Gerechtigkeit. Was sonst?
Ein Doppeljubiläum: Vor 100 Jahren wurde der Philosoph John Rawls geboren, und vor 50 Jahren erschien seine »Theorie der Gerechtigkeit« von Rainer Forst
Eine tiefgreifende gesellschaftliche Krise wie die derzeitige produziert erhöhten normativen Orientierungsbedarf. Woran soll man sich halten, wenn nichts mehr ist, wie es war, und noch nicht absehbar ist, wie es sein wird?
Eine beliebte Antwort ist: Solidarität beziehungsweise in neuer Form Zusammenhalt. Diese geschmeidigen Begriffe haben aber ihre Tücken. Sie lassen offen, wer wie zusammenhalten soll – Alte und Junge in einer Gesellschaft oder nur die Jungen untereinander, möglicherweise über Grenzen hinweg? Die Deutschen, die EU-Bürgerinnen und -Bürger oder wer – und weshalb?
Man muss keine neuen Begriffe erfinden, um zu verstehen, dass in Zeiten, in denen wertvolle Ressourcen wie Impfstoffe, Gesundheitsversorgung, aber auch soziale Chancen und Risiken zu verteilen sind, die gute alte Gerechtigkeit die Leitwährung sein muss. Denn Solidarität ohne Gerechtigkeit ist blind. Aber welche Gerechtigkeit?
Hier bietet sich der Klassiker der neueren Philosophie der Gerechtigkeit an: die vor 50 Jahren erschienene Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, der am 21. Februar 100 Jahre alt würde (er starb 2002). Rawls’ Werk gehört in die seltene Kategorie der Bücher, die schon bei ihrem Erscheinen mit Platons Politeia oder Hobbes’ Leviathan in einem Atemzug genannt wurden. Wodurch war Rawls das gelungen? Er hatte das Kunststück vollbracht, eine komplexe Theorie auf der Basis eines einzigen Gedankens zu formulieren.
An die Tradition des Gesellschaftsvertrags anschließend, fordert er zu einem Gedankenexperiment auf: Kämen Menschen hinter einem Schleier der Unwissenheit zusammen, der ihnen ihr Geschlecht, ihre ethnische oder soziale Herkunft und ihre Talente und Vorlieben verbirgt, um die Grundsätze zu beschließen, die ihre künftige Gesellschaft in Bezug auf die Verteilung der wichtigsten Grundgüter leiten sollen – was würden sie wählen? Rawls gibt ihnen einige Informationen über die Natur dieser Gesellschaft mit auf den Weg sowie ein Interesse an ihrem Wohlergehen und einen Sinn für Gerechtigkeit, mehr aber auch nicht. Niemand weiß, wo und als was er oder sie landen wird, wenn sich der Schleier lüftet.
Und so schließt Rawls, dass die Parteien dieses »Urzustands« eigeninteressiert, aber risikoscheu ihre Vor- und Nachteile abwägen und zwei Gerechtigkeitsgrundsätze bestimmen würden: erstens für alle gleiche Grundrechte auf Freiheit und Partizipation und zweitens faire Chancengleichheit und die Bedingung, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten »den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen« (das Differenzprinzip). Der Hauptgedanke der Konzeption von »Gerechtigkeit als Fairness« ist, dass sich die Fairness der Ausgangssituation auf die Qualität der gewählten Prinzipien überträgt; so buchstabiert Rawls den Gedanken der Gerechtigkeit als Unparteilichkeit aus. Das Gedankenexperiment zwingt die rationale Interessenkalkulation in eine allgemeine – wenn auch sehr abstrakte – Perspektivenübernahme hinein.
Dieser geniale Ansatz ist bis heute ebenso einflussreich wie umstritten. Ganze Generationen von Gerechtigkeitstheorien hat er dazu beflügelt, nachzuweisen, dass Rawls die Menschen zu Sklaven ihrer Gesellschaft mache, da er keine »natürlichen« Ansprüche auf irgendwelche Verdienste oder Besserstellungen zulässt. Andere dagegen wollten zeigen, dass die rationale Kalkulation der eigenen Vorteile die Menschen atomistisch auseinandertreibe.
An diesen Kritikpunkten ist etwas Wahres, denn so radikal, wie Rawls das Verdienstprinzip ablehnt, hat dies kaum jemand getan. Weder aus besonderen Talenten noch aus sozialen Startvorteilen lassen sich irgendwelche Ansprüche ableiten. Seine Argumentation kommt hingegen ohne die Annahme einer Sozialität aus, die den Individuen vorausgeht und sie zum Altruismus motiviert oder die Gesellschaft als große Familie betrachtet. Rawls versucht, die Betonung des Individuums mit der des Vorrangs der Gerechtigkeit zu verbinden.
