Projektleitung: Prof. Dr. Dr. Matthias Lutz-Bachmann
Den Forschungshintergrund des Teilprojekts „Die Schule von Salamanca“ bildete die Frage, wie sich das internationale Recht mit heterogenen Rechtspraktiken verträgt. Dazu konzentrierte sich die Arbeit des Teilprojekts „Die Schule von Salamanca“ auf die Anfänge und Grundlagen einer globalen normativen Ordnung und untersuchte die Entwicklung der Theorie der internationalen Rechtsordnung im Anschluss an Francisco de Vitoria (1483-1546). Dessen von Reformation, Humanismus, Entdeckung und Eroberung der „Neuen Welt“ angespornte Überlegungen kreisen um die Konzeption einer neuen globalen normativen Ordnung, die die Pluralität politischer Vergemeinschaftungsformen berücksichtigt. Ein differenziertes Verständnis des rechtlichen Charakters jener Ordnung bringt sie dabei in eine Spannung zwischen positivem Recht und Naturrecht: Einerseits wird die inhaltliche Begründung sowie die Etablierung der Bindungskraft des ius gentium vernunftrechtlich formuliert und jedes menschliche Subjekt als zur Einsicht in diese Normen befähigt und zu ihrer Einhaltung verpflichtet beschrieben. Andererseits werden ein Begriff positiven Rechts und eine große Sensibilität für die Spezifizität der Rechtsform (weiter-)entwickelt, die von einer genauen Kenntnis faktischer Rechtsverhältnisse und -prozesse zeugen. In der systematischen Diskussion deutete sich allerdings an, dass die Annahme einer vernunftrechtlichen Geltung der Grundnormen des internationalen Rechts mit dem Faktum der kulturellen Differenz und der Heterogenität der Rechtspraktiken der Menschheit kollidiert. Auch die Vorstellung einer Positivierung des allgemeinen Vernunftrechts erwies sich als prekär, da im Raum des internationalen Rechts wesentliche Institutionen des positiven Rechts fehlen. Vor diesem Hintergrund erschien deshalb neben der theoriegeschichtlichen Rekonstruktion der wirkmächtigen, aber bislang noch unzulänglich gewürdigten Theorie des Vitoria insbesondere auch die systematische Auseinandersetzung mit ihm als besonders wichtig. Neben den grundsätzlichen Fragen nach Infrastruktur, Geltungsbedingungen und -charakter dieser normativen Ordnung ergab sich eine Reihe speziellerer Fragen wie die nach den Konzeptionen von Staatlichkeit und Rechtssubjektivität, nach der Autorität des Rechts und diverser Institutionen sowie nach dem Begriff und der Rolle der Menschenrechte.
Im Verlauf des Projekts „Die Schule von Salamanca“ kristallisierten sich zwei Schwerpunkte heraus: Einerseits die Rechtsphilosophie des Francisco de Vitoria, in der auf singuläre Weise die Traditionen der Theologie, des Humanismus, der politischen Philosophie und der Rechtslehre zusammenfinden. Aufnahmen säkularer und proto-positivistischer Motive werden bei Vitoria mit einer normativ gehaltvollen Einbettung in den Kontext einer Sorge um die Unvollkommenheit des Menschen und um die notwendigen normativen Strukturen von Rechtssystemen überhaupt verwoben. Vor diesem Hintergrund wurde herausgearbeitet, wie Vitoria den Regelungsgegenstand des Rechts, seine Regelungsadressaten und die institutionellen Aspekte der Rechtspflege und der Rechtsgenerierung beschreibt sowie übergreifend die Geltungsdimension des Rechts als solche. Den zweiten Schwerpunkt bildete das Verhältnis zwischen der Konzeptualisierung von Rechtsgemeinschaft und dem Geltungscharakter sowie der Bindungskraft des in dieser Gemeinschaft geltenden Rechts und dies wurde in Beziehung gesetzt zum Völkerrecht und zu den Geltungsbedingungen in den internationalen Beziehungen. In mehreren Artikeln wurde dieser Zusammenhang für verschiedene Autoren dargestellt: Bei Francisco de Vitoria handelt es sich um ein republikanisches Konzept, dem zufolge die Normen des Völkerrechts in der Regel als positive Beschlüsse einer weltweiten Versammlung angenommen werden müssen. Um mit der Diskrepanz zwischen dieser Geltungsstruktur und dem faktischen Fehlen eines globalen Gesetzgebers umzugehen, schlägt Vitoria eine Unterscheidung zwischen auctoritas und potestas vor, wobei Letztere eine bestimmte, auch limitierte und legitimierte Amtsgewalt bezeichnet, Erstere hingegen auf ein Verhältnis zwischen Gemeinwohl, kollektiver praktischer Rationalität und Rechtsordnung abstellt. Für Domingo de Soto ergeben sich politisch-rechtliche Kompetenzen vor allem aus der quasi-organischen Verfasstheit eines Kollektiv-Körpers – ein solcher ist für das Völkerrecht nicht vorstellbar, weshalb es allein auf der je individuellen Grundlage einer Verpflichtung aller vernunftbegabten Wesen auch die Staatsführer binden kann. Bei Alberico Gentili schließlich wird diese naturalistische Perspektive durch die Bodinsche Souveränitätstheorie abgelöst; auch für ihn ist der Gipfel der rechtlichen Kompetenz bereits auf dem Niveau der einzelnen Gemeinwesen erreicht. Die globale Gemeinschaft, die auch er rechtfertigend anführt, spielt eher die Rolle einer moralischen Idee, die globale Implikationen hat, welche aber nicht rechtsförmig durchgesetzt werden können. In beiden Schwerpunkten konnten aufschlussreiche Linien des Zusammenhangs von rechtlichen Normen, auch im modernen Sinne, mit der kollektiven Verfasstheit sozialer Praxis und mit Normativität überhaupt nachgezeichnet werden. Über Einsichten in die normative Binnenstruktur der Systeme rechtlicher Ordnung hinaus ließen sich dabei auch Rückschlüsse auf die Eigenlogik der rechtlichen im Vergleich zu anderen normativen Ordnungen und deren Diskursen – wie etwa der Theologie oder der Politik – ziehen.
Das Teilprojekt hat einen engen systematischen Zusammenhang zwischen der rechtlichen und institutionellen Verfasstheit einer (globalen) Rechtsgemeinschaft und dem Geltungscharakter der in ihr geltenden Rechtsnormen nachgewiesen, und es hat nachgewiesen, dass dieser Zusammenhang bereits in der Frühen Neuzeit wahrgenommen und diskutiert wurde. Die Differenziertheit der damaligen Ansätze macht allerdings deutlich, dass die frühneuzeitlichen Positionen keineswegs so eindeutig miteinander oder mit einer einfachen Unterscheidung von „noch mittelalterlich” und „schon modern” identifiziert werden können. In ideengeschichtlicher Hinsicht ist das Desiderat einer vertiefenden Betrachtung der verschiedenen Strömungen frühneuzeitlicher Rechtsphilosophie, ihrer Binnenstruktur und ihres jeweiligen Verhältnisses zu anderen kulturellen, wissenschaftlichen, ökonomischen Entwicklungen deutlich zutage getreten und von der scientific community bestätigt worden. In systematischer Hinsicht konnten neben der in aktuellen Diskussionen zentralen moralischen These einer globalen Wertgemeinschaft alternative Varianten der Konstruktion einer globalen Rechtsgemeinschaft angerissen werden, die nicht schon mit der Übertragung eines dem Einzelstaat abgeschauten Souveränitätsmodells auf den Weltmaßstab operieren; an die Rolle von Rechtsfiktionen wäre hier ebenso zu denken wie an diejenige intermittierender Institutionen. Während wir gewiss in der Frühen Neuzeit keine auf die heutigen Konstellationen hin voll entfalteten und heutigen Ansprüchen genügend begründeten Entwicklungen dieser Ideen behaupten können, so wurden sie doch mehr als nur angedeutet und mit einer ganzen Reihe theoretischer wie praktischer Probleme in Verbindung gebracht und diskutiert. In diesem Sinne verleiht die ideengeschichtliche Forschung auch den systematischen Bemühungen Rückhalt und Nachdruck, in diesen Bereichen weiter zu denken.
Die angesprochenen Anschlüsse an die ideengeschichtlichen wie systematischen Überlegungen bedürfen jedoch einer weiteren und tieferen Erforschung, bevor sich über ihren Eintrag in aktuelle Anwendungsfelder Aussagen treffen lassen. Zu einem nicht unwesentlichen Anteil geht das langfristig angelegte Editions- und Wörterbuch-Projekt „Die Schule von Salamanca. Eine digitale Quellenedition und ein Wörterbuch ihrer juristisch-politischen Sprache” der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz aus dem in ideengeschichtlicher Hinsicht genannten Desiderat hervor. Ähnliche Unternehmen für andere Diskurstraditionen (z.B. das protestantische Naturrecht oder die Diskurse der Staatsräson) sowie die Vernetzung solcher Projekte sind unbedingt wünschenswert. In systematischer Hinsicht legt das Projekt die Erforschung der konstruktiven Leistungen des globalen Rechtsdiskurses (als eines solchen) ebenso nahe wie diejenige der Rückbindung von intermittierenden, partikularen und unvollkommen legitimierten Institutionen an Konstitutions- und Legitimationsstrukturen umfassender Gemeinschaften. Es böte sich an, diese Fragen mit den aktuellen Diskussionen um schwache Staatlichkeit, Compliance und Konstitutionalisierung zu verbinden.
Im Verlauf der Forschungen des Teilprojekts entwickelte sich ein intensiver Dialog mit internationalen Forscherinnen und Forschern auf dem Spezialgebiet der „Schule von Salamanca“. Um eine vertiefte Zusammenarbeit zu ermöglichen, wurden verschiedene Konferenzen und Workshops durchgeführt. So fanden die Arbeiten am Schwerpunktthema des Teilprojekts ihren Niederschlag nicht nur in den konkreten Forschungsergebnissen der beteiligten Wissenschaftler, sondern auch in mehreren Publikationen, die auf einzelne Konferenzen zum Thema zurückgingen. Auf die Konferenz „Francisco de Vitoria und die Normativität des Rechts“ vom Dezember 2008 in Frankfurt am Main folgte der Band: Bunge/Spindler/Wagner (eds.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. Auf die Konferenz „Die Normativität des Rechts in der spanischen Spätscholastik“ vom Dezember 2009 in Bad Homburg folgte die Publikation Bunge/Schweighöfer/Spindler/Wagner (eds.), Kontroversen um das Recht, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013.
Dank einer engen Zusammenarbeit mit dem Interdisciplinary Research Cluster on „Human Interactions and Normative Innovation“ an der University of Washington und dem Teilprojekt fanden mehrere Workshops und Arbeitstreffen in Frankfurt und Seattle statt. Aus dieser Zusammenarbeit ist der Band: Matthias Lutz-Bachmann/Amos Nascimento (eds.) „Human Rights, Human Dignity, and Cosmopolitan Ideals. Essays on Critical Theory and Human Rights“, Ashgate 2014 entstanden.
Für die jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler waren der Dialog und die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Nachwuchsgruppen für die Weiterentwicklung ihrer Forschungsvorhaben von großer Bedeutung. Durch die Bildung eines Forschernetzwerks rund um die Fragen der Anfänge und die Grundlagen einer globalen normativen Ordnung konnte ein reger Austausch in Form von Workshops und Treffen initiiert werden. Die Arbeitsgruppe setzte sich zusammen aus jungen Forscherinnen und Forschern des „Interdiziplinären Zentrums zur Erforschung der Europäischen Aufklärung“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg und dem Institut für Theologie und Frieden in Hamburg. Es bildete sich eine dauerhafte Zusammenarbeit, aus der die Konferenz „Der Gesetzesbegriff zwischen Metaphysik, Theologie und Politischen Philosophie“ vom 10. bis 13.09.2013 in Bamberg hervorgegangen ist.
Die Bildung dieser verschiedenen Forschungsnetzwerke hat nicht zu einer Abweichung von der Ausgangsfrage geführt, sondern vielmehr zu einer deutlichen Erweiterung des Forschungshorizontes der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Teilprojekts und zu einer inhaltlichen Bereicherung des ursprünglichen Konzeptes.
Kooperationspartner während der Projektlaufzeit waren: Prof. James Bohman, Professor für Philosophie an der Saint Louis University, USA, Aufenthalt von Herrn Bohman als Fellow des Exzellenzclusters am Forschungskolleg Humanwissenschaften von Juni-Juli 2010, Thema der Zusammenarbeit: „Normative Probleme komplexer politischer Systeme“; Prof. Bill Talbott, Professor für Philosophie der University of Washington in Seattle, USA, Aufenthalt von Herrn Talbott als Fellow des Exzellenzclusters am Forschungskolleg Humanwissenschaften von April-Mai 2011, Thema der Zusammenarbeit: „Der normative Grund der Geltung der Menschenrechte“; Prof. Merio Scattola, Universita degli Studi di Padova, Bogota, Kolumbien, Fellow des Exzellenzclusters von Oktober-Dezember 2010, Thema der Zusammenarbeit: „Eine Modellgeschichte des Naturrechts in der Frühen Neuzeit“ und Prof. Amos Nascimento, University of Washington, Tacoma, USA, Thema der Zusammenarbeit: „Der normative Grund der Geltung der Menschenrechte”
Die im Verlauf der Projekte erreichten Qualifikationen sind die Promotion von Herrn Andreas Wagner im Jahr 2008 zum Thema „Recht, Macht, Öffentlichkeit. Demokratietheorie zwischen Institutionen und Kommunikation“ (erschienen 2010 als Recht - Macht – Öffentlichkeit. Elemente demokratischer Staatlichkeit bei Jürgen Habermas und Claude Lefort, Reihe: „Staatsdiskurse“, Band 8, Stuttgart: Franz Steiner Verlag) und die Promotion von Frau Kirstin Bunge im Jahr 2013 zum Thema: „Rechte zwischen Gleichmaß und Gleichheit. Zur Rechtsphilosophie von Francisco de Vitoria“ (erschienen 2017 als Gleichheit und Gleichmaß. Equality and Equitability. Zur Rechtsphilosophie von Francisco de Vitoria, in der Reihe: „Politische Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit“, Reihe II, Band 7, Stuttgart: frommann-holzboog.).
Weitere zentrale Veröffentlichungen des Projekts waren: M. Lutz-Bachmann, „Das Recht der Autorität – die Autorität des Rechts. Rechtsphilosophische Überlegungen im Anschluss an Francisco Suárez“, in: Gideon Stiening, „Auctoritas omnium legum“ Francisco Suárez’ ‚De Legibus’ zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz’, Stuttgart Bad Cannstatt 2012, 139-156; A. Wagner, „Zum Verhältnis von Völkerrecht und Rechtsbegriff bei Francisco de Vitoria“, in: Bunge/Spindler/Wagner (Hrsg.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, frommann-holzboog, 2011, 255-286; A. Wagner, „Die Theologie, die Politik und das internationale Recht. Vitorias Sprecher- und Akteursrollen“, in: N. Brieskorn/G. Stiening (Hrsg.), Francisco de Vitorias De Indis in interdisziplinärer Perspektive. Stuttgart: frommann-holzboog, 2011, 153-170; A. Wagner, „Francisco de Vitoria and Alberico Gentili on the Legal Character of the Global Commonwealth“, in: Oxford Journal of Legal Studies 2011/3; K. Bunge, „Das Verhältnis von universaler Rechtsgemeinschaft und partikularen politischen Gemeinwesen: Zum Verständnis des totus orbis bei Francisco de Vitoria“, in: Bunge/Spindler/Wagner (Hrsg.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, frommann-holzboog 2011, 201-227