"Kann man nach Ruanda noch Pazifist sein?"

In einer Diskussion in der Evangelischen Akademie zeichnen die Referenten ein dunkles Bild von einer Welt voller Kriege und Konflikte

Die Welt, sie ist ein Jammertal. Krisen, Kriege, Konflikte allerorten. Und damit nicht genug. Denn anders als zur Zeit des Kalten Kriegs, als der atomare Friede einen wohl endgültigen Waffengang in einem bipolaren Machtgefüge verhinderte, wimmelt es heutzutage nur so vor Banden, Vigilanten, Terrorgruppen, Abtrünnigen, Putschisten, Klein- und Großstaaten an ein paar dutzend Brandherden. Angesichts dessen macht die Weltenlage wechselweise demütig oder deprimiert.
Das ist natürlich arg verkürzt. Aber wer sich die 90 Minuten am Montagabend in der Evangelischen Akademie zum Thema "Wenn du Frieden willst. Krieg und Gewalt im 21. Jahrhundert" zu Gemüte führte, ging am Ende nicht gerade guter Laune aus dem Saal. Zur Auftaktveranstaltung der Gesprächsreihe "Schaut hin - Auf dem Weg zum Ökumenischen Kirchentag 2021" hatten die Evangelische Akademie, die Katholische Akademie Rabanus Maurus, der Hessische Rundfunk und diese Zeitung eingeladen. Bis zum Beginn des Kirchentags im Mai nächsten Jahres soll es jeden ersten Montag im Monat eine solche Veranstaltung geben. Referenten zum Auftakt waren Nicole Deitelhoff, Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungen an der Goethe-Uni, und der evangelische Militärbischof Sigurd Rink. F.A.Z.-Redakteur Daniel Deckers moderierte vor gut besetztem Saal.
Der Abend begann mit zwei Inputs. In jeweils gut 15 Minuten zeichneten beide Referenten ebenjenes wenig erfreuliche Bild. Deitelhoff beschrieb einen doppelten Wandel. Habe es während der Existenz der Sowjetunion geheißen: "Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor", sei dieses Motto vielen zu Anfang der neunziger Jahre als überholt erschienen. Fortan habe gegolten: "Bereite den Frieden vor" - vor allem einen durch das Recht geschaffenen und gesicherten. Angesichts einer multipolaren Situation in der Welt wandele sich das gerade wieder. Es gebe sowohl Großmacht-Konfrontationen (Russland und "der Westen", China und die Vereinigten Staaten) als auch eine damit einhergehende Schwächung wichtiger internationaler Institutionen wie der Vereinten Nationen. Deitelhoff berichtete von einer zunehmenden Blockade: So habe es in dem Gremium in den vergangenen fünf Jahren so viele Vetos gegeben "wie nie seit Ende 1991". Auf Handelsebene hingegen würden Regeln immer seltener multilateral vereinbart, sondern zwischen zwei Staaten. "Eine neue Weltordnung ist längst im Werden." Für Europa gelte es, an der Entwicklung teilzuhaben. Dazu sei eine Strategie nötig, die auch Sanktionen umfasse. "Sanktionen sind etwas Kommunikatives."
Rink sagte, Kriegs- und Krisenszenarien hätten nicht ausgedient. Im Nahen und Fernen Osten, auch in Nordafrika hätten "westliche Interventionen" zu der vielerorts instabilen Lage beigetragen. Die alte Tradition des gerechten Kriegs, der seit dem Römischen Reich der Gewaltlegitimierung gedient habe, werde immer wieder gebrochen. Der Militärbischof beschrieb die Wandlung hin zum Narrativ einer "rechtserhaltenden Gewalt" und einer "Responsibility to protect" (R2P), die nach den Greueltaten in Ruanda und auf dem Balkan in den neunziger Jahren entstanden seien. Das Wichtigste an R2P sei Prävention. Doch falls es zu einem Konflikt komme, müsse auch der Wiederaufbau gesichert sein. "Es reicht nicht, einen irregeleiteten Diktator wegzubomben."
Als Deckers schließlich nach der Rolle der Kirchen in einer Debatte um Krieg und Frieden fragte, stimmte Deitelhoff beinahe ein Loblied an. Die Kirchen seien beim Thema Gewaltethik unverdächtig und hielten wie wenige andere die Räume für kontroverse Themen offen. Angesichts des Grauens in der Welt stellte die Politologin die Frage in den Raum: "Kann man nach Ruanda noch Pazifist sein?"
trö.

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.3.2020, Frankfurt (Rhein-Main-Zeitung), Seite 31. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv


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