Projektleiter: Prof. Dr. Jens Steffek und Prof. Dr. Peter Niesen

Ziel dieses Projektes war es, den Demokratiebegriff mit Blick auf die postnationale Konstellation politischer Herrschaft systematisch weiterzuentwickeln. Das Projekt fügte sich damit ein in die clusterweite Erforschung globaler Nachfolgepraktiken und -institutionen staatlicher Ordnungsbildung, die hier aus demokratietheoretischer Perspektive beschrieben und bewertet werden sollten. Während sich das Vorgängerprojekt "Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie" den begrifflichen Zusammenhängen und Spannungen zwischen transnationaler Demokratie und Gerechtigkeit gewidmet hat, setzte dieses Vorhaben bei Spannungen und Ambivalenzen innerhalb der fortschreitenden Universalisierung der Demokratie an. Die Universalisierung der Demokratie hat drei Dimensionen: die weltweite Ausbreitung der demokratischen Staatsform (1), die Entwicklung demokratischer Strukturen jenseits des Staates (2), sowie die normative Verallgemeinerung von Demokratie als alternativlosem Standard legitimen Regierens (3). Alle drei Verständnisse von Universalisierung können innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte auf entgegenkommende empirische Tendenzen verweisen. Die wissenschaftliche Fragestellung des Projekts richtete sich auf Spannungen und Wechselwirkungen zwischen den drei Dimensionen der Universalisierung. Sie forderte damit auch die Position von Keohane, Macedo und Moravcsik heraus, derzufolge nationale und internationale Demokratisierung in einem Positivsummenverhältnis stehen.

In unserem Projekt wurden zwei besonders evidente Ambivalenzen einer Universalisierung der Demokratie untersucht: die zunehmende internationale Verbreitung und grenzüberschreitende Einflussnahme auf den Demokratieschutz in Einzelstaaten, sowie die zunehmende Etablierung supranationaler Kontrollmöglichkeiten einzelstaatlicher Entscheidungen. Die erste Forschungsfrage lautete, inwiefern sich nationale und internationale Mechanismen der Demokratiestiftung und -erhaltung auf die demokratische Autonomie der betroffenen Staatsvölker auswirken (Teilprojekt Niesen). Wie im nationalstaatlichen Kontext wirft die Entparadoxierung eines autoritären Demokratieschutzes auch auf internationaler Ebene große Schwierigkeiten auf. In seinen eigenen Arbeiten ist Peter Niesen vor allem auf die Universalisierung vergangenheitspolitischer Argumente beim innerstaatlichen Demokratieschutz vergleichend eingegangen. Das hergebrachte Paradigma der "militant democracy" erwies sich als nicht hinreichend spezifisch zur Diagnose zeitgenössischer Entwicklungen in verschiedenen Weltgegenden. Der Idealtyp eines "Banning the Former Ruling Party", der sich aus den Nachkriegsverfassungen der Bundesrepublik und insbesondere Italiens herauspräparieren ließ, ist dagegen inzwischen in weltweit vielfach analog umgesetzt worden. Allerdings ergab die Erörterung der Fallbeispiele Ruanda, Irak und einiger postkommunistischer Staaten, dass demokratieschützende Maßnahmen häufig innen- wie außenpolitisch funktionalisiert werden (Niesen 2010, 2012). In den Arbeiten von Sabrina Engelmann wurde einerseits eine Unterscheidung zwischen demokratieschützenden und staatsschützenden Mechanismen etabliert, am Beispiel der Terrorismusabwehr (2012). Zum anderen ging Sabrina Engelmann dem Beispiel eines völkerrechtlich bindenden Demokratieschutzes vor dem „Ressourcenfluch“ nach und erörtert die demokratietheoretischen Grundlagen von Demokratieschutz insgesamt. Sie kommt zu einem skeptischen Ergebnis, was die Verträglichkeit von repressivem Demokratieschutz mit dem Prinzip der Volkssouveränität angeht. Die aus der Dissertation hervorgegangene Monographie ist 2018 erschienen (s.u.).

Die zweite Forschungsfrage lautete, inwiefern individuelle Kontestationsrechte bei internationalen Organisationen oder Gerichtshöfen die nationalstaatliche Demokratie untergraben können (Teilprojekt Steffek). Untersucht wurde in diesem Teilprojekt also das bislang wenig analysierte demokratietheoretische Dreiecksverhältnis zwischen Individuen, Staaten und internationalen Organisationen/Gerichtshöfen, das insbesondere dann problematisch wird, wenn internationale Gerichts- oder Schiedsgerichtsinstanzen auf Klage einer Bürgerin hin demokratisch zustande gekommene nationalstaatliche Gesetze verwerfen, bzw. dem Staat eine Gesetzesänderung nahelegen. Die Arbeiten an diesem Teilprojekt gliederten sich in theoretisch-konzeptionelle Arbeiten zur Rolle von Gerichten in einem transnationalen demokratischen Prozess einerseits und eine empirische Studie zur Europäischen Union andererseits. Im theoretischen Teil wurden mit Rückgriff auf die Arbeiten von Philip Pettit transnational agierende Gerichte in der „editorialen“ Dimension des demokratischen Prozesses angesiedelt. Gerichte und vergleichbare Instanzen der Konfliktbeilegung ohne Legitimation durch Wahlen (wie etwa Schiedsgerichte oder Ombudsleute) dienen in dieser Sichtweise der Konfrontation einer getroffenen Entscheidung mit ihren intendierten oder auch nicht-intendierten gesellschaftlichen Folgewirkungen. Diese können, zumindest im Idealfall des demokratietheoretischen Modells, von einem Gericht in einer Art reflexiver Schleife an die gesetzgebenden demokratischen Institutionen zurückgespielt werden, so dass der durch die autoritative politische Entscheidung beendete Prozess der politischen Deliberation wieder geöffnet wird. Auf nationaler Ebene wäre dies etwa der Fall, wenn ein Verfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber damit bestimmte Vorgaben für eine Neufassung aufgibt, ohne jedoch den konkreten Inhalt der Neuregelung festlegen zu können.