Sein Werk ist oft missverstanden worden, etwa so, dass die eigeninteressierten Parteien des »Urzustands« mit den Personen der zukünftigen, »wohlgeordneten« Gesellschaft verwechselt wurden. Erstere waren kluge Egoisten, Letztere waren von einem Sinn für Gerechtigkeit geleitet, nach dem keine einzelne Person zugunsten des »größten Glücks der größten Zahl« geopfert werden dürfte. Darin bestand die Stoßrichtung der Theorie gegen den seinerzeit dominanten Utilitarismus – die heute dort relevant wird, wo es darum geht, wie viel Grundrechtsschutz für wenige die Interessen größerer Gruppen der Bevölkerung übertrumpfen kann. Wobei man bemerken muss, dass auch der Utilitarismus gern falsch verstanden wird, da er nichts mit Egoismus, viel aber mit Altruismus zu tun hat. Die wenigen sollten einsehen, dass sie sich zugunsten der vielen opfern müssen. In Zeiten des Lockdowns, der besonders vulnerable Gruppen schützt, steht ein Rawlsscher Kantianismus wieder einmal dem Utilitarismus entgegen.
Rawls vertritt die Position, dass die schlechtestgestellte Gruppe in einer Gesellschaft ihr Veto einlegen kann, wenn sie übergangen zu werden droht. Das ist der Grund, weshalb es eine Frage der Gerechtigkeit ist, bei der Verteilung knapper Impfdosen den am meisten Bedrohten Vorrang zu geben. Dabei gilt, dass Impfstoffe zu den Gütern zählen, die allen zugänglich sein müssen und keine normalen Waren sind.
Die Radikalität der Rawlsschen Theorie liegt im Differenzprinzip begründet, das oft verkürzt wird. Denn es besagt nicht, dass die Regelung gerecht ist, die den Schlechtestgestellten »auch etwas« bringt; es fordert vielmehr, dass eine jede Ungleichverteilung von Gütern die extrem hohe Rechtfertigungsschwelle überqueren muss, nach der zu zeigen ist, dass eine Ungleichverteilung den Schlechtestgestellten mehr an Gütern einbringt als eine Gleichverteilung.
Wer das ernsthaft durchdenkt, wird sehen, dass Rawls hier etwas ausdrückt, das in der Geschichte des politischen Denkens äußerst selten ist, nämlich die Grundidee des Liberalismus (die Würde der Einzelnen als autonome, durch Rechte geschützte Individuen) mit der Grundidee des Sozialismus (die Würde der Einzelnen als frei von Ausbeutung und Marginalisierung) zusammenzudenken. Das Privateigentum an Produktionsmitteln gehört nicht zu den primären Grundrechten, und ausdrücklich hat Rawls den kapitalistischen Wohlfahrtsstaat als unzureichende Realisierung seiner Prinzipien zurückgewiesen. Denn der Sozialstaat lässt es zu, dass Menschen unter schlechten Bedingungen aufwachsen und zu niedrigen Löhnen arbeiten müssen, nur um ihnen im Gegenzug eine gewisse Kompensation zu gewähren. Das ändert an den Strukturen der Ungleichheit nichts, es zementiert sie eher. Rawls kannte seinen Roussea und seinen Marx nicht weniger als Locke oder Kant.
Wenn heute mit Thomas Piketty und anderen über strukturelle Alternativen zur Reproduktion von Ungleichheit und über das Ideal eines »partizipativen Sozialismus« nachgedacht wird, bleibt Rawls ein wichtiger Diskurspartner, der mehr über Strukturen der Verteilung als über »Umverteilung« nachdenkt. Rawls’ Theorie lässt nur die Alternative zwischen einem liberalen Sozialismus und einer Demokratie mit breit gestreutem Eigentum (property-owning democracy) zu. So ist es Rawls’ bleibendes Verdienst, den Blick der Gerechtigkeit radikal gewendet zu haben: weg von individualistischen Verdienstvorstellungen, von »natürlichen« Freiheitsrechten vor Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, von Kompensationstheorien hin zu der »Grundstruktur« einer Gesellschaft, in der Menschen Teil von Familien, Schulen, Betrieben und Institutionen sind, die ihre Lebenschancen bestimmen – und die sie als Gleiche mitbestimmen sollten.
