Mehr kulturelle Aneignung wagen
Einst war die politische Linke die wichtigste Kraft gegen religiöse Eiferer und Bewahrer einer imaginierten Vergangenheit. Heute gerieren sich Teile der Linken als Speerspitze einer kruden Identitätspolitik, die um einen neoessentialistischen Kulturbegriff kreist.
Von Professor Dr. Susanne Schröter
Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, sprach munter drauflos. Auf einem Parteitag berichtete sie, in ihrer Jugend dem Traum angehangen zu haben, "Indianerhäuptling" zu werden. Die Empörung über das unbotmäßige Wort erfolgte postwendend, und Jarasch entschuldigte sich für den Fauxpas. Damit die nächste Generation weiß, wo die politisch korrekten Grenzen von Sprache und Träumen sind und solche "Entgleisungen" bald der Vergangenheit angehören, baut man mancherorts bereits bei den ganz Kleinen vor. In einigen Kindergärten wird jetzt streng darauf geachtet, im Spiel nicht unbedacht in fremde kulturelle Häute zu schlüpfen. Dies widerspreche dem Erziehungsziel der Kultursensibilität und verhindere die Bewusstmachung der eigenen Vorurteile.
Es leuchtet ein, dass negative Darstellungen des kulturell Anderen von deren Vertretern als Kränkungen erlebt werden können. Doch warum soll dies auch für positive Aneignungsversuche gelten, die längst zum multikulturellen Alltag gehören? Nehmen wir die Pop-Kultur, deren Vertreter sich nicht nur als nonkonformistisch bis ins Deviante hinein präsentieren, sondern per se das darstellen, was der Soziologe Roland Robertson als "glokal" bezeichnet hat. Der Neologismus weist darauf hin, dass das Lokale und das Globale sich im Zeitalter der Globalisierung nicht unverbunden oder gar feindlich gegenüberstehen. Vielmehr durchdringen sie sich wechselseitig und bilden neue, hybride Formen heraus.
In der Unterhaltungsbranche ist die "bricolage" Programm. Wer auf dem schnelllebigen Markt mithalten möchte, muss sich stets neu erfinden, schrill sein und Dinge miteinander kombinieren, die aus unterschiedlichen Kontexten stammen. Stile, Gesten und Artefakte werden ungeachtet ihrer Herkunft oder Bedeutung ständig neu sortiert, gemischt und zugeordnet. Dieser Gestus wurde viele Jahre lang als Ausdruck der Offenheit für Ungewohntes und letztendlich auch als Überwindung kultureller Engstirnigkeit gefeiert.
Mittlerweile gerät das Überschreiten vermeintlich feststehender Zuordnungen jedoch immer häufiger unter den Verdacht einer unrechtmäßigen Aneignung. In den sozialen Medien tobt eine rhetorische Schlacht darüber, wer das Recht habe, bestimmte Frisuren, modische Accessoires und Kleidungsstücke zu tragen, die möglicherweise in einem bestimmten kulturellen Umfeld entstanden sind. Verfilzte Haartrachten gehören dazu, die unter anderem von Rastafaris getragen werden, aber auch farbliche Stirnpunkte, die im hinduistischen Kontext eine Rolle spielen.
Jüngst wurde das so genannte Blackfishing moniert, worunter die habituelle Übernahme von Attributen verstanden wird, die Schwarzen zugeschrieben werden. Der Rapperin Shirin David wurde beispielsweise vorgeworfen, sich dunkler geschminkt zu haben, als sie ist, und ihr Haar in einem sogenannten Afro-Style frisiert zu haben. Wo ist das Problem, könnte man fragen, da es weltweit Frauen gibt, die ihre Haut bleichen, um weißer auszusehen, und sich außerdem die Haare glätten. Die Antwort ist stets, dass das Dunkelfärben ein Zeichen einer feindlichen Übernahme sei, hinter dem Hellfärben aber Diskriminierung und Unterdrückung stünden. Weiße beherrschten eben die Welt und auch die Kulturindustrie. Das Argument, dass es manchmal auch vorteilhaft für die Karriere sein könne, nichtweiß zu sein, lässt man nicht gelten und argwöhnt, dass die "verkleideten" Weißen bessere Chancen als Nichtweiße hätten, weil man ihr Weißsein sofort erkenne und anders honoriere als das Original.