Dieses gängige Modell des Zusammenwirkens der Institutionen im demokratisch verfassten Rechtsstaat, das hier nur grob skizziert werden kann, stößt auf internationaler Ebene dadurch an seine Grenzen, dass in vielen Fällen ein institutioneller Gegenpart zum nationalen Parlament fehlt und der intergouvernmentale „Gesetzgeber“ meist durch Einstimmigkeitserfordernis und die enorme Komplexität diplomatischer Paketlösungen eingeschränkt ist. Im Mehrebenensystem der Europäischen Union (EU) werden denn auch Konflikte zwischen europäischem und nationalem Recht, die durch Individualklagen evident werden, dadurch aufgelöst, dass nationale Gesetzgeber zur Revision nationaler Regelungen gezwungen werden – nicht aber dadurch, dass dem europäischen Gesetzgeber eine Revision der europäischen Rechtsordnung nahegelegt wird, was ja grundsätzlich auch denkbar wäre. In einer empirisch-analytischen Forschungsarbeit hat sich Andreas Corcaci mit diesem Phänomen in der EU beschäftigt. Seine Arbeit zeigt, dass die Herstellung von „Compliance“ mit Entscheidungen des EuGH ein vielschichtiger Prozess ist, auf den zahlreiche Einflussfaktoren gleichzeitig wirken. Auf der Basis zahlloser empirischer Forschungsarbeiten, die bereits vorliegen, entwickelt Andreas Corcaci im Rahmen einer Metaanalyse ein neues Modell der Herstellung von „Compliance“ im Mehrebenensystem der EU. In normativer Hinsicht verweisen uns seine empirischen Befunde zurück auf die prekäre Rolle des Rechts in der postnationalen Koalition. Widerstand und Protest gegen die wahrgenommenen Zumutungen europäischer Rechtssetzung manifestieren sich nicht in einem ebenso offen zugänglichen wie ergebnisoffenen Prozess der argumentativen Kontestation, sondern entladen sich in Vermeidungsstrategien, bei denen die betroffenen Staaten versuchen, eine buchstabengetreue Implementation des Europarechts nach Möglichkeit zu umgehen, was wiederum zu oftmals langwierigen Prozessen der Compliance-Herstellung durch die europäischen Institutionen führt. Im Ergebnis manifestiert sich in diesem Wechselspiel also gerade keine offene politische Kontestation, in der der europäische Gesetzgeber mit den gesellschaftlichen Folgewirkungen seiner Gesetzgebung konfrontiert würde (und was aus demokratietheoretischer Sicht ein klarer Gewinn wäre), sondern ein schwer überschaubarer, dezentralisierter Aushandlungs- und Durchsetzungsprozess, der zumindest dem nicht direkt betroffenen Bürger weitgehend unzugänglich bleibt.

Die Schlussfolgerung dieses Teilprojekts muss deshalb lauten, dass die EU und einige wenige andere internationale Organisationen dem Bürger zwar direkte Klagemöglichkeiten eingeräumt haben, was grundsätzlich wohl als Zugewinn an Demokratizität des Regierens gedeutet werden kann, aber dass diese Klagerechte vorwiegend zur Sicherstellung nationalstaatlicher Compliance mit dem Recht internationaler Organisationen genutzt werden. Eine Rückbindung des durch Bürgerklagen ausgelösten Prozesses der Kontestation an die internationale Ebene der Gesetzgebung unterbleibt dagegen. Dies erzeugt schwierige Fragen bezüglich der Legitimation weiterer Verrechtlichung auf internationaler Ebene, die in der zweiten Clusterphase Gegenstand eines Folgeprojektes geworden sind („Legitimation durch Völkerrecht und Legitimation des Völkerrechts“, Stefan Kadelbach und Jens Steffek, 2013-2015). Auch das Dissertationsprojekt, das in diesem Teilprojekt begonnen wurde, wurde in der Zwischenzeit zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht.

Zu den wichtigsten Publikationen des Projektes zählen:
Engelmann, Sabrina (2018): Demokratie und Demokratieschutz. Vom Umgang mit einem Dilemma, Frankfurt/New York: Campus.
*Engelmann, Sabrina (2012): „Barking Up the Wrong Tree: Why Counterterrorism Cannot Be a Defense of Democracy“, in: Democracy and Security 8(2), 164-174.
*Niesen, Peter (2012): „Banning the Former Ruling Party“, Constellations: An International Journal of Critical and Democratic Theory, 19(4), 540-561.
Steffek, Jens (2012): „Accountability und politische Öffentlichkeit im Zeitalter des globalen Regierens“, in: P. Niesen (Hg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, Frankfurt/Main: Campus, 279-310.
*Steffek, Jens (2010): „Public Accountability and the Public Sphere of International Governance“, Ethics & International Affairs, 24(1), 45-67.

Im Projekt wurden u.a. folgende Veranstaltungen durchgeführt: eine internationale Konferenz "Cosmopolitanism and International Relations Theories", TU Darmstadt 2./3.3.2012 (Peter Niesen und Jens Steffek); ein Workshop "Constituent Power and Radical Democracy" mit Andreas Kalyvas, TU Darmstadt  9.5. 2011 (Peter Niesen) und eine internationale Konferenz "Theories of Territory beyond Westphalia", Goethe-Universität Frankfurt, 25