Es ist ein Irrtum, Rawls als Theoretiker der Nachkriegsepoche zu verabschieden, der den Optimismus der Great Society ausdrückte und nur für eine aufstrebende Mittelstandsgesellschaft sprach, die es heute nicht mehr gibt. Nie glaubte Rawls, die Gesellschaften seiner Zeit beruhten auf Konsens; dafür nahm er den Kampf der schwarzen Bevölkerung um Bürgerrechte in den USA zu ernst. Und niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, die amerikanische oder sonst eine Gesellschaft auch nur annähernd als »wohlgeordnet« zu bezeichnen.
Rawls verfolgte die Politik genau, und seine Theorie hat großen Einfluss auf das politische Denken ausgeübt. Aber anders als etwa Jürgen Habermas oder Ronald Dworkin war er kein politischer Intellektueller. So gut wie nie nahm er öffentlich Stellung zu politischen Fragen. Dafür gibt es zwei Gründe, und sie führen zur Person und zur Eigenart des Denkens von Rawls – und zu seinen Grenzen.
Was seine Person angeht, konnte es keinen größeren Gegensatz zwischen der weltweiten Bedeutung seines Werks und seiner Bescheidenheit geben. Vorsichtig und bedächtig sprechend, kam es nicht selten vor, dass er die Fragen des wissbegierigen Studenten notierte und sie zwei Wochen später beim nächsten Treffen in seinem kleinen Büro in der HarvardUniversität beantwortete. Man konnte sehen, wie unangenehm es ihm war, vor großen Gruppen zu sprechen. Was ihn trug und auch sein Werk prägt, war eine tiefe Überzeugung nicht nur von der gleichen Würde aller Menschen, sondern auch davon, dass es eine Anmaßung sei, hervorstechen zu wollen.
Dieses Ethos hatte er sich aus seiner protestantischen Sozialisation bewahrt, zu der die schmerzliche Erfahrung kam, dass zwei seiner Brüder an Krankheiten starben, mit denen er sie angesteckt hatte. Seinen Glauben verlor der Student, der in Princeton eine theologische Bachelorarbeit über die Sünde übersteigerter Selbstliebe verfasst hatte, während seines Kriegseinsatzes im Pazifik und als er die Nachrichten über den Holocaust erhielt. An seine Stelle trat die Überzeugung, dass die praktische Vernunft allein ausreichen muss, um zu erkennen, dass die Moral die entscheidende Richtschnur des Lebens ist und ihm Wert verleiht. Auf einer denkwürdigen Konferenz in Kalifornien entgegnete er dies dem Skeptiker Bernard Williams mit Berufung auf Kant.
Mit diesem Ethos hängen aber auch die Grenzen seines Denkens zusammen. Zum Zwecke begrifflicher und moralischer Klarheit hatte Rawls sich der in der politischen Philosophie dominanten »idealen Theorie« verschrieben, die die Begründung einer wohlgeordneten Gesellschaft in aller Stringenz durchführt. Von dort aber klafft eine beträchtliche Lücke zu den konkreten strukturellen Ungerechtigkeiten, gegen die sich emanzipatorische Kämpfe richten. Diese können sich zwar auf Rawls’ Prinzipien berufen, aber sie müssen dafür eine kritische Theorie hinzunehmen, die die vielfältigen Strukturen der Beherrschung erklärt und Ansatzpunkte für Veränderungen liefert. Eine solche, normative und empirischanalytische Elemente verbindende Theorie ist eine Aufgabe, die über Rawls’ Prämissen hinausreicht.
Eine der idealen Annahmen, die Rawls, typisch für seine Zeit, machte, ist die des geschlossenen Nationalstaats. Um heute die Frage der Gerechtigkeit richtig zu stellen, ist dieser Rahmen jedoch zu überschreiten. Wir erleben gerade, dass Nationalstaaten noch immer relevante politische Größen sind, aber sie sind in einem Maße eingebunden in transnationale ökonomische Verhältnisse, von ökologischen Problematiken und Pandemien ganz zu schweigen, das neue Formen und Institutionen der Politik erfordert, die weit über staatliche Grenzen hinausgehen.
Der späte Rawls war sich dieser Probleme bewusst, aber anders als einige seiner Schülerinnen und Schüler stand er einer Globalisierung des »Urzustands« skeptisch gegenüber. Dies im Wesentlichen aus Respekt vor der kulturellen und politischen Pluralität der Menschheit. Aber die Radikalität, mit der er selbst konventionelle Grenzen des Denkens überschritt, sollten wir auch im Überschreiten seiner Grenzen beibehalten. So ehren wir einen der größten Philosophen seiner, unserer Zeit.
Von Rainer Forst aus Die Zeit Nr. 7/2021, 11. Februar 2021. © Alle Rechte vorbehalten. Zur Verfügung gestellt vom Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co KG, Hamburg