Dieses Denken erweckt nicht nur den Anschein, zirkulär zu sein. Es zementiert auch die Vorstellung, Menschen seien unentrinnbar an gewisse äußere Merkmale gebunden. Zu diesen gehören die Haut- und Haarfarbe, aber auch das Geschlecht und sexuelle Orientierungen. Als Merkmale werden sie so absolut gesetzt, dass sie als entscheidende Kriterien für die Besetzung beruflicher Positionen herangezogen werden, die eigentlich auf Kompetenzen basieren sollten.
Fachliche Voraussetzungen scheinen im gegenwärtigen Identitätsdiskurs ohnehin zunehmend irrelevant zu werden. Wenn Schauspieler nur noch Personen darstellen sollen, die ihnen ähnlich sind, dann steht dahinter eine Absage an die Schauspielerei an sich, die ja gerade darauf basiert, dass man in Rollen schlüpft, mit denen man nicht identisch ist. Wenn in Hannover der Vortrag eines renommierten Historikers über afrikanische Perspektiven auf Kolonialgeschichte abgesagt wurde, weil er eine weiße Hautfarbe hat, dann zeigt dies, dass wissenschaftlicher Expertise grundsätzlich kein besonderer Wert zugesprochen wird. Das prominenteste Beispiel einer langen Reihe identitätspolitischen Cancel-Culture-Gebarens ist der Eklat aus Anlass der Übersetzung des Gedichtes ins Niederländische, das die Afroamerikanerin Amanda Gorman anlässlich der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden vorgetragen hatte. Die ursprünglich vorgesehene Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld gab ihren Auftrag zurück, nachdem eine Aktivistin ihre Hautfarbe als unpassend moniert hatte.
Hinter den oft mit schriller Attitüde geführten Angriffen auf "white supremacy" und den theatralischen Schuldbekenntnissen von Repräsentanten der weißen "Tätergruppe" steht einerseits die sattsam bekannte Mischung aus postkolonialen Rassismustheorien und identitärem Opferpathos. Andererseits offenbart sich darin aber auch eine eigentümliche Definition von Kultur, die wissenschaftlich wie alltagskulturell längst überwunden sein sollte: die Idee nämlich, sie sei die eingefrorene Essenz kollektiver Entitäten.
Solche Vorstellungen entstammen Rassentheorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Als Nährboden dienten sie nicht nur dem Nationalsozialismus, sondern bis heute der rechtsextremen Szene. Dort bedient man sich der unter anderem der Fiktion eines ursprünglichen Germanentums, um Unverwechselbarkeit und natürlich auch die eigene Überlegenheit herauszustellen.
In rechtsidentitären Kreisen spricht man allerdings eher von Ethnien als von Rassen. Diese werden als Kondensationen vermeintlich unveränderlicher Kulturen definiert. Nur auf einer unverfälschten Kultur, so die völkische Ideologie, basiere wahre Gemeinschaft. Gegen Multikulturalität, kulturelle Mélange und Fluidität setzt man die Fiktion kultureller Reinheit und den sogenannten Ethnopluralismus.
Ähnliche Ideen finden wir auch in anderen ethnonationalistischen Organisationen, beispielsweise bei den türkischen "Grauen Wölfen". Sie berufen sich auf den Mythos einer gemeinsamen Herkunft aller Turkvölker, in der einem wölfischen Urahn die zentrale Rolle zufällt. Als Zeichen ihrer Verbundenheit begrüßen sich dessen heutige Nachfahren, die immer wieder durch extreme Gewalt gegen Minderheiten auffallen, mit einem Handzeichen, das den Kopf eines Wolfes darstellen soll. Neben dem Mythos und der Idee einer essentialistischen Kultur ist es der Islam, der von den "Wölfen" als Merkmal kollektiver Identität stilisiert wird.
Dass sich Religionen in ihrer fundamentalistischen Variante gut dazu eignen, ausgrenzende Kollektivkonstruktionen zu untermauern, wissen wir spätestens seit dem "Fundamentalism Project", das von 1987 bis 1995 an der University of Chicago durchgeführt wurde. Ein interdisziplinäres Forscherteam hatte sich dort aus einer komparativen Perspektive mit fundamentalistischen Strömungen in den Weltreligionen befasst und herausgefunden, dass diese untrennbar an einen rückwärtsgewandten Kulturbegriff gebunden waren.
