Grautöne pflegen
"Denkraum" im Chagallsaal des Schauspiels Frankfurt: Tilman Allert über Gemeinwohl und Gemeinschaft
Der Mainstream kann ihm nichts anhaben. Im Chagallsaal des Frankfurter Schauspiels scherte der Soziologe Tilman Allert aus dem üblichen Sprachgebrauch aus und nannte den "Populismus" eine "unsinnige Begrifflichkeit". Es gehe dabei einfach um unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinschaft in Ost- und Westdeutschland. Vorausgegangen war eine Frage aus dem Publikum nach der Spaltung der Gesellschaft. Aber Allert winkte ab: "Die beruht nur auf der Unkundigkeit mit den Verfahren der institutionalisierten Demokratie." Schließlich hätten die Bürger im Osten zwei Diktaturen hinter sich und seien nicht an eine Demokratie gewöhnt, die nur unter Kompromisszwang zustande komme.
Der Gast in der interaktiven "Denkraum"-Reihe über die Werte unserer Verfassung versuchte, die Diskussion über "Gemeinwohl und Gemeinschaft in Deutschland" zu entdramatisieren. Erst am Morgen hatte er vom Kooperationspartner, dem Exzellenzcluster "Normative Ordnungen" der Goethe-Universität, erfahren, dass er für seinen erkrankten Kollegen Andreas Reckwitz einspringen sollte, um das Publikum mit einem Impulsvortrag in die üblichen Diskussionsrunden an den Tischen im Wolkenfoyer zu schicken. Nun machte er aus der Not eine Tugend und hielt einen Vortrag, der zwischen Exkursen à la "Tristram Shandy" und extremer Verdichtung oszillierte, so dass die grauen Zellen seiner Zuhörer erzitterten.
"Gemeinwohl ist institutionalisiert über Dienstleistungen, die der Staat anbietet. Aber es ist ständig strittig." Diese akzeptierte Strittigkeit anstelle des Faustrechts sei das Moderne. Allert versuchte, die Gemeinschaftsbildung in Deutschland aus östlicher Perspektive zu rekonstruieren. "Populismus ist ein Kampfbegriff aus der politischen Strittigkeit und aus soziologischer Perspektive nicht hilfreich." Mit Max Weber, Helmuth Plessner und Theodor Geiger als Gewährskollegen entwickelte er mehrere Thesen, die zuletzt auf ein "Staatsbürgerkonzept von Gemeinschaft" hinausliefen: "Das ist eine tragfähige, integrationsfähige Figur, zu deren Erhaltung wir beitragen können." Wir sollten "die Grautöne pflegen, die Ambivalenzen, anstatt schwarzweiß zu denken".
Also streiten und Kompromisse schließen. Das taten die Zuhörer dann auch an den Diskussionstischen. Die Gespräche seien intensiv gewesen, berichtete Chefdramaturgin Marion Tiedtke als Moderatorin. Allerdings wurden weniger Fragen als sonst gestellt. Was ist Gemeinwohl? "Eine Vorstellung vom guten Leben, wie es in Utopien artikuliert und in politischen Prozessen durchgesetzt wird", definierte Allert. Gibt es ein Aufleben nationaler Narrative? "Ja, Gott sei Dank. Das ist ein Prozess, den wir nur begrüßen können." Die Nationalgemeinschaft in Deutschland habe zu lange in nationaler "Zugehörigkeitsvermeidung" bestanden. Gute Politik müsse allerdings die nationalen Interessen mit den übernationalen versöhnen.
Brauchen wir ein Schulfach, damit die Kinder lernen, was Gemeinwohl bedeutet? "Nein", sagte Allert, "Gemeinschaft begründet sich über wechselseitige Toleranz der Imperfektionen". Dafür sei die Eltern-Kind-Beziehung zuständig. "Imperfektion zeichnet uns Menschen aus, aber die politische Führung ist zu sehr mit Perfektion konfrontiert." Und wie sieht es mit dem Gemeinwohl in anderen Ländern aus, etwa in den Vereinigten Staaten? "Die USA sind eine Sektengemeinschaft, getragen von der Vorstellung des ,Yes we can'. Sie kennen keine Grenzen für die menschliche Aktivität." Allert sieht Angela Merkels "Wir schaffen das" als Adaption dieses Impulses. Die Zuhörer schienen erschöpft zu sein, einige waren schon früher gegangen. Wer geblieben war, applaudierte benommen.
Der nächste und zugleich letzte "Denkraum" beginnt am 2. April um 20 Uhr im Chagallsaal. Dann spricht Marina Weisband über die Privatsphäre im digitalen Zeitalter.
Von Claudia Schülke. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.2019, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 34. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.