"Infektionsschutzrecht des Ungefähren"

FRANKFURT Der Rechtsphilosoph Günter Frankenberg spricht mit Marion Tiedtke in der Reihe "DenkArt" über die Corona-Maßnahmen

Er hat wieder einmal Klartext gesprochen. "Ohne Verantwortung ist Freiwilligkeit schaler Narzissmus", sagte Günter Frankenberg vor internem Minipublikum im Haus am Dom und externem Chat-Publikum an den Bildschirmen. Der Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Frankfurter Goethe-Universität gehört zum dortigen Forschungsverbund Normative Ordnungen und damit zu den Mitveranstaltern der partizipativen Redenreihe "DenkArt". Er ist sogar persönlich ins Haus am Dom gekommen, um unter der Moderation von Marion Tiedtke, Initiatorin der Reihe, über "Freiwilligkeit oder Zwang?" und die "Experimente in den Zeiten von Infektionsschutz" im Live-Stream zu sprechen. Mit Seitenblick auf die sogenannten Querdenker konnte er nur den Kopf schütteln: "Ich hätte nie gedacht, dass Meinungs- und Versammlungsfreiheit obszöne Seiten haben können."
"Eigentlich hatten wir den Ausnahmezustand schon in der ersten Welle", konstatierte Frankenberg in seinem Impulsreferat: "Er ist unter der Hand normalisiert worden." Zu seinen Merkmalen gehörten die Suspendierung der Grundrechte. "Es ist die Stunde der Exekutive." Solche Notverordnungskompetenz habe die Weimarer Republik in den Abgrund geführt. Deshalb warnte der Jurist: "Wir sollten uns an diesen ausnahmerechtlichen Charakter nicht gewöhnen." Etwa 78 Prozent der Deutschen akzeptierten die Kontaktsperren und mehr als 90 Prozent die Maskenpflicht.
Bei den Querdenkern gehe es eher um den Dissens als solchen, Corona sei nur ein Stellvertreter-Konflikt. Die Demokratie als Lebensform sei in einer Krise. Damit bezog er sich auf den Soziologen Wilhelm Heitmeyer, der in der "DenkArt"-Reihe über "autoritäre Bedrohungen" gesprochen hatte. "Das Toleranzkapital an den Rändern der Gesellschaft ist aufgezehrt", so Frankenberg.
"Sind uns autoritäre Systeme denn überlegen?", wollte Tiedtke wissen. "Nein", entgegnete der Jurist, "denn autoritäre Führer sind beratungsresistent." Sie leugneten die Krise zuerst und nutzten sie dann, um ihre Macht zu erweitern oder zu sichern. "Wir sind auf ganz gutem Weg", bilanzierte Frankenberg und meinte damit den "Mix aus Freiwilligkeit und Zwang", den er zuvor als "Infektionsschutzrecht des Ungefähren" bezeichnet hatte. In Wirklichkeit sei die Pandemie eine ökologische Katastrophe, weil die Zivilisation bestimmte Grenzen überschreite: "Immer wenn wir die Artengrenzen überqueren, gibt es ein Crossover." Alle Pandemien seien letztlich von Tieren ausgelöst worden.
Die Fragen des Publikums zielten meist vorbei an der Kompetenz eines Rechtsphilosophen. Dass Skilanglauf verboten sei, findet aber auch Frankenberg absurd. Eine erfreuliche Meldung steuerte Tiedtke bei: "Der Buchhandel hat zugelegt." Und dann kündigte sie die Fortsetzung der "DenkArt" für den 9. März an: Thema "Solidarität".
CLAUDIA SCHÜLKE

Von Claudia Schülke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Dezember 2020, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 48. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv


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