Die eigene Begrenztheit wahrnehmen

FRANKFURT Kübra Gümüsay spricht bei "DenkArt" im Haus am Dom über die vielen Perspektiven der Sprachen

Noch nie hat eine junge Wissenschaftlerin einen so lebendigen und fesselnden Vortrag bei der partizipativen Redenreihe "DenkArt" gehalten wie Kübra Gümüsay jetzt über den Youtube-Kanal im Haus am Dom. In der Reihe "DenkArt" unter dem Leitwort "Solidarität" fragte die 33 Jahre alte Hamburger Politikwissenschaftlerin "Wie ist Teilhabe für alle möglich?" und fand Antworten über zahlreiche Beispiele zu Multiperspektiven, die sich über die jeweilige Sprache erschlössen.
Dabei konnte sie zurückgreifen auf ihr Buch "Sprache und Sein", das 2020 bei Hanser erschienen ist und zum Bestseller avancierte. Gümüsay plädierte für einen Dialog der Kulturen mit Verzicht auf den je eigenen Absolutheitsanspruch: "Nur so können wir Teilhabe ermöglichen."
Denn: "Solidarität beginnt mit dem Bewusstsein für die eigene Begrenztheit." Wie kam sie zu diesem Bewusstsein? Unter anderem auf einer Reise zu Verwandten in der Türkei, wo sie, die an der Nordsee Geborene, lernte, die Reflexion des Mondes auf dem Wasser neu zu sehen: mit einem speziellen türkischen Wort. "Wer zwischen den Sprachen lebt, kennt die Vielfalt", sagt sie dazu. "Unsere Sprache ist sehr subjektorientiert", konstatierte Marion Tiedtke, Ideengeberin der Reihe, in der anschließenden Chat-Diskussion unter der Moderation von Joachim Valentin, Direktor der Katholischen Akademie Rabanus Maurus. "Fördern europäische Sprachwurzeln womöglich das Fehlen der Demut?", wollte sie von der Referentin wissen. Gümüsay bestätigte das und sprach von einem "eklatanten Mangel an Demut". Die Positionen träten mit absoluten Wahrheitsansprüchen gegeneinander an. Als Valentin nach den gesellschaftlichen Räumen fragte, in denen die Grenzen übersprungen werden könnten, erwiderte sie: "Physische Räume genügen nicht, wir müssen mentale und emotionale Räume schaffen. Wir müssen die eigene Perspektive erweitern."
Nur so sei es möglich, die Komplexität der Welt zu benennen und ihr Rechnung zu tragen. Langfristig müssten alte Strukturräume aufgebrochen werden. Auch das Gendern in der Sprache helfe allein nicht weiter. Das Türkische etwa sei geschlechtsgerechter, weil es keine Personalpronomina kenne. Trotzdem gebe es Sexismus in der Türkei. "Die Sprache kann uns dabei helfen, umsichtiger zu sprechen, und sie kann Wege ebnen, um dem Ideal näher zu kommen", sagte Gümüsay aber. Nicht die Frage "Was darf man noch sagen?" sei entscheidend, sondern die Frage: "Welche Menschen wollen wir sein?" Man merkte, wie wichtig ihr es ist, "alle Perspektiven zusammenzuführen".

Von Claudia Schülke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13.03.2021, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 56. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.


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