Der Feind dieses Fundamentalismus war und ist bis heute der gesellschaftliche Wandel. Jede Art von Normativität und alle Lebensentwürfe werden abgelehnt, die mit den Vorschriften heiliger Texte kollidieren. Historisch betrachtet, war es besonders die Veränderung der Geschlechterordnung, die Fundamentalisten jeglicher Couleur auf den Plan rief. Aufklärung, Frauenbewegung und moderne Bildung erschütterten und erschüttern althergebrachte Verhältnisse, und dies nicht nur in westlichen Gesellschaften. Noch immer sorgen sie für harsche Interventionen von Religionsvertretern. Der Religionswissenschaftler Martin Riesebrodt glaubt, im Patriarchalismus sogar eine gemeinsame Essenz aller fundamentalistischen Bewegungen entdeckt zu haben. Christliche Fundamentalisten des frühen 20. Jahrhunderts sahen in der rauchenden, geschminkten und Alkohol trinkenden Femme fatale den ultimativen Feind, für muslimische Fundamentalisten ist dies die selbstbestimmt lebende Frau ohne Kopftuch.
Einst war die politische Linke die wichtigste Kraft gegen religiöse Eiferer und konservative Bewahrer einer imaginierten Vergangenheit. Ihr Programm war die Zerschlagung des Alten - auch in kultureller Hinsicht. Dafür standen Revolutionärinnen wie Rosa Luxemburg in Deutschland und Alexandra Kollontai in der Sowjetunion. Als Kommunistinnen waren sie überzeugt, dass die kulturelle Evolution in einem Dreischritt verlaufe, wie Friedrich Engels es in seinen Schriften dargelegt hatte: Auf eine egalitäre Urgesellschaft folgen in seiner Theorie verschiedenen Stadien, in denen Ungleichheit und Ausbeutung dominieren, die dann letztendlich wieder überwunden werden und einer klassenlosen Wohlstandsgesellschaft Platz machen sollen.
Partikularistische Sentimentalitäten waren der kommunistischen Idee ebenso fremd wie selektive Monopolisierungen kultureller Elemente. Die kommunistische Ideologie war universalistisch und dezidiert fortschrittsorientiert. Daher ist es bemerkenswert, dass sich jetzt ausgerechnet Teile der Linken als Speerspitze einer kruden Identitätspolitik gerieren, die im Kern um einen neoessentialistischen Kulturbegriff kreist.
In kulturwissenschaftlichen Theorien können wir seit dem Ende des 19. Jahrhunderts drei verschiedene Strömungen ausmachen. Eine von ihnen folgte weitgehend den Modellen von Charles Darwin und Herbert Spencer, die für die Natur eine Kontinuität vom Einfachen zum Komplexen nachgewiesen hatten. Auf die menschliche Kultur übertragen hieß dies, eine Evolution vom sogenannten "Primitiven" zur Zivilisation, die gleichermaßen als technologisch-wissenschaftliche, politische, soziale und moralische Entwicklung verstanden wurde.
Viele evolutionstheoretisch orientierte Wissenschaftler demonstrierten in ihren Werken eine gewisse Faszination für das kulturell Andere, das sie aus historischen Texten sowie Berichten von Missionaren und Kolonialbeamten herauslasen. Besonders dann, wenn es um Formen einer vermeintlich freien Sexualität ging, machten die Darstellungen allerdings häufig den Eindruck, nicht unwesentlich von der eigenen Fantasie inspiriert worden zu sein.
Der Überlegenheitsduktus und die ethnozentrische Weltauffassung des Evolutionismus wurden nicht von allen Wissenschaftlern geteilt. Vor allem in der Philosophie und der frühen Ethnologie lassen sich alternative Bewertungen des kulturell Anderen nachweisen. Der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau idealisierte den "edlen Wilden" zur Antithese des durch Arbeit ermatteten und in Konventionen eingezwängten Bürgers. Der amerikanische Ethnologe Lewis Henry Morgan, der bei den Irokesen geforscht hatte, glaubte sowohl in der Herausbildung des Privateigentums als auch der Unterdrückung der Frauen zentrale Übel der Evolution entdeckt zu haben.
Die Verklärung des kulturell Anderen zum Symbol eines verloren geglaubten Paradieses blieb bis zum beginnenden 20. Jahrhundert in der Wissenschaft singulär. Anders verhielt es sich in der Kunst, wo sich von Paul Gauguin über Emil Nolde bis hin zu Pablo Picasso Generationen von Künstlern vom Außereuropäischen beeinflussen ließen.
In der Ethnologie wurde der Evolutionismus zunächst vom Diffusionismus und der Kulturkreistheorie und später vom Kulturrelativismus abgelöst, der die Gleichwertigkeit aller Kulturen postulierte. Ausgangspunkt der Theorien war die Idee räumlich abgrenzbarer Kulturareale. Allerdings erschien das Vorkommen bestimmter kultureller Elemente in mehreren Arealen den damaligen Ethnologen erklärungsbedürftig. Der Kulturgeograph Friedrich Ratzel war einer der Ersten, die sich für Formverwandtschaft von Bögen, Pfeilen und Speeren in voneinander getrennten Regionen interessierten. Sie hatten sich, seiner Meinung nach, durch Diffusion verbreitet. Das heißt schlicht, dass Menschen Elemente ihrer Kultur im Rahmen von Handel, Migration, Reisen und Eroberungen in andere Regionen mitnahmen und diese Kulturelemente dort von der einheimischen Bevölkerung angenommen wurden. Die Aufgabe der Wissenschaft sah Ratzel darin, die Wanderbewegungen kultureller Artefakte zu rekonstruieren und ihre Verbreitung zu kartieren. Seine Ideen wurden von Leo Frobenius, Bernhard Ankermann und Fritz Graebner zur Kulturkreislehre weiterentwickelt. Frobenius glaubte sogar, eine spezifische Kulturseele, Paideuma, ausmachen zu können, die in Kulturarealen wirksam sei.
Die sogenannte "Deutsche Schule" der Ethnologie wurde wegen methodischer und theoretischer Schwächen aufgegeben, die Idee von Kulturkreisen jedoch trotzdem von anderen Disziplinen adaptiert. Sie wirkt bis auf den heutigen Tag nach. Auch die Vorstellung, dass bestimmte Formen materieller Kultur, sozialer Organisation oder religiöser Vorstellungen infolge menschlicher Mobilität mitgeführt und an anderen Orten wiederaufgegriffen werden, gilt uns heute als Selbstverständlichkeit.
Der Begriff der kulturellen Aneignung fiel damals noch nicht, obgleich es sich genau um dieses Phänomen handelte. Er wurde erst am Ende des 20. Jahrhunderts populär, und zwar in uneingeschränkt positiver Weise. Kulturelle Aneignung war das Zauberwort, das man verwendete, wenn man den erfolgreichen Widerstand autochthoner Gesellschaften gegenüber einem dominanten Westen hervorheben wollte. Gemeint war, dass Gesellschaften des globalen Südens selektiv Dinge aus dem Norden aufgriffen und für eigene Zwecke nutzbar machten. Dabei wurden Bedeutung und Gebrauch nicht selten radikal vom Ursprung gelöst.
Ich selbst untersuchte diesen Prozess in einem Forschungsprojekt auf der indonesischen Insel Flores. Dort war die lokale Bevölkerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter niederländischer Kolonialherrschaft von katholischen Missionaren christianisiert worden. Mehrere Jahrzehnte später konnte ich feststellen, dass der Katholizismus einen Prozess der Indigenisierung durchlaufen hatte. Die Bevölkerung nutzte die fremde Religion und das religiöse Personal, um Vorteile in spiritueller und materieller Hinsicht zu erlangen, und zeigte große Begeisterung für christliche Gesänge und sonntägliche Kirchgänge. Ihrem alten Glauben und den damit verbundenen Bräuchen hatten sie jedoch mitnichten abgeschworen. Anlassbedingt praktizierten sie mal katholische und mal indigene Zeremonien, ohne darin einen Widerspruch zu sehen.
Tatsächlich beschlich mich mitunter der Eindruck, dass sich die Missionare stärker verändert hatten als die Missionierten. Fern der Heimat fanden sie Gefallen an den unbekannten Sitten und Denkweisen der Florinesen und praktizierten bald eine charmante Mélange aus indigenen und katholischen Ritualen.
