"In der Literatur gab es Wesen wie mich nicht"
FRANKFURT Die Schriftstellerin Mithu Sanyal spricht in der Reihe "DenkArt" im Haus am Dom über Identität
Ist Thomas Mann wirklich ein deutscher Autor? Für Mithu Sanyal, deutsche Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Staatsbürgerin mit indischem Vater und polnischer Mutter, ist er jedenfalls "mixed race", wie es in der gegenwärtigen Identitätsdebatte über Menschen mit Migrationshintergrund heißt. Tatsächlich ist der Nobelpreisträger Sohn einer portugiesisch-kreolischen Mutter, die in Brasilien geboren wurde und nach dem frühen Tod ihrer Mutter mit Vater und drei Geschwistern siebenjährig nach Lübeck kam. Eine Migrantin, eine PoC, wie sich heute die "People of Colour" nennen. Ihr ältester Sohn Heinrich hat ihre Erinnerungen in dem Roman "Zwischen den Rassen" verarbeitet.
Joachim Valentin, Direktor der Katholischen Akademie Rabanus Maurus, wird Thomas Mann künftig mit anderen Augen lesen, war von ihm im Frankfurter Haus am Dom zu vernehmen, wo er mit der frisch gekürten Longlist-Autorin für den Deutschen Buchpreis über "Identitätsspiele" sprach. Denn unter dem Halbjahres-Motto "Identität - aber welche" setzt das Haus am Dom mit dem Forschungsverbund "Normative Orders" von der Goethe-Universität und der Heinrich-Böll-Stiftung die partizipative Redenreihe "DenkArt" fort. Sanyal, die einen satirischen Roman unter dem Titel "Identitti" verfasst hat, hielt einen atemlosen Vortrag über Rassen, die es nicht gibt, über Rassismus, der in seiner Endphase angekommen sei, über Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit sowie über N- und Z-Wörter. Immerhin erlaubt sie "falsche Wörter" zugunsten des Weiterredens überhaupt.
Zwischen einer Diskriminierungsgeschichte durch die "white supremacy" und einer Zukunft als Utopie betrieb sie Goethe- und Herder-Bashing, schwadronierte über "kulturelle Aneignung", hielt ein Plädoyer für Paradoxie und Ambivalenz und blickte zurück auf den "kulturellen Kolonialismus" ihrer Kindheit, als sie schreiben wollte wie Enid Blyton, aber: "In der Literatur gab es Wesen wie mich nicht." Nachdem die weiße Vorherrschaft ans Ende gekommen sei, würden nun neue Konflikte entdeckt: kulturelle und religiöse. "Das Fremde wird jetzt anders als durch Rasse definiert", so Valentin. "Die Dinge sind im Wandel", bestätigte Sanyal, die in absehbarer Zeit "alle gemischt" sieht. "Es geht also nicht um Anteile vom Kuchen, sondern ums Wir", resümierte der Gastgeber, der seiner Gastrednerin die Daumen für die Shortlist drückt. Das Publikum erging sich in Koreferaten.
CLAUDIA SCHÜLKE.
Aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.08.2021, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 42
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