Knallharte Arbeit
Römerberggespräche zu den Folgen der Wende
Welcher demokratische Aufbruch kann die gesellschaftliche Spaltungen überwinden, die Deutschland und Europa seit einigen Jahren in Atem halten? Diese Frage haben sich die Frankfurter Römerberggespräche unter dem Titel "30 Jahre nach dem Mauerfall: Mehr Aufbruch wagen" gestellt. Die Antwort darauf konnten Referenten im Chagallsaal des Frankfurter Schauspiels am Samstag natürlich nur schuldig bleiben. Wer aber bis zum frühen Abend ausharrte, bekam zumindest eine erste Vorstellung von der "knallharten Arbeit", die auf alle wartet, die Populismus, Nationalismus und Rassismus entgegentreten wollen.
Als letzter Redner durfte der Soziologe Stephan Lessenich ans Pult, der deutlich aussprach, dass es an die Privilegien gehen müsse, wenn die zunehmend gespaltene Gesellschaft wieder näher zueinanderfinden solle. Dass "die zukünftige Form der Vergesellschaftung gewaltvoller und konflikthafter werde", hält Lessenich für unvermeidlich. Mit dem Begriff der Solidarität ausgedrückt, den er "neu denken" will, klingt das so: In Solidarität unter Ungleichen müssen Gegner überwunden werden, die Solidarität nur unter Gleichen üben wollen. So müssten die Westdeutschen ihren "Überlegenheitshabitus" ablegen und die Ostdeutschen ihre Selbstbeschreibung als Opfer überwinden.
Damit wäre die zweite große Frage der Veranstaltung berührt, um deren Beantwortung die Vortragenden weit weniger verlegen waren: Was haben die Differenzen zwischen Ost und West, die heute wieder sichtbar werden, mit dem Mauerfall, der Wiedervereinigung und der Nachwendezeit zu tun? Denn die Ursachen für die Selbstbeschreibung als Opfer finden sich, wie der Soziologe Steffen Mau zeigte, sowohl vor als auch nach dem Mauerfall. So sei in der DDR die Zahl der Studierenden in den siebziger Jahren gesunken, was in keinem anderen europäischen Land der Fall gewesen war. Im Vergleich zur westdeutschen Gesellschaft schafften und schaffen viel weniger den sozialen Aufstieg, die "Dienstklassen", das "starre Gefüge" und die "Mobilitätsblockade" aus der Zeit des SED-Staats hätten ihre Auswirkungen noch heute. Die "kulturelle Kränkung" wiederum habe ihren Ursprung vor allem in der Nachwendezeit: Da das politische System der Bundesrepublik auf den Osten übertragen wurde und man also eher - mit Thomas Biebricher - von einem "Beitritt" als von der Wiedervereinigung sprechen sollte, sei die Soziokultur der ostdeutschen Bevölkerung entwertet worden. Kombiniert mit der verfehlten Bildungspolitik im Arbeiter- und Bauernstaat waren so die Voraussetzungen für die Überschichtung mit westdeutschen Eliten geschaffen. Bis heute gebe es keine eigenständige Elitenbildung in den ostdeutschen Ländern, in drei Vierteln der Fälle ebne noch immer eine westdeutsche Biographie den Weg in Spitzenpositionen.
Wer zusätzlich eine kollektivpsychologische Erklärung gelten lassen will, muss sich mit Ivan Krastevs These auseinandersetzen. Für ihn liegt der Kern sowohl der europäischen als auch der deutschen Spaltung in Ost und West in der "psychologischen Bürde, wie jemand anders zu sein": Osteuropa und der Osten Deutschlands hätten den Westen "imitiert". Viel eher als der heutige Erfolg der nationalistischen Kräfte in osteuropäischen Ländern sei erklärungsbedürftig, wo sich der Nationalismus nach flächendeckenden Wahlerfolgen direkt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eigentlich "versteckt" habe.
Kann, wer all dies bedenkt, nun in Deutschland von einer "Kolonialisierung" des Ostens durch den Westen sprechen, was Thomas Biebricher und Stephan Lessenich zumindest nicht abwegig erschien? Patrice Poutrus, Historiker an der Uni Erfurt, wandte sich entschieden gegen diesen "Opfermythos". Die "Dolchstoßlegende" einer vom Westen aufgezwungenen Transformation lasse keinen Platz für die Entscheidungen, die von Ostdeutschen getroffen worden seien: "Es wird nicht über die geredet, die gegangen sind. Die Ostdeutschen haben überwiegend ihr Land aufgegeben."
Nationalistische, rassistische und populistische Einstellungen waren jedenfalls schon in der Nachwendezeit nichts Neues. Wie Manuela Bojadzijev beobachtet Poutrus, dass die Opfererzählung den Aufstieg der Rechten orchestriert und entschuldigt. Die Erklärung "Er ist arbeitslos, deswegen schlägt er Neger tot" habe ihn als Sohn eines afrikanischen Studenten und einer Ost-Berliner Buchhändlerin schon damals sehr einsam gemacht.
JANNIK WAIDNER
Von Jannik Waidner aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.11.2019, Feuilleton, Seite 13. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.