Kulturelle Aneignung verläuft nicht nur in eine Richtung, sondern lebt von Faszination von Menschen für das jeweils kulturell Andere. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Im Bereich der Mode gehören die Sapeur in Zentralafrika dazu. Es sind Männer, die ihr gesamtes Kapital in elegante Anzüge investieren und durch Nadelstreifen, auffällige Farben und Stoffe sowie mit Lederschuhen und Hut ihre Bewunderung für westliche Mode ausdrücken. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Parodie zu handeln, doch der Anverwandlung liegt ein ernst zu nehmendes Motiv zugrunde. Sapeur transzendieren die tristen Verhältnisse, in denen sie leben, durch einen ästhetischen Stil, der sie zu auffallenden Persönlichkeiten macht.
Andere Phänomene kultureller Aneignung finden sich in Besessenheitsritualen wie dem "zar" in Sudan. Hier werden Geister verkörpert, die allesamt als Fremde gelten und durch spezifische Artefakte dargestellt werden. Europäer-Geister rauchen Zigaretten und trinken Whisky, essen Butterkekse, Chips und Käse. Sie tragen Anzüge und nutzen Spazierstöcke. Sudanesen-Geister werden als jähzornig und unbeherrscht dargestellt, tragen Speere und essen rohe Innereien. Osmanische Geister sind an ihrer Liebe zu Uniformen und einem militärischen Zeremoniell erkennbar. In Europa frisieren Menschen ihre Haare zu Dreadlocks und nutzen Attribute afrikanischer Folklore, um ihre Faszination für afrikanische Gesellschaften zu bekunden. Oder sie tragen lange, in Indien hergestellte Baumwollgewänder, wie die Hippies der 1960er Jahre. In beiden Fällen war eine Begeisterung für die fremde Kulinarik, Musik und Spiritualität evident.
Manchmal jedoch lässt sich kein Ursprung ausmachen. Zum Beispiel in der Musikkultur des Visual Key in Japan. Hier werden Stile, Stoffe und Farben kreativ kombiniert, aber wirkliche Referenzen sind kaum auszumachen. In einigen Inszenierungen meint man Anleihen aus asiatische und europäischen Subkulturen wie dem Cosplay, dem Gothic oder Punk zu erkennen, in anderen verstecken sich Elemente aus der Glamourwelt der Pop-Kultur oder aus schrillen Science-Fiction-Produktionen, doch letztlich müssen alle Zuordnungen scheitern. Die Akteure selbst verzichten auf Erklärung und behaupten in erster Linie Originalität.
Eine letzte Kategorie von Aneignungen wird im öffentlichen Diskurs gar nicht thematisiert, weil sie längst zu einem globalen Gut geworden sind. Es handelt sich um Praktiken, deren Erfolg allein auf dem Moment ihrer kulturübergreifenden Übernahme basiert. Das trifft für den ursprünglich aus England stammenden Fußball ebenso zu wie für die in Indien entstandene Praxis des Yoga.
Kulturelle Aneignungen wurden bis in die jüngste Zeit hinein als gelungene Seite der Globalisierung verstanden. Sie zeigten, dass Kultur, um mit dem Soziologen Ulrich Beck zu sprechen, kein Container ist, sondern etwas höchst Fluides, auf das niemand einen ab- und ausschließenden Anspruch erheben kann. Der eingangs erwähnte Soziologe Roland Robertson verstand die wechselseitigen Beeinflussungen des Globalen und Lokalen als Charakteristikum der Moderne selbst.
Einige Wissenschaftler gingen noch weiter. Zu ihnen gehört der Ethnologe Arjun Appadurai. Er löste die Kategorie der Kultur in ethnische, finanzielle, mediale, technologische und ideologische "Landschaften" auf, die wiederum an die Imaginationen von Personen gebunden seien und von diesen geformt würden. Für die Migrationsforschung machte der Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha das Konzept der Hybridität nutzbar, das sich ebenfalls explizit gegen feste Verordnungen von Kultur wendete.
Wohin man auch blickt: Die vergangenen Jahrzehnte waren von der Anerkennung kultureller Auflösungen, von Aneignungen, Diversifizierungen und Vermischungen geprägt. So agiere der Mensch in einer Welt sich schnell verändernder Horizonte, meinte man, und nur durch diese Perspektive sei das Wesen der globalisierten Moderne sinnlich erlebbar und analytisch zu erfassen.
Auf der Ebene des gesellschaftlichen Zusammenhalts in immer pluralistischer werdenden Gesellschaften ist kulturelle Aneignung in mehrfacher Hinsicht ein Gewinn. Zuallererst ist sie ein Ausdruck der Neugier auf das kulturell Andere und ermuntert zum spielerischen Umgang mit dem Fremden. Wer sich beim Essen, der Kunst, der Musik oder Mode an Neuem erfreut, ist weniger anfällig für Vorurteile. Wer sich für fremde Philosophien oder Religionen erwärmen kann, der sucht auch den Kontakt zu Menschen, die Experten für diese Weltanschauungen sind. Hybride Identitäten, bei denen Aspekte unterschiedlicher kultureller Ursprünge frei miteinander kombiniert, verfremdet oder weiterentwickelt werden, helfen bei der Überwindung identitärer Beschränkungen. Sie sind die Blaupause für eine friedliche Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Geschichte sich gemeinsam auf etwas Neues einlassen.
Die aktuellen identitätspolitischen Verengungen von Kultur hingegen forcieren die Spaltung der Gesellschaft in neotribalistische Kleinstgruppen. Zum tribalen Denken gehört immer auch auch ein Feindbild. Während es für identitäre Rechte vornehmlich Migranten und Muslime sind, die man auszuschließen gedenkt, sind es für identitäre Linke unter anderem ältere Männer, Menschen mit weißer Hautfarbe oder einfach die einheimische Bevölkerung, die von jakobinischen Eiferern jüngst als "Menschen mit Nazihintergrund" verunglimpft wurden. Selbst Migranten sind vor dem linksidentitären Furor nicht mehr sicher. Wenn sie den "woken" Diskurs nicht vorbehaltlos teilen, denunziert man sie als "weiß gelesen" und spricht ihnen die Zugehörigkeit zur exklusiven Wir-Gruppe ab. Hautfarben werden einerseits zu einem identitären Marker stilisiert, andererseits nach trivial-konstruktivistischer Gutsherrenart zugeteilt und aberkannt.
Das erinnert an den Begriff der "Haustürken", mit dem die derzeit gefeierte Autorin Kübra Gümüsay einst die Soziologin Necla Kelek denunzierte, weil diese es gewagt hatte, sexistische Strukturen in migrantischen Milieus zu kritisieren. Haustürken, so Gümüsay, seien wie die Haussklaven der amerikanischen Geschichte, die sich mit ihren weißen Herren identifizierten.
Ein ähnlicher Terminus ist der der "Hausmuslime", mit dem liberale Muslime von Islamisten abgekanzelt werden. Der Tenor ist klar: Menschen gehören Gruppen an, die sich durch Hautfarbe, Ethnizität oder Religionszugehörigkeit konstituieren, und mit dieser Zugehörigkeit sind kulturelle Vorrechte auf Frisuren, Kleidung oder künstlerischen Ausdruck verbunden. Wer jedoch nur die "richtigen" Attribute mitbringt, sich aber nicht dem hegemonialen Ingroup-Diskurs anschließt und eine eigene Meinung vertritt, wird in einem Akt konstruktivistischer Purifizierung postwendend wieder exkommuniziert.
Der Historiker Dipesh Chakrabarty forderte vor zehn Jahren eine Provinzialisierung Europas, um einer postkolonialen Gerechtigkeitsvision zur Durchsetzung zu verhelfen. Angesichts der identitätspolitischen Absurditäten, mit denen sich die westliche Welt derzeit beschäftigt, scheint es so, als ob dieses Programm in einer ungeahnten Weise Realität geworden ist. Provinziell mutet nämlich vor allem die neue Einteilung der Welt in geistige Verbotszonen an. Wer das nicht für die Lösung aller Probleme hält, sollte den Blick über den eigenen Tellerrand in nichtwestliche Hemisphären richten. Zum Beispiel nach Oman. Dort hatte der kürzlich verstorbene Sultan Qabus ibn Said in der Hauptstadt Muskat ein Opernhaus erbauen lassen, das der programmatischen Aneignung musikalischer Schätze aus aller Welt gewidmet war. Italienische Tenöre traten neben der omanischen Militärkapelle auf, und man kombinierte Jazz, spirituelle muslimische Musik und internationale Folklore.
Die Oper wurde das Symbol einer toleranten und weltoffenen Politik, mit der der Sultan sein Land aus Stammesdenken und religiöser Intoleranz herausführen wollte. In diesem Sinne sollte man vielleicht empfehlen, von Oman zu lernen und nicht weniger, sondern mehr kulturelle Aneignung zu wagen.
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Die Verfasserin ist Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Von Susanne Schröter aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Juni 2021, Seite 7.© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv