Wem darf die Peitsche gehören?
Afrikanische Kulturgüter sollen restituiert werden. Da sind sich mittlerweile alle einig. Unklar aber ist, ob das von allen ehemals Kolonisierten gewünscht wird.
Von Karl-Heinz Kohl
Die koloniale Raubkunstdebatte hat in den vergangenen Jahren die Gemüter erregt. Seit Emmanuel Macron im November 2017 bei seinem Staatsbesuch in Burkina Faso erklärte, Frankreich sei zur Rückgabe afrikanischer Kulturgüter an ihre Ursprungsländer grundsätzlich bereit, verging kaum eine Woche, in der die Medien nicht über sie berichteten. Aktivisten demonstrierten, Wissenschaftler tagten und Politiker gaben ihre Stellungnahmen ab.
Die Aufregung hat sich gelegt. Auch Debatten haben ihre Halbwertzeit. Werden über sie erst einmal Bücher geschrieben, ist das wohl das beste Indiz dafür, dass sie sich ihrem Ende zuneigen. Ein solches Buch hat der Kulturjournalist Moritz Holfelder gerade vorgelegt. Es trägt den sinnigen Titel "Unser Raubgut" (Ch. Links Verlag) und basiert auf Gesprächen, die er mit Beteiligten geführt hat. Es finden sich darin zwar einige wenige Stimmen, die sich gegen die allzu pauschale Verwendung des Begriffs verwahren, da beileibe nicht alles geklaut sei. Aber es überwiegt die Rede von den kolonialen Opfern, an denen wiedergutgemacht werden müsse, was ihnen von den Tätern angetan worden sei. Das Buch tritt als "Streitschrift" auf, die es gar nicht ist. Denn der Streit ist ausgestanden. Kaum jemand würde sich heute offen gegen eine Rückgabe afrikanischer Kulturgüter aussprechen. Der Deutsche Museumsbund und die Kultusministerkonferenz haben dazu Resolutionen verfasst, und selbst im letzten Koalitionsvertrag ist auf die Notwendigkeit der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus verwiesen.
Diesen Erfolg kann sich eine Gruppe von politischen Aktivisten zugutehalten, die bereits vor fünf Jahren mit einer Kampagne begonnen hatte, in deren Mittelpunkt zunächst noch das Berliner Humboldt-Forum stand. Ihr Anspruch ist hochmoralisch. Mit der Rückgabe der in den Museen aufbewahrten Kulturgüter an die ehemaligen Kolonialländer hoffen sie ein Stück der Schuld Deutschlands abzutragen. Die Mitglieder dieser Gruppe haben die ersten Restitutionsforderungen gestellt und sehen sich als Fürsprecher der um ihr Erbe gebrachten Kulturen Afrikas.
Doch handelt es sich dabei nicht um eine paternalistische Attitüde, wie man sie schon in der Kolonialzeit kannte? Denn es ist keineswegs so, dass nun aus allen afrikanischen Ländern Restitutionsforderungen gestellt werden. Eher scheint das Gegenteil der Fall. So musste zum Beispiel der deutsche Außenminister Heiko Maas bei seinem jüngsten Staatsbesuch in Tansania erfahren, dass die dortige Regierung auf die Rückgabe ihrer aus der deutschen Kolonialzeit stammenden Kulturgüter grundsätzlich verzichtet. Zumal wenn die Rückerstattungen an bestimmte Bedingungen gebunden sind und nur an Museen erfolgen sollen, ist diese Haltung durchaus verständlich. Andere afrikanische Regierungen könnten ähnlich reagieren.
Nahezu alle afrikanischen Staaten besitzen heute eigene Nationalmuseen. Zum größten Teil handelt es sich um Einrichtungen, die noch aus der Kolonialzeit stammen. Nigeria etwa, unabhängig seit 1960, verdankt sein 1957 eröffnetes Nationalmuseum der Initiative des britischen Archäologen Kenneth Murray. Sein erklärtes Ziel war es, in ihm die nationalen Kulturschätze des Landes als Zeugen einer großen Vergangenheit für alle Zukunft zu bewahren. Dahinter verbirgt sich ein genuin europäisches Konzept. Die Gründung der ersten Museen fiel in Europa nicht zufällig in die Zeit des aufkommenden Nationalismus. Die dort ausgestellten Kulturgüter sollten für den schöpferischen Geist des eigenen Volkes stehen.
Welche Artefakte, so mag man sich daher fragen, könnten diese Aufgabe in einem Land wie Tansania übernehmen, dessen Bevölkerung aus mehr als 130 ethnischen Gruppen besteht? Müssten im Nationalmuseum nicht alle gleichberechtigt vertreten sein? Und hieße auf die Rückgabe der Objekte einer dieser Volksgruppen zu beharren nicht, ihren kulturellen Hervorbringungen den Vorzug zu geben? Es ist dies einer der Gründe, weshalb man in den meisten afrikanischen Museen die noch aus der Kolonialzeit stammenden Sammlungen von Artefakten einzelner Ethnien nicht systematisch weitergeführt hat.
