Projektleiter: Prof. Dr. Gunther Hellmann

Im Rahmen des Projekts wurden die sicherheitspolitischen Dimensionen der Herausbildung und Transformation der westlichen Ordnung untersucht. Als Ordnungsbegriff wird "der Westen" sowohl in politischen als auch in akademischen Diskussionszusammenhängen ubiquitär gebraucht. Die routinemäßigen Verwendungsweisen verstellen jedoch allzu leicht den Blick auf die konstitutive Unschärfe und Umstrittenheit "des Westens". Seine integrative Kraft scheint "der Westen" aber gerade dadurch entfalten zu können, dass ganz unterschiedliche Positionen und Projekte "im Namen des Westens" begründet werden können. Exemplarisch zeigte sich das an den Kontroversen um angemessene Formen der Terrorismusbekämpfung, in denen nahezu jede in Europa oder den USA artikulierte Position sich selbst in Übereinstimmung mit den normativen Grundprinzipien des Westens sieht, während Gegenpositionen die Abweichung von solchen Grundprinzipien vorgeworfen wird. Vor diesem Hintergrund wird es sozialwissenschaftlich interessant, die unterschiedlichen Bezugnahmen auf den Westen und ihre institutionellen Konsequenzen in den Blick zu nehmen.

Zu diesem Zweck wurde ein methodologisch innovativer, offener Forschungszugriff entwickelt, der die performativen Bezüge in drei unterschiedlichen sicherheitspolitischen Feldern in hermeneutischen Detailanalysen rekonstruierte. Im ersten Forschungsfeld stand die traditionelle Dimension der Großmachtrivalität im Mittelpunkt. In sicherheitspolitischen Kreisen wird das Aufkommen neuer Mächte, insbesondere Chinas, aber auch die offene Entwicklung Russlands unter dem Aspekt möglicher Polaritätsverschiebungen beobachtet. Wie auf solche möglichen Verschiebungen zu reagieren sei, ist innerhalb des Westens umstritten und daher ein geeigneter Ausgangspunkt für die Rekonstruktion performativer Bezüge auf den Westen. Dabei ließen sich in politisch diametral entgegengesetzten Positionen deutliche Gemeinsamkeiten in der Art und Weise identifizieren, in der auf den Westen Bezug genommen wurde. So erschien der Westen beispielsweise sowohl den Befürwortern einer Kooperationsstrategie gegenüber China als auch den Befürworten einer konfrontativeren Haltung als bedrohter, aber unbedingt zu schützender Raum. Die Einschätzung, dass die materiellen Grundlagen der Vormachtstellung des Westens bedroht sind, ging typischerweise einher mit der Reartikulation der Vorstellung einer normativ-moralischen Überlegenheit des Westens und seiner Vorbildfunktion für aufstrebende Staaten. Gerade weil der Westen sich selbst als moralisch überlegen beobachtet, kann aber das Szenario des geopolitisch bedrohten Westens an Plausibilität gewinnen.

Ein zweites Forschungsfeld konzentrierte sich auf die NATO als die sicherheitspolitisch zentrale institutionelle Verkörperung des Westens. Als Verteidigungsbündnis entsteht die NATO in der strategischen Konstellation des Ost-West-Konflikts, in ihren Selbstbeschreibungen ist sie jedoch immer mehr als eine bloß strategisch begründete Allianz. Als institutioneller Ausdruck der "westlichen Wertegemeinschaft" begreift sie sich zunächst als Verteidigungslinie gegen den Sowjetkommunismus. Nach dem Ost-West-Konflikt und damit dem Wegfall von Blockkonfrontation und Systemkonkurrenz wird der Fortbestand der NATO daher begründungsbedürftig. In einer hermeneutischen Detailanalyse der einschlägigen strategischen Dokumente ließ sich nachweisen, dass die NATO hierzu Gebrauch von rhetorischen Strategien der Selbstermächtigung machte, die sich in jeweils der strategischen Konstellation angepassten Variationen bis zu den Anfängen der Allianz zurückverfolgen lassen. Der Topos eines bedrohten, aber unbedingt zu schützenden Westens verstärkt diese Tendenz zur Selbstermächtigung und begründet zugleich eine spezifisch westliche Konfliktstruktur in den transatlantischen Beziehungen. Politische Meinungsverschiedenheiten zwischen Europa und den USA werden nicht als gewöhnliche Differenzen von Position und Opposition beschrieben, sondern vielmehr als unterschiedliche Auslegungen eines geteilten westlichen Wertefundaments. Dass die Gegenpartei immer als abtrünnige beobachtet wird, die dieses gemeinsame Fundament verlässt, erklärt die spezifische Eskalationsdynamik, aber auch die Integrationswirkung transatlantischer Konflikte.

Das dritte Forschungsfeld befasste sich schließlich mit den innenpolitischen Dimensionen des "Kriegs gegen den Terrorismus" insbesondere am Beispiel der Relegitimierung von Folter und den Tendenzen rechtsstaatliche Schutzvorschriften außer Kraft zu setzen. Dass die normativ-institutionellen Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats im Zuge der Terrorbekämpfung tendenziell unter Druck geraten, ist hinreichend bekannt und belegt. In einer hermeneutischen Detailanalyse der einschlägigen Folter-Memos, massenmedialer Verarbeitungen der Folterthematik und der europäischen Kontroverse um extraordinary renditions stand vielmehr die Frage nach der Begründung und Rechtfertigung derartiger Einschränkungen im Mittelpunkt. Auch hier autorisierte zunächst der Topos des "bedrohten Westens" außeralltägliche Verteidigungsmaßnahmen, unter denen die schleichende Relegitimierung von Folter nur das herausragende Beispiel darstellt. Analytisch von Interesse war dann allerdings die Frage, wie solche Einschränkungen auf Dauer gestellt werden konnten. Dabei ließ sich eine diskursive Verschiebung rekonstruieren, die weg vom ursprünglich autorisierend wirksamen Topos der situativen Ausnahme zum Zweck der Verteidigung und hin zu einer bürokratisch-technokratischen Risikosemantik führte. Nicht das Wissen um eine Bedrohung, sondern das Nichtwissen um ihr zeitliches Ende wurde damit zur zentralen Rechtfertigungsfigur. Die auf diese Art und Weise gestiftete Unverbindlichkeitskommunikation ermöglichte es insbesondere auch der europäischen Seite, ihre Duldung von und Beteiligung an der Überstellung von Verdächtigen an Black Sites der CIA vor öffentlicher Kritik zu immunisieren.
In allen drei Forschungsfeldern ließ sich also eine grundlegende, zugleich aber immer auch umstrittene Tendenz zur Versicherheitlichung des Westens beobachten. Als Versicherheitlichung bezeichnet man in der kritischen Sicherheitstheorie der Kopenhagener Schule den diskursiven Prozess, durch den ein Referenzobjekt in einer solchen Weise als existentiell bedroht beschrieben wird, dass zu Verteidigungszwecken außeralltägliche Maßnahmen als gerechtfertigt erscheinen. Als Referenzobjekte dienen in der Literatur zumeist der Staat, gelegentlich auch Gesellschaft oder Umwelt. Den Westen als Referenzobjekt einzuführen und zu analysieren leistet damit auch einen innovativen Beitrag zur aktuellen sicherheitstheoretischen Diskussion. Die Versicherheitlichung des Westens stellt im Ergebnis nicht eine notwendige oder unumkehrbare Entwicklung dar, sie ist vielmehr zu begreifen als praktische Folge der Reaktionen insbesondere auf terroristische Bedrohungen. Dem Bild eines versicherheitlichten Westens, der im Namen der Selbstverteidigung seine normativen Grundlagen preiszugeben droht, steht daher immer das Bild einer genuin westlichen Kultur des rechtsstaatlich-demokratischen Formalismus entgegen. Als gleichermaßen durchgängig virulente Topoi im sicherheitspolitischen Diskurs stehen diese konträren Selbstbeschreibungen des Westens in einem polaren Spannungsverhältnis zueinander. Jede Versicherheitlichung bleibt mit rechtsstaatlichen Argumenten kritisierbar, ebenso wie jede Errungenschaft des demokratischen Rechtsstaats durch Dynamiken der Versicherheitlichung bedroht bleibt. Innerhalb dieses Spannungsfeldes ließ sich jedoch insbesondere seit den Anschlägen des 11. September 2001 eine diskursive Verschiebung in Richtung einer zunehmenden Versicherheitlichung des Westens beobachten.

Neben den gegenstandsbezogenen Forschungsergebnissen aus den einzelnen Feldern und dem sich daraus ergebenden Gesamtbild der Transformation der westlichen Ordnung leistet das Projekt auch in theoretischer und methodologischer Hinsicht einen grundbegrifflichen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Herausbildung normativer Ordnungen. Indem normative Ordnungen konsequent unter dem Aspekt ihrer Herausbildung beobachtet werden, wird es möglich, statische Ordnungsbegriffe zu überwinden und die Prozessdimension der Ordnungsbildung in den Blick zu nehmen. Ordnungsbildung lässt sich dann begreifen als praktische Folge der performativen Bezugnahme auf Ordnungsbegriffe. Deren rekonstruktive Analyse wird durch das im Projekt entwickelte grundbegriffliche Instrumentarium ermöglicht.

Zu den wichtigsten Publikationen im Forschungsprojekt zählen:
Hellmann, Gunther/Herborth, Benjamin (2008): „Fishing in the Mild West. Democratic Peace and Militarized Interstate Disputes in the Transatlantic Community”, in: Review of International Studies, 34(3), 481-506.
Hellmann, Gunther/Herborth, Benjamin (Hg.) (2016): Uses of the West. Security and the Politics of Order, Cambridge University Press.
Hellmann, Gunther/Herborth, Benjamin/ Schlag, Gabi/Weber, Christian (2017): “The West: A Securitizing Community”, in: Journal of International Relations and Development, 20(2), 301-330.
Hellmann, Gunther/Herborth, Benjamin/ Schlag, Gabi/Weber, Christian: Securitizing the West? The Politics of Security and the Transformation of Western Order (gemeinsame Monographie, im Erscheinen).

Im Projekt wurden u.a der Workshop "Securitization Theory and the Formation of Normative Orders, Theoretical Problems and Methodological Challenges", 6–8 September 2008, Goethe Universität Frankfurt und die Internationalen Konferenzen "Secur(itiz)ing the West – The Transformation of Western Order" 21-23 November 2008, SAIS Bologna Center, Johns Hopkins University sowie “Uses of the West: Security - Democracy – Order” 8-10 October 2009, Forschungskolleg Humanwissenschaften, Bad Homburg, durchgeführt.


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