Frauen und Corona
"DenkArt" aus dem Haus am Dom
FRANKFURT Überall klaffen Lücken: eine Einkommenslücke, eine Pflegelücke, ganz zu schweigen von den Führungspositionen. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, hat sich zwar bis zu einer Professur an der Humboldt-Universität und bis in den Aufsichtsrat der Berliner Stadtreinigung vorgekämpft, aber für die meisten Frauen sieht sie weniger Chancen. Im Haus am Dom sprach die Sozialwissenschaftlerin jetzt von einem Bildschirm aus über "Teilhabe oder Rückschritt? - Die Position der Frau in Zeiten von Corona". Damit setzte sie die partizipative Redenreihe "DenkArt" des Forschungsverbunds "Normative Orders" an der Goethe-Universität, der Katholischen Akademie Rabanus Maurus und der Heinrich-Böll-Stiftung fort. Per Livestream kam sie ins Gespräch mit dem Publikum.
Allmendinger konstatierte einen "Verlust an Optionen" für Frauen und vertrat die These einer Retraditionalisierung: "Die Lücken sind scheinbar geschlossen, weil die Frauen alles getan haben, um sich den Männern anzupassen." Tatsächlich hätten die Achtziger-Jahrgänge in Westdeutschland aber weniger Geld in der Tasche als die älteren Jahrgänge oder die Frauen in der ehemaligen DDR, weil sie mehr Teilzeit arbeiteten. Auch habe es sich lange rentiert, mit einem wohlhabenden Mann verheiratet zu sein: "Bis vor ein paar Jahren waren die Witwenrenten höher als die eigenen Arbeitsrenten." Allmendinger sprach von der "Gnade der Partnerschaftlichkeit", wenn Männer mehr Pflegearbeit übernähmen. Die Einstellungen von Männern hätten sich jedoch nicht grundsätzlich geändert. Frauen hätten ihre Arbeitszeit reduziert. Noch immer gehe das Stereotyp von der überambitionierten "Rabenmutter" um.
Es war nicht leicht für die beiden Moderatorinnen, sich in diesen Redefluss einzuklinken, und die Bilder von Youtube enthüllten gnadenlos die gelangweilte Höflichkeit, die sich auf den Gesichtern von Mechthild Jansen (Böll-Stiftung) und Marion Tiedtke (Initiatorin von "DenkArt") breitmachte. Doch Jutta Allmendinger war so pflegeleicht, wie sie sich selbst bezeichnete. Nach 45 Minuten stand sie Rede und Antwort: den Moderatorinnen, den gut zehn Chat-Fragern und dem "Minipublikum" an Ort und Stelle, sprich: Joachim Valentin, Leiter des Hauses am Dom, und Rebecca C. Schmidt von "Normative Orders". "Waren wir schon mal weiter?", wollte Tiedtke wissen. "Corona zeigt uns wie in einem Brennglas, was wir versäumt haben, und verschärft den Status quo", entgegnete Allmendinger. "Die Pandemie", beschied sie aber einer Chatterin, "hat die Männer auf den Spielplatz gebracht."
CLAUDIA SCHÜLKE
Von Claudia Schülke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20.11.2020, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 42. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.