Vorbehalte anderer Art beziehen sich auf die meist besonders sorgfältig gearbeiteten und ästhetisch hochwertigen sakralen Objekte, die in europäischen Sammlungen als Prachtstücke afrikanischer Kunst gelten. Sofern sie in einigen Regionen bei religiösen Zeremonien immer noch Verwendung finden, werden sie von Nichtinitiierten ferngehalten und im Geheimen aufbewahrt. Ihre öffentliche Zurschaustellung stellt daher eine Profanierung dar. Afrikanisches Kulturerbe wird durch seine Musealisierung europäisiert.
Widerstände kommen gegenüber der Präsentation von Masken, Zauberfiguren und anderen Kultobjekten aber auch von religiöser Seite. Strenge Muslime und fundamentalistische Christen sehen in ihnen heidnisches Teufelswerk, das man nicht öffentlich zeigen sollte. Ausgestellt werden daher heute in den afrikanischen Nationalmuseen vorrangig archäologische Funde. Aufgrund ihres Alters können sie auch in den Rang von Nationalsymbolen erhoben werden, wie etwa in Zimbabwe der aus Stein gemeißelte Adler aus der alten Ruinenstadt, deren Namen das ehemalige Nordrhodesien heute trägt. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die Geschichte des Landes vor und nach der Erlangung der kolonialen Unabhängigkeit dar. Denn die Erinnerung an die europäische Kolonialherrschaft und der erfolgreiche Kampf gegen sie sind immer noch ein Band zwischen den Volksgruppen.
Deutlich ist dies bei den beiden von deutscher Seite mit großem Aufwand betriebenen Restitutionsaktionen dieses Jahres geworden: der Rückgabe der Kapkreuzsäule aus dem Deutschen Historischen Museum in Berlin sowie der Bibel und Peitsche Hendrik Witboois aus dem Stuttgarter Linden-Museum an Namibia. Im ersten Fall handelt es sich um ein Symbol widerrechtlicher kolonialer Landnahme, im zweiten um Erinnerungsstücke an den blutig niedergeschlagenen Aufstand der von Witbooi angeführten Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Alle drei Dinge sind für das Windhoeker Nationalmuseum wie geschaffen, da sich mit ihnen tendenziell alle Bevölkerungsgruppen identifizieren können.
Allerdings zeigt der Protest der Nama gegen die Übergabe von Bibel und Peitsche ihres Widerstandskämpfers an die staatlichen Behörden, dass das Kalkül der Regierung nicht aufging. Die Nama wollen sich den mit den beiden Reliquien symbolisch verbundenen Opferstatus nicht nehmen lassen, für den sie bisher vergeblich hohe Entschädigungssummen von der deutschen Bundesregierung einzufordern versuchten. Doch nicht nur sie, sondern auch die unmittelbaren Nachfahren Hendrik Witboois konkurrieren inzwischen mit dem namibischen Staat um die Erinnerungsstücke.
Wie schwierig es ist, die von verschiedenen Gruppen vorgebrachten Eigentumsansprüche zu prüfen, geht auch aus der bereits vor neun Jahren eingerichteten internationalen Benin-Dialog-Gruppe hervor. In ihr sind alle europäischen Museen vertreten, in denen sich die 1897 von britischen Truppen aus der nigerianischen Stadt Benin geraubten Bronzen und anderen Beutestücke befinden. Die Verhandlungen über eine Rückgabe sind bisher daran gescheitert, dass auf sie neben der nigerianischen Staatsregierung auch der Gouverneur des Bundesstaates Edo und der Palast des Königs von Benin Ansprüche erheben.
Als Vorbild für eine gelungene Restitutionspolitik wird häufig der bereits 1992 von der amerikanischen Bundesregierung verabschiedete Native American Graves and Repatriation Act genannt. Er verpflichtet die Museen dazu, alle in ihrem Besitz befindlichen menschlichen Überreste und Kultgegenstände indigener Kulturen auf deren Verlangen hin an sie zurückzugeben. Doch lässt sich das auf die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten abgestimmte Gesetz nicht einfach auf Afrika übertragen. Bei den afrikanischen Ländern haben wir es mit multiethnischen Staaten zu tun, deren einzelne Bevölkerungsgruppen die politische Balance mühsam auszutarieren haben, um die Stabilität des Gesamtstaats nicht zu gefährden. Die Rückführung des afrikanischen Kulturerbes aus den europäischen Sammlungen kann unter diesen Bedingungen zum Auslöser von Konflikten mit schwer absehbaren Folgen werden. Handelt es sich bei der Rückgabe "unseres Raubgutes", für das politische Aktivisten und postkoloniale Kritiker sich gegenwärtig so stark machen, also gar um ein Danaergeschenk? Man sollte die Weigerung der tansanischen Regierung ernst nehmen, sich moralisch zwar gutgemeinte, im Prinzip aber paternalistische Forderungen nicht zu eigen zu machen.
Der Autor war bis zu seiner Emeritierung 2016 Professor für Kultur- und Völkerkunde am Institut für Ethnologie und Direktor des Frobenius-Instituts an der Universität Frankfurt.
Von Karl-Heinz Kohl aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. November 2019, Feuilleton, Seite 13 . © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv