Hygiene-Regime könnte sich fortsetzen

Jurist und Politologin streiten über Corona-Regeln

Die neue Reihe des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt machte am Donnerstagabend ihrem Namen Ehre: "Kontrovers" - so ging es im Zoom-Meeting unter der Moderation von Nicole Deitelhoff zu. Die Professorin für Internationale Beziehungen und Co-Sprecherin des Forschungsverbunds Normative Ordnungen an der Goethe-Universität hatte nach einem zähen Beginn ihre beiden Gesprächspartner deutlich herausgefordert. "Können Statistiken das Recht übertrumpfen?", wollte sie von Uwe Volkmann und Elvira Rosert wissen. Der Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Uni und die Juniorprofessorin für Politikwissenschaft an der Uni Hamburg hatten dazu dezidiert unterschiedliche Ansichten.
Rosert verwies auf die mehr als 75 000 Corona-Toten und plädierte dafür, künftig auch die bis zu 20 000 Grippe-Toten durch bessere Hygiene wie vermehrtes Händewaschen zu verhindern. Volkmann fiel dazu das Zwangsverhalten von Neurotikern ein. In einem hysterischen Hygiene-Staat wolle er nicht leben, er fürchte, das "Hygiene-Regime" könne sich über die Pandemie hinaus fortsetzen: "Da mache ich nicht mehr mit!" Rosert warnte vor solchen "sprachlichen Codierungen aus bestimmten Diskurszusammenhängen". Es sei möglich, sich zu schützen. "Das ist kein Hexenwerk", sagte die Politikwissenschaftlerin. Vielmehr stimmten die "Basics" in der Gesundheitskommunikation nicht. Rosert warnte davor, die Risiko-Aufklärung so herunterzuspielen wie in Schweden. "Die schwedische Regierung hat keine Angst erzeugt", hielt Volkmann ihr entgegen.
Angesichts der Kritik aus dem Chatroom nahm der Rechtswissenschaftler seinen Neurotiker-Exkurs zurück, beharrte aber darauf, eine liberale, offene Gesellschaft sei ihm lieber. Als Rosert "ein theoretisches Modell der Übertragbarkeit" für wichtiger erklärte als die empirische Datenlage, erwiderte er: "Das kann man auf Dauer nicht machen. Das wäre ja wie bei der Rasterfahndung." Da seien dann immer viele mit drin, die mit der Sache gar nichts zu tun hätten. Nicht der Bürger müsse sich rechtfertigen, sondern der Staat müsse es tun, wenn er Freiheiten einschränke.
Und schon ging Deitelhoff zum nächsten Kampfthema über: die Debatte über Privilegien für bereits Geimpfte. Hier gehe es um Neid nach der Devise "Was ich nicht habe, sollst du auch nicht haben", so Volkmann. Auch Rosert konnte nicht verstehen, warum hier Ungerechtigkeit unterstellt werde: "Geimpfte müssen nicht mehr so vorsichtig sein." Etwa 68 Prozent der Bevölkerung wollten aber, dass Geimpfte ihre Rechte nicht zurückerhielten, so Deitelhoff: "Die Neiddebatte ist also längst da."
Blieb der Konflikt zwischen dem Recht auf Freiheit und dem Recht auf Lebensschutz. Volkmann trat weiterhin für die Freiheit ein, Rosert sagte: "Die Freiheit ist nicht die Bedingung des Lebens." Für sie stehe das Leben an erster Stelle. Der Staat solle den Konflikt auflösen, forderte die Politikwissenschaftlerin. Volkmann dagegen gab sich risikobereit. Der Jurist verwies auf die Abwägung und Zuordnung der Rechtsgüter. Die permanente Selbstkontrolle seit einem Jahr stehe im Konflikt mit der Menschenwürde. Andererseits sei die Freiheit ohne Leben aber auch nichts wert. "Ich kann darauf keine abschließende Antwort geben", so der Rechtsphilosoph. "Eine Katastrophe, die unsichtbar ist, macht es schwer", fügte Rosert hinzu. "Aber sie ist da."
"Beschädigen wir also dauerhaft unsere freiheitliche Grundordnung?", wollte Deitelhoff zuletzt von beiden wissen. Rosert resümierte, das No-Covid-Ziel sei ein Prozess: "Wir müssen Leben retten." Volkmann fragte: "Wo ist der Punkt, an dem wir mit der Impfkampagne das Regulierungsregime runterfahren können? Und wann gehört ein Restrisiko dazu?"

Von Claudai Schülke. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. März 2021, Frankfurt (Rhein-Main-Zeitung), Seite 40. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv


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