Demokratie, anders

Streitbare Ordnung: Der Sozialphilosoph Martin Saar im "Denkraum" des Frankfurter Schauspiels

FRANKFURT. Der Chagallsaal als "Denkraum" des Frankfurter Schauspiels war wieder gut besucht. Kein Wunder, hat der Sozialphilosoph Martin Saar doch mitten in der Thüringen-Debatte fragte: "Demokratie - Was wird aus der Krise des Politischen?" Wie aktuell die partizipative Vortragsreihe unter dem Leitwort "Zukunft - aber wie?" werden würde, hatten die Veranstalter, darunter der Forschungsverbund "Normative Ordnungen" der Goethe-Universität, dem Saar angehört, und die Heraeus-Bildungsstiftung, nicht ahnen können. Nun aber konnte Marion Tiedtke, Chefdramaturgin und Initiatorin der Reihe, einen Professor ankündigen, der sich vor allem mit den Fragen nach Macht und Demokratie beschäftigt, wenn auch bislang unter den Vorzeichen von Nietzsche, Foucault und Spinoza.
Doch Saar wollte keine Antworten liefern. Er hinterließ ein ratloses Publikum, wie den Fragen zu entnehmen war, die später an die Wand geworfen wurden. Sie glichen in ihrer Verworrenheit dem Vortrag. Dieser begann mit der Selbstbefindlichkeit des Referenten, der so ein Krisenbewusstsein wie heute noch nicht erlebt hat, weil er im Deutschen Herbst 1977 noch gar nicht da war. Jetzt diagnostizierte er eine "innere Erosion" der Demokratie, die nicht über Barrieren verfüge, um ihre endogenen Dynamiken bis zum Umschlag in ihr eigenes Gegenteil einzuhegen. Demokratie suggeriere dem Volk, dass es selbst regiere. Aber die Menschen seien frustriert, weil sie sich von ihren Repräsentanten nicht gehört fühlten.
Könnten ihnen mehr plebiszitäre Elemente helfen? Sollte man ohne den "Fetisch der Volkssouveränität" auskommen, laut Saar eine "Nebelkerze der Eliten"? Oder sollte man Zuflucht suchen in der Stabilität des Rechts? "Alle drei Positionen schwächen das demokratische Potential", resümierte der Referent. "Demokratie ist nicht nur ein Namen dafür, wie wir Politik machen, sondern dafür, was Politik ist. Wo Verschiedene etwas zusammen tun müssen, weil sie einen Raum teilen, da wird Politik gebraucht." Man müsse damit leben können, dass nicht alle Menschen gleich seien und doch miteinander auskommen müssten. Demokratie sei "unterbestimmt" in ihrer Form und Prozedur. Deshalb sollten wir darüber verhandeln und streiten: "Eine offene, streitbare Ordnung ist das Wesen der Demokratie."
Saar stellt sich eine "Demokratie, anders" vor: Sich selbst zur Disposition stellen, sich neu bestimmen, darauf komme es an. Das tat er auch in seinem Vortrag. Nur: Was kann man mitnehmen, wenn sich der Referent dauernd, wenn auch sympathischerweise, selbst relativiert? Dramaturgin Ursula Thinnes, die den Abend moderierte, konnte die Besucher später kaum von den Debattentischen wieder mobilisieren: Sie hatten sich in kleinen Kreisen festdiskutiert. "Was kann ein Rechtsstaat gegen demokratisch legitimierte Feinde tun, ohne selbst undemokratisch zu werden?" wollte jemand wissen. Die Frage der Fragen, die auch Saar nicht beantworten konnte. Er wiederholte: "Abwehr gesucht!"
CLAUDIA SCHÜLKE
Im nächsten "Denkraum" am 10. März um 20 Uhr spricht Susanne Wiest über "Arbeit - Was wird aus der Wettbewerbsgesellschaft?"

Von Claudia Schülke. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Februar 2020. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.


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