Sterbende weiße Männer

Die Pandemie wird von Aktivisten im Umkreis der postkolonialen Theorie genutzt, um ihre Feindbilder zu pflegen. Ziel der Attacken sind ältere Menschen.

Von Susanne Schröter

Am 8. März dieses Jahres gab die Hiphop-Band K.I.Z. in Dortmund ein Konzert nur für Frauen. Um die Menge anzuheizen, machten sich die Musiker ein bisschen über die aufkommende Angst vor Covid-19-Infektionen lustig. Diese sei nicht nötig, so die Rapper, denn die Wahrheit sei: "Dabei sterben nur alte, weiße Männer!" Zehn Tage später schrieb ein Blogger, der sich selbst als "#noafd, AntiNationalist, überzeugter Europäer und für eine offene bunte Gesellschaft" etikettierte: "Warum soll ich jetzt auf die alten Weißen Rücksicht nehmen, wenn Sie es die ganzen Jahrzehnten auch nicht für mich gemacht haben? #Klimakrise Und so denken nicht nur ich, sondern alle Jugendliche, die sich derzeit gegen das autoritäre Gelaber widersetzen und raus gehen feiern!"

Diese Beispiele stellen im Hinblick auf die Kaltschnäuzigkeit, die dabei zum Ausdruck kommt, sicherlich Extreme dar. Das Feindbild des alten weißen Mannes ist es jedoch nicht. Es ist das verbindende Element von sozialen Bewegungen jedweder Ausrichtung und stößt bis weit in die Sozial- und Geisteswissenschaften hinein auf Zustimmung. Das ist verblüffend und im höchstens Maße erklärungsbedürftig. Wie konnte es dazu kommen, dass unveränderbare körperliche Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht und Alter in einer Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, diskriminierende Stereotype abzulehnen, zu neuen Stigmata werden konnten?

Dass der neue Hass nicht allein eine Mode, sondern das Produkt wissenschaftlicher Theorien ist, wird deutlich, wenn man die ideologische Aufladung der Adjektive "weiß", "männlich" und "alt" getrennt voneinander betrachtet. Sie lassen sich nämlich drei separat entstandenen Diskursen zuordnen, die zunehmend verwoben werden: der postkolonialen Theorie, dem intersektionalen Feminismus sowie der Umwelt- und Klimabewegung.

Bei der postkolonialen Theorie handelte es sich ursprünglich um eine von Intellektuellen aus den ehemaligen Kolonien getragene Strömung, die Wissenschaft, Literatur und politischen Aktivismus miteinander verband und eine kritische Aufarbeitung der Kolonialgeschichte forderte. Unter anderem ging es dabei um die Entzauberung der westlichen Überlegenheitsrhetorik, mit der koloniale Herrschaftsverhältnisse gerechtfertigt worden waren. Einer der wichtigsten Vertreter war der Literaturwissenschaftler Edward Said, der mit dem Gegensatzpaar "Orient" und "Okzident" arbeitete und in einer 1978 erschienenen Monographie westlichen Forschern, Malern und Literaten vorwarf, das Zerrbild eines Orients als defizitäres Gegenbild des Westens erschaffen zu haben.

Saids Thesen wurden mittlerweile vielfach wegen seiner schwachen Datenbasis und seiner plakativen Schlussfolgerungen kritisiert, doch der "Orientalismus" ist noch immer eine der wichtigsten Denkfiguren der postkolonialen Theorie. Ihren Vertretern geht es schon lange nicht mehr allein um die analytische Bewältigung der Kolonialzeit, sondern um die Beschreibung der Gegenwart, die in mehrfacher Weise als ungebrochenes Kontinuum der Vergangenheit verstanden wird.

Die Idee, dass der Westen maßgeblich auf der Ausbeutung des "globalen Südens" basiere und sich orientalisierender und rassistischer Konstruktionen des "Anderen" bediene, um seine Hegemonie abzusichern, gehört zu ihren zentralen Paradigmen. In den Vereinigten Staaten, in denen der Postkolonialismus zuerst an den Universitäten Fuß fasste, verband er sich in den sechziger und siebziger Jahren mit der Bürgerrechtsbewegung schwarzer Aktivisten. Vor dem Hintergrund eines grassierenden Rassismus gegen Afroamerikaner entstand auch die Metapher des "Schwarzen" als des diskriminierten Anderen gegenüber einem diskriminierenden "Weißen", also gewissermaßen das binäre Paar, welches das Fundament der Figur des alten weißen Mannes bildet.

Anders als in den Vereinigten Staaten spielt dieser Gegensatz in Europa eine untergeordnete Rolle, doch durch die Fusion der beiden Theoriestränge kam es zu einer Übernahme der jeweiligen Metaphern. Die Kategorie "Schwarzsein" wurde dabei von der Hautfarbe gelöst und konnte jetzt auch von Personen angeeignet werden, die oder deren Vorfahren aus Asien, Lateinamerika oder Ozeanien stammten. Die solchermaßen konstruierte Gemeinsamkeit sehr unterschiedlicher Personen bestand primär darin, dass sie sich als "nicht weiß" definierten und dadurch an eine Unterdrückungsgeschichte anschlossen, die sie selbst als Ausgeschlossene markierte.

Der zweite Diskurs entstammt der Frauenrechtsbewegung, die sich bereits in den siebziger Jahren unter dem Einfluss postkolonialer Aktivistinnen in einen universalistischen und einen partikularistischen Flügel spaltete. Auf der einen Seite standen Frauen, die die Idee einer "globalen Schwesternschaft" verfolgten und weltweit für gleiche Rechte von Männern und Frauen eintraten. Auf der anderen Seite positionierten sich Frauen, die sich als "schwarz" oder "of color" bezeichneten und ihre "weißen" Schwestern tendenziell auf der Seite der Unterdrücker lokalisierten.

Die akademische Frauenforschung reagierte darauf mit der Entwicklung des sogenannten intersektionalen Feminismus, der "Rasse", "Klasse" und "Geschlecht" als interagierende Unterdrückungsmerkmale verstehen möchte. Heute konkurrieren diese drei Basiskategorien mit weiteren Opferkategorien wie dem Muslimischsein, das dem Segment des Nichtweißen zugeordnet wird. Letzteres führt zu einigen Absurditäten, da Muslime bekanntlich weder eine Hautfarbe noch andere unveränderliche Merkmale miteinander teilen.

Interessanterweise zielt der durch das Muslimischsein erzeugte Opferstatus nicht auf alle Anhänger der zweitgrößten Weltreligion, sondern vornehmlich auf Vertreter des politischen Islams, die damit erfolgreich Kritik an ihrer illiberalen Ideologie delegitimieren. Der dafür in Stellung gebrachte Terminus ist der "antimuslimische Rassismus", dem ein Konzept des "Rassismus ohne Rassen" zugrunde liegt. Er macht es möglich, sogar Muslime selbst des "antimuslimischen Rassismus" zu bezichtigen, wenn sie den Islamismus kritisieren.

Erst in jüngerer Zeit wurde der Begriff des "Alten" in die Feindbildkonstruktion intersektionaler Feministinnen und selbsterklärter Antirassisten aufgenommen. Da etliche Vorbilder dieser Strömungen selbst betagt sind, vollzieht sich diese Addition nicht ohne Reibungsverluste. Faktisch haben wir es mit einem Import aus der Klimabewegung zu tun, in der Greta Thunbergs "How dare you?"-Vorwurf an die als Weltzerstörer gebrandmarkten "Boomer" eine neue Frontlinie zwischen den Generationen zu beschreiben schien. Das vom WDR-Kinderchor am 9. November zum Besten gegebene Lied "Meine Oma ist 'ne alte Umweltsau" konnte zwar noch als Satire verteidigt werden, doch andere dachten ganz bierernst über den Entzug von Bürgerrechten für Alte nach. So forderte die Kolumnistin Johanna Roth in der "taz", älteren Menschen als Strafe für Umweltsünden, erstarkenden Nationalismus und eine prekäre Arbeitswelt den Führerschein und das Wahlrecht zu entziehen.

Der Gestus der Anklage wird zusätzlich durch ein Subjektivitätsgebot verstärkt, das äußere Attribute zum Zugangskriterium einer Teilnahme an Debatten erhebt. Schon in der frühen Frauenbewegung vertraten einige Wissenschaftlerinnen die Ansicht, dass weibliche Erfahrung eine notwendige methodische Bedingung für die gerade entstehende Frauenforschung sei. Wer das "falsche" Geschlecht besaß, war von vorneherein aus der Diskursgemeinschaft ausgeschlossen. Mittlerweile vervielfältigen sich identitäre Wir-Gruppen, die ihre Agenda durch eine eigene Diskurspolizei abzusichern suchen.

Auch in der gegenwärtigen Krise werden die beschriebenen Feindbildkonstruktionen separat oder in beliebigen Kombinationen zum Einsatz gebracht, um das Sterben hämisch zu kommentieren oder um finstere Verschwörungsphantasien zum Besten zu geben. Letzteres ließ sich am 23. März 2020 auf dem Twitter-Account der sich als "Antifaschistin" und "Integrationsaktivistin" bezeichnenden Ferda Ataman besichtigen. Sie schrieb dort: "Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen in Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn die Beatmungsgeräte knapp werden." Ataman, die dem selbstlos schuftenden medizinischen Personal offenbar Selektionsmethoden nach Art von Nazis unterstellte, ist keine namenlose Bloggerin, sondern eine Akademikerin, die wiederholt in einflussreiche Positionen des Landes Nordrhein-Westfalen und des Bundes berufen wurde. Auf den empörten Zwischenruf des Berliner Sozialwissenschaftlers Ruud Koopmans reagierte sie noch mit überheblicher Attitüde, doch dann brach ein Sturm der Entrüstung los und sie ruderte kleinlaut zurück.

Auch die zitierten "Ageisten" ernteten Unverständnis - häufig von Gleichaltrigen, die die Gesellschaft nicht als Konglomerat von sich feindlich gegenüberstehenden Sondergruppen verstehen möchten. Seien wir ehrlich: Ob die medizinische Versorgung auf der Intensivstation von einer jungen schwarzen Frau oder einem alten weißen Mann übernommen wird, ist denen, die um Luft ringen, ohnehin gleichgültig.

Die Autorin leitet das Forschungszentrum Globaler Islam an der Universität Frankfurt.

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. April 2020, Forschung und Lehre (Natur und Wissenschaft), Seite N4. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.


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