Lob der Eintracht. Lukas Bärfuss im Haus am Dom
FRANKFURT Nicht den Sportverein, sondern das Gemeinwesen hatte er im Sinn. Als Gast der partizipativen "DenkArt"-Redenreihe unter dem Leitwort "Solidarität" sang der Schweizer Schriftsteller und Büchner-Preisträger von 2019 das Hohelied der sozialen Eintracht. Damit ihn niemand missverstehen konnte in Zeiten der Identitätspolitik, fügte er gleich hinzu: "Eintracht braucht Vielfalt." Identität solle aber relationaler verstanden werden, nicht auf Autonomie beruhend. In einem Gemeinwesen solle man das gemeinsame, nicht das jeweils eigene Interesse durchsetzen: "Jeder muss den anderen anders sein lassen, dies ist unser Gemeinsames." Aus Respekt vor dem Anderssein entstehe die Eintracht, sagte Bärfuss, der aus der Schweiz digital ins Haus am Dom zugeschaltet war.
Er plädierte für den Mut zur Gerechtigkeit und meinte damit eine andere Vermögensverteilung. Hatte er Sahra Wagenknechts neues Buch gelesen? Jedenfalls begann er sein Kurzreferat mit den traditionellen Forderungen der Altlinken. Mit dem Streik der Kohlekumpels in Sheffield und dem Streik der Werftarbeiter in Danzig, beide im Jahr 1980, nur dass die polnischen Arbeiter im Westen als Ikonen der Freiheit und "Popstars" gefeiert, die englischen Kumpels hingegen von der Regierung Thatcher ausgehungert worden seien. Damals war Bärfuss neun Jahre alt. Heute kritisiert er den Begriff der Solidarität, weil er ihn für eine "Krücke" hält. Seinen Kindern habe er beigebracht, lieber von Gerechtigkeit zu sprechen: "Solidarität braucht es nur, wenn es keine Gerechtigkeit gibt."
Vor allem eine Konstante machte er aus: "Die Reichen werden reicher." Doch ungerechte Vermögensverteilung löse soziale Unruhe und Spannungen zwischen den Generationen aus. "Warum gelingt es unserer Gesellschaft nicht, Überschussreste zu verteilen?", fragte der Autor und zitierte einen amerikanischen Richter von 1979: "Eigentum ist das Recht, andere auszuschließen." Prosperität und Profitabilität seien heute die wichtigsten gesellschaftlichen Ziele, alles müsse sich rentieren: "Die Ökonomie wird zum Hegemon." Analog zum Club of Rome wünscht Bärfuss sich einen Club of Frankfurt mit dem Ziel der Vermögensgerechtigkeit: "Eigentum ist zur Ideologie geworden."
Im Gespräch mit Marion Tiedtke, Ausbildungsdirektorin Schauspiel an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, plädierte er für "immateriellen Wohlstand, mehr Freude statt Reichtum". Als Tiedtke fragte, wie man dem weiteren Zerfall der Gesellschaft entgegenwirken könne, verwies er auf Gesetze und eine kritische Öffentlichkeit, die zur Differenzierung bereit sei: "Stattdessen gibt es eine Ideologisierung der Gesellschaft. Das ist der Gegensatz von Freiheit." Dennoch sah Bärfuss keinen Grund für Pessimismus und verwies auf das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: "Systeme sind wandelbar." Rebecca Schmidt vom Forschungsverbund Normative Ordnungen an der Goethe-Universität hatte nicht viel zu tun. Die Publikumsfragen über den Chat-Zugriff hielten sich in Grenzen.
Von Claudia Schülke. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Mai 2021, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 46