige "Denkraum" über die deutschen Verfassungswerte dank der Kooperation mit dem Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen" der Frankfurter Goethe-Universität tatsächlich exzellent koordiniert und besetzt ist. Nach dem Rechtsphilosophen Günter Frankenberg und dem politischen Philosophen Rainer Forst war Pörksen schon der dritte hochkarätige Referent der Redenreihe. Ein bisschen selbst inszenierter Alleinunterhalter war er auch, obwohl ihm das Thema Meinungsfreiheit, das auf dem Programm stand, ernsthaft am Herzen zu liegen scheint. Das geht auch aus seinem Buch "Die große Gereiztheit" hervor, mit dessen Titel er auf das vorletzte Kapitel von Thomas Manns "Zauberberg" anspielt - eine Warnung vor dem "Donnerschlag" des Kriegsausbruchs.
Chefdramaturgin Marion Tiedtke hatte schon zur Begrüßung erwähnt, dass die Meinungsfreiheit bereits 1848/49 auf dem Forderungskatalog der Intellektuellen in der Frankfurter Paulskirchenversammlung gestanden habe. Erst gut hundert Jahre später wurde sie im heutigen Grundgesetz festgeschrieben. Jetzt wird das Grundgesetz 70 Jahre alt, und die Meinungsfreiheit ist dank der digitalen Gesellschaft und ihrer neuen Medien fast schon bis zur Perversion demokratisiert. Pörksen sprach daher ziemlich respektlos von einem "Kommunikations- und Wahrheitsmarkt" im Internet und bemühte die Simulationstheorie Jean Baudrillards. Was ist Realität, frage man sich angesichts einer Kloake aus Hass und Desinformation. "Realität ist das, was nicht weggeht, auch wenn man nicht daran glaubt", gab sich Pörksen selbst zur Antwort.
Fünf Diagnosen stellte er der medialen Gegenwart. Neben der "neuen Geschwindigkeit", die das Live-Ideal der Berichterstattung feiere und die Genauigkeit vernachlässige, prangerte Pörksen die "systematische Irreführung durch Erregungskreisläufe" an wie 2016 bei dem Amoklauf eines Schülers in München. Zudem diagnostizierte er einen "Hype zur Übertreibung", "neue Manipulationsmöglichkeiten" und eine "neue Sichtbarkeit". Wie kann am darauf normativ reagieren? Für Pörksen ist Bildung entscheidend. Die "Medienpraxis" in der Schule solle zu einem transparenten, dialogischen Journalismus der medial vernetzten Gesellschaft führen.
Das Publikum, das sich nach dem Vortrag an den Diskussionstischen im Wolkenfoyer und der Panorama-Bar austauschte, war damit noch nicht zufrieden. Als die Fragen der Besucher nach einer halben Stunde gesammelt und von Rebecca Schmidt, Geschäftsführerin des Exzellenzclusters, dem Referenten vorgetragen wurden, wiederholte Pörksen seine Forderung, das journalistische Arbeitsprogramm in Allgemeinbildung zu verwandeln. Schärfere Gesetze würden einer Wertedebatte nur ausweichen, die enthemmende Anonymität sei kein Wert an sich in der Netzgemeinde, sondern nur Mittel zum Zweck und in einer demokratischen Gesellschaft überflüssig. Ob der Konflikt zwischen gut recherchierter Information und Zeitdruck nicht etwas "retro oder naiv" sei, wollte die Moderatorin wissen. Doch Pörksen findet es empörend, dass die akademische Welt den Verlust des profunden Qualitätsjournalismus einfach hinnimmt.
CLAUDIA SCHÜLKE
Der nächste "Denkraum" findet am 26. Februar um 20 Uhr im Chagallsaal statt. Dann spricht Ute Sacksofsky über Gleichberechtigung.
Wie man medienmündig wird. Von Claudia Schülke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. Februar 2019. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.