Die Feier der Irrationalität
Ist die Welt verrückt geworden? Das Coronavirus verunsichert die Menschen. Ein Gespräch mit dem Frankfurter Philosophen Rainer Forst.
Hamsterkäufe, die Verweigerung des Handschlags, Veranstaltungs-Absagen, Homeoffice-Zwang: Ist unser Verhalten angesichts des Coronavirus durchaus rational, oder ist die Welt verrückt geworden?
Das Schwierige an der Lage derzeit ist, dass wir nicht die Maßstäbe dafür haben, um zu beurteilen, wer verrückt ist und wer rational handelt. Es kann verrückt sein, jetzt so zu tun, als handele es sich bei Covid-19 einfach nur um eine gewöhnliche Grippe; es kann aber auch verrückt sein, Hamsterkäufe zu machen, Atemschutzmasken zu kaufen und Vorräte von Desinfektionsmitteln anzulegen. Man weiß einfach nicht, was die angemessene Reaktion ist. Da dies kollektiv der Fall ist, haben wir es mit einem beunruhigenden Phänomen der Unsicherheit zu tun, die wir aus unserem Alltagsleben eigentlich immer verbannen wollen. Wenn wir nicht wissen, was uns fehlt, gehen wir normalerweise zum Arzt, und wir vertrauen darauf, dass die entsprechenden Systeme funktionieren, so wie wir auch hoffen, dass ein Flugzeug, das wir besteigen, in Ordnung ist oder dass weiterhin die Produkte, an die wir gewöhnt sind, geliefert werden. Im Fall des Coronavirus erleben wir eine neue, kollektive Art von Unsicherheit, die normativ tief greift. Denn es ist mir nicht möglich zu behaupten, die Welt sei verrückt oder hysterisch, weil ich nicht genau einschätzen kann, was los ist.
Kann es sein, dass die Systeme rational funktionieren, während viele Individuen irrational agieren?
Was man Systemvertrauen nennen kann oder überhaupt Vertrauen in die Abläufe des modernen Lebens, ist eine fragile Angelegenheit. Das kann man jetzt beobachten. Noch glauben die Leute, dass es ausreichend Produkte im Supermarkt gibt, aber sie sind sich unsicher, wie lange noch. Noch wird produziert, aber wenn ich einen Betrieb habe, der auf Teile aus China angewiesen ist - wer weiß, wie lange meine Produktion noch läuft. Hier kommt etwas ins Rutschen, was sichtbar macht, wie zerbrechlich unsere normalen Lebensvollzüge in einer komplexen Welt sind. Die Krise macht dies sichtbar. Sie zeigt, dass wir in einer globalisierten Welt leben, die uns überfordert, wenn die Dinge ins Schwanken geraten.
Geraten die Menschen dabei in eine emotionale Ausnahmesituation?
Man fühlt sich immer mehr wie in einem Katastrophenfilm. Einige der filmischen, dystopischen Vorstellungswelten, was alles passieren kann, schnappen jetzt ein - und die Medien tun einiges dazu. Darauf sind wir aber nicht vorbereitet, denn normalerweise schützt uns ja die Leinwand vor solchen Realitäten.
Haben Sie als sozialwissenschaftlich orientierter Philosoph, der in den vergangenen Jahren die zunehmende Abkehr von aufgeklärten Positionen wahrnehmen konnte, noch Vertrauen in die Rationalität?
Was habe ich denn für Alternativen? Man muss Vertrauen haben in die, die jetzt Entscheidungen treffen, wenn zum Beispiel Großveranstaltungen abgesagt oder der Flugverkehr eingeschränkt wird. Ohne diese Art von Vertrauen würde man ja vollkommen orientierungslos werden. Oder zum Verschwörungstheoretiker, der ständig Bedrohungen sieht und glaubt, er wird ständig hinters Licht geführt. Man ist quasi zu einem gewissen Vertrauen gezwungen. Was nicht heißt, auf einen kritischen Blick zu verzichten und etwa zu schauen: Wie machen es andere Länder? Nebenbei: In den "Normativen Ordnungen" analysieren wir die Bedingungen für Vertrauen in komplexen Gesellschaften und transnationalen Systemen, daher haben wir nun neues Anschauungsmaterial.
Aber wir erleben es, dass die Verschwörungstheoretiker in solchen Situationen sofort auf den Plan treten und mit ihren kruden Theorien erstaunlich viele Menschen anziehen. Müssen wir das akzeptieren als Verirrungen und Verwirrungen einer letztlich doch durchrationalisierten Gesellschaft?
Das sind genau die Irrationalitäten, die rationalisierte und differenzierte Gesellschaften mit sich bringen. Solche Gesellschaften leben einerseits zu einem hohen Maß von Stabilitätserwartungen, stellen aber andererseits entfremdete Lebensformen dar, die von Systemen abhängen, die man nicht überschaut. Vielen wird jetzt bewusst, wie sehr die globale Ökonomie gefährdet ist, wenn in einer Weltregion die Dinge so laufen, dass die Menschen nicht mehr regelmäßig zur Arbeit gehen können. Solche Konstellationen sind immer für Verschwörungstheorien anfällig, aber in Situationen wie dieser gibt es geradezu eine Irrationalitätsfeier, noch einmal eine Steigerung des Zweifels, der sich falsche Sicherheiten sucht. Die man dann im Internet auch irgendwo findet.
Hat die Kritische Theorie nicht stets davor gewarnt, ein unkritisches Verhältnis zur Aufklärung zu haben und den Wissenschaften blind zu vertrauen?
In der Tat, man soll sein kritisches Bewusstsein nicht bei der Autorität der Wissenschaften abgeben, aber es gibt auch die umgekehrte Haltung, dass man der Wissenschaft überhaupt nicht mehr glaubt. Dann schlägt gesundes Misstrauen in Wahn um. Und das nimmt in dem Moment zu, wenn der eine Wissenschaftler sagt, da kommt eine Pandemie und die Leute sollen sich wappnen, und eine andere Wissenschaftlerin sagt, das ist Hysterie, und die Corona-Infektionen haben nur das Ausmaß einer gewöhnlichen Grippewelle. Grundsätzlich besteht in einer Gesellschaft, die auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen ist, ein gewisses Unbehagen, ob man diesen Autoritäten wirklich folgen soll. Dieses ist dieser Tage extrem. Die einen tun so, als sei gar nichts, und führen ihr Leben wie sonst auch weiter, die anderen gehen nur noch mit einer Atemmaske aus dem Haus, wenn überhaupt. Man ist zurückgeworfen auf das, was die Familie, was die Freunde für richtig halten. Es ist noch kein Rückfall in den Naturzustand, aber es ist eine Systemkrise, die tief in den Alltag reicht.
Ist es da entlastend für die Einzelnen, wenn es eine kompromisslose Vorgehensweise gibt und Großveranstaltungen wie jetzt die Leipziger Buchmesse abgesagt werden?
Das Schwierige ist die existentielle Qualität der Krise. Das Level der Angst ist extrem gestiegen, weil wir es mit einer Krankheit zu tun haben, bei der die Zahl der Toten ständig nach oben geht und dies stündlich gemeldet wird. Der Preis dafür, solltest du einen Fehler machen und dich bei einer Großveranstaltung anstecken, wird als sehr hoch eingeschätzt. Der Mitmensch kann den Tod bedeuten. Also doch Naturzustand? Wir werden sehen.
Die Fragen stellte Michael Hierholzer.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.03.2020, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 40. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv