"Wir müssen mehr Konflikt zulassen"
Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff wirbt im "Denkraum" des Frankfurter Schauspiels für den konstruktiven Streit
Demokratie ist ein Wagnis und muss erstritten werden. Diese Ansicht vertrat Nicole Deitelhoff im Frankfurter Schauspiel mit Verve. Die Politikwissenschaftlerin, die an der Goethe-Universität Frankfurt arbeitet, eröffnete die diesjährige partizipative Redenreihe "Denkraum" mit einem Impulsvortrag über die Frage "Konflikte - Wie werden wir unser Zusammenleben gestalten?" Unter dem Leitwort "Zukunft - aber wie?" hat sich die sechsteilige Reihe dem saisonalen Spielzeit-Motto angepasst. "Morgen ist heute - Wie wollen wir leben" - das bedeutet auch: Wie können wir die Streitkultur wieder erlernen, die sich in den neuen Medien in eine Kampfansage verkehrt hat? Mit Deitelhoff hat das kooperierende Exzellenzcluster "Normative Ordnungen", das demnächst mangels Exzellenzstatus als "Forschungszentrum Normative Ordnungen" firmieren wird, eine konstruktive Streiterin für das demokratische Gemeinwesen in den gut besuchten Chagallsaal entsandt.
Gesellschaftliche Polarisierung und verbale Verrohung im Inneren, Euroskepsis und Nationalismen im Äußeren - das ist die Ausgangslage. Deitelhoff wäre keine Politikwissenschaftlerin ohne Rückgriff auf Thomas Hobbes' staatsphilosophische Schrift "Leviathan". Nach dem von ihm vorgeschlagenen Vertrag zwischen Staat und Bürgern müssten sich Letztere dem Staat unterwerfen und entwaffnen lassen. "Ziel der Demokratie und der Konfliktforschung ist es, die Konflikte in Bahnen zu leiten, in denen sie produktiv und nutzbar gemacht werden", so Deitelhoff, die auch Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung ist. Für uns hätten Konflikte aber meist nur noch Störpotential. Wenn sie jedoch unterdrückt würden, dann erlahme das Bekenntnis zur Demokratie. Die Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Gruppen nehme immer mehr ab. "Wir müssen mehr Konflikt zulassen", forderte die Referentin.
Der Konsensbürger halte Streit für ein Krisensymptom. Dabei sei die konfrontative Suche nach den besten Argumenten der Kern der Demokratie. Der normative Sinn solcher Suche liege im Nein-sagen-Können, in der Freiheit zur Alternative, etwa im Streit um den Klimaschutz oder um den Trisomie-Test. So ein Streit könnte aber auch riskant werden, wenn er sich radikalisiere und der Streit über die Sache zum Streit über die Person des anderen werde. Die Streitenden müssten sich wechselseitig anerkennen, und existentielle Sicherheit müsse im Vorfeld garantiert sein. In Institutionen, in denen Konflikte zivilisiert und repräsentativ ausgetragen werden, könnten Konflikte eingehegt werden. Doch müssten die Streitenden über entsprechende Kompetenz verfügen. Auch sollten die Bürger mehr mitgestalten, sonst könne es keinen Konsens geben. "Wir müssen mehr Streiträume offen halten", forderte Deitelhoff. Sie wünschte sich mehr Freude an der Kontroverse und forderte das Publikum auf: "Zündeln Sie an diesem Vortrag!"
Das taten die Zuhörer dank Chefdramaturgin Marion Tiedtke in der Rolle der Moderatorin dann auch zivilisiert. An den Diskussionstischen im Wolkenfoyer tauschten sich Jung und Alt in überschaubaren Runden aus. Dann wurden Fragen und Kommentare geclustert und von Dramaturg Alexander Leiffheidt an die Wand des Chagallsaals projiziert. Deitelhoff stand Rede und Antwort. Was, wenn kein gemeinsames Werteverständnis vorhanden ist? "Erst mal testen, wie weit man kommt." Die gesellschaftliche Mitte ignoriert die Ränder. "Die Mitte braucht den Rand, sonst ist sie keine Mitte." Aber im Internet radikalisieren sich die Positionen. "Wir müssen die kleinen Gruppen aus dem Internet rausholen ins reale Leben, Räume finden in den Stadtteilen." Deshalb will Deitelhoff im Frühjahr 2020 eine Bus-Bar in die Konfliktzonen der Stadt schicken. Unzufriedene Bürger sollen dann mit bis zu zehn Profi-Streitern zu Wort kommen.
CLAUDIA SCHÜLKE
Der nächste "Denkraum" findet am 3. Dezember im Schauspiel Frankfurt statt.
Von Claudia Schülke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. September 2019. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv