Projektleiter: Prof. Dr. Andreas Fahrmeir
Mit der Freihandelsordnung etablierte sich im langen 19. Jahrhundert ein globales Wirtschafts- und Handelssystem mit hohem normativem Anspruch, das durch Technologien des Regierens auf eine umfassende Lebenssteuerung hinwirkte. Freihandel als Ordnungsbehauptung rang alsbald um Legitimation und Rechtfertigung seiner Regelungsansprüche: Widerstände und Paradoxa normativer Geltungsgründe wurden auf globaler wie lokaler Ebene zur Regel. Zugleich verschoben sich die Grenzen zwischen Lokalem, Nationalem und Globalem, Zentrum und Peripherie.
Angesichts der Vielzahl der Erfahrungen individueller Akteure mit Freihandelsordnungen und ihren Repräsentationen kann daher nur ein multidimensionaler Zugang dieser Interaktion zwischen politischer Organisation, Ideen und wirtschaftlichen Aktivitäten, ihrer gleichzeitigen Ausdifferenzierung und Verflechtung gerecht werden. Das Projekt zielte auf eine Beziehungsgeschichte zwischen globalen und lokalen Räumen guter Gründe und interessierte sich insbesondere für Rechtfertigungsnarrative und ihre wechselseitigen Einflüsse, Kommunikations- und Austauschbeziehungen. Die Forschungsinitiativen, die unter dem Dach dieses Projektes versammelt waren, gingen diesen Wirkungszusammenhängen aus makro- und mikrohistorischer Perspektive nach:
Die Ambivalenzen vermeintlich ‚guten Regierens’ und Paradoxa der Freihandelsordnung traten im Fall des britischen Empire deutlich hervor. Als Teil der britischen globalen Zivilisierungsmission und Säulen der kolonialen Herrschaftsarchitektur traten Free Trade und Rule of Law in der multi-ethnischen und multi-religiösen Musterkolonie Indien in ein Spannungsverhältnis zueinander. Dieses stand im Mittelpunkt des ersten Projektes. Geltungsgründe konfligierten, und zwar sowohl in spezifischen Arenen des Rechts wie z.B. vor Gericht als auch in der britischen Öffentlichkeit selbst.
Nicht selten rivalisierten ‚ökonomische’ und ‚moralische’ Argumente so miteinander, wie bei der Abschaffung des Sklavenhandels. Die Freihandelsordnungen beruhten auch auf der Privatisierung von Besitzrechten und der Regelung von Arbeitsverhältnissen, die sich auf Vertragsfreiheit und die Vorstellung von Marktbeziehungen zwischen freien und gleichen Individuen gegründet verstanden. Dies jedoch schloss nicht aus, dass sich neue Formen der nun als ‚frei’ deklarierten Zwangsarbeit entwickelten: Inwieweit resultierten demnach Erfolg oder Scheitern der Freihandelsordnung(en) aus Problemen der normativen Ordnung selbst oder aus einer nach ihren eigenen Normen ungerechten oder ineffektiven Umsetzung? Diese Frage war Gegenstand einer zweitätigen Konferenz.
Zeitgenössische Politiker, Verwaltungsexperten, private und staatliche (Handels)Gesellschaften, Kaufleute, Intellektuelle und die öffentliche Meinung beschäftigten sich intensiv mit Gewinnen und Verlusten der Freihandelsordnungen und ihrer Herrschaftstechniken, mit Wettbewerb auf internationalen Märkten, Industrialisierung und sozialem Fortschritt. Diese Diskussionen waren zugleich dicht verwoben mit Debatten über die Nation und deren Neubewertung: Die Nation blieb zum einen stetiger Referenzpunkt im Kontext globaler Dynamiken, veränderte sich zum anderen zugleich in eben jenen Modernisierungsprozessen. Für das britische wie auch das französische Kolonialreich des 19. Jahrhunderts galt, dass die koloniale Expansion Einfluss auf die Produktion von historischem Wissen über die Nation nahm und auf das Empire-building und den Prozess der Globalisierung zurückwirkte. Europa lässt sich also nicht aus sich selbst heraus verstehen.
Um zu zeigen, wie sehr die Analyseebenen des Globalen, Nationalen und Lokalen miteinander verwoben sind, blieb also neben der Makro- gerade die Mikroperspektive unabdingbar. Diese half, alle intermediären Erfahrungsebenen zu erfassen, die die individuelle, alltägliche Begegnung mit dem Freihandel formten: Die Implementierung der liberalisierten Wirtschaftsordnung verdrängte auch die bis dahin auf kollektiven Besitzrechten und auf der Verbindung von ökonomischer Abhängigkeit und Herrschaft beruhenden Wirtschaftspraktiken: Wie dies Gerechtigkeitspraktiken und deren Rechtfertigungsnarrative veränderte, zeigte eine zweite Studie am Beispiel der Bauernbefreiung und Agrarreformen in Nassau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus lokal- bzw. regionalgeschichtlicher Perspektive – ein Ansatz, der wie die anderen Projekte auch auf die Rückbindung zwischen universaler Freihandelsordnung und partikularer Praxis zielte.
In dem Projekt wurde die Umsetzung der ‚liberalen‘ Wirtschaftsordnungen des 19. Jahrhunderts vor Ort untersucht. Diese zielten auf die Herstellung klar beschreibbarer Eigentumsverhältnisse, die ein neues, bisher vermeintlich durch den gemeinschaftlichen Besitz und die kollektive Verwertung von Nutzungsrechten zurückgehaltenes Potential für wirtschaftliches Wachstum freisetzen sollten und wurden in zwei Kontexten untersucht: In einem kleineren deutschen Staat (Nassau; Heidi Quoika) und in einer außereuropäischen Kolonie (Indien; Dr. Verena Steller). Das Projekt sollte dazu beitragen, die normativen Grundlagen der „Freihandelsordnung“ in doppelter Weise zu kalibrieren. Auf der einen Seite galt es, die Frage zu beantworten, welche Elemente der ‚europäischen‘ normativen Ordnung die Abkehr von über Jahrhunderte bewährten kollektiven Nutzungsrechten erleichterten oder erst ermöglichten, aber auch zu klären, welche Widerstände die rechtlichen und administrativen Veränderungen hervorriefen, die ‚moderne‘ Eigentumsverhältnisse zu schaffen suchten. Auf der anderen Seite galt es, zu klären, ob andere normative Grundlagen die Attraktivität der Freisetzung kommerzieller Energien außerhalb Europas wirklich sehr viel stärker behinderten und somit stärkerer Zwänge bedürften. In beiden Fällen hat sich die Hypothese einer komplexen Gemengelage von Interessen, Zustimmungen und Widerständigkeiten wie erwartet bestätigt.
Das Dissertationsprojekt von Heidi Quoika hat zur Entdeckung umfangreicher, bislang kaum bearbeiteter Aktenbestände der standesherrlichen Familie Waldbott von Bassenheim geführt, anhand derer sich die ‚Modernisierung‘ der Administration und damit auch der Eigentums- und Besitzverhältnisse aus der intermediären Perspektive einer vorher reichsunmittelbaren, nach 1803 dem Herzogtum Nassau unterworfenen, aber immer noch mit Rechten gegenüber den ehemaligen Untertanen ausgestatteten Familie detailliert verfolgen lässt – wobei in diesem Fall die Entwicklung von einem relativ harmonischen Patriarchalismus über heftige Konflikte im Jahr 1848 zu einer Forderung nach ‚modernisierenden‘ staatlichen Reformen auch von unten verlief.
Das von Verena Steller durchgeführte Projekt zu Indien hat sich in Richtung eines Habilitationsprojekts entwickelt, das die "Rule of Law" allgemein in den Blick rückt, vor allem anhand ‚politischer‘ Prozesse, wobei der bislang wenig beachteten Gruppe der indischen im britischen System ausgebildeten barrister besondere Aufmerksamkeit gilt. Nach dem Abschluss der Finanzierung durch das Cluster wurde das Projekt durch ein Stipendium der Gerda Henkel Stiftung gefördert und nun im Rahmen einer „eigenen Stelle“ der DFG finanziert.
Zu den wichtigsten Publikationen im Projekt zählen: Andreas Fahrmeir/Verena Steller (2013): „Wirtschaftstheorie, Normsetzung und Herrschaft: Freihandel, „Rule of Law“ und das Recht des Kanonenboots“, in: Andreas Fahrmeir/Annette Imhausen (Hg.), Die Vielfalt normativer Ordnungen. Konflikte und Dynamik in historischer und ethnologischer Perspektive (Reihe: Normative Orders, Band 8.), Frankfurt/Main, Campus, 165-195; Andreas Fahrmeir (2012): Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution 1815-1850 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 41), München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag; Andreas Fahrmeir (2011): „Civil rioters? Citizens’ restrained violence in Britain around 1800”, in: European Review of History / Revue européenne d’histoire 18, 359-371 und Verena Steller (2014): “The „Rule of Law“ in British India, or a Rule of Lawyers? Indian Barristers vs the Colonial State“, in: comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung (hg. v. Christina Brauner, Antje Flüchter: „The Dimensions of Transcultural Statehood“), 24(5), 78-98.
Im Rahmen des Projekts wurden u.a. folgende Veranstaltungen durchgeführt: „From Bondage to Freedom. The Abolition of Slavery, Serfdom and Unfree Labour“, Internationale Konferenz, 9.-10.7.2010 und „The Production of Colonial Historiographies“. Workshop 4.-5.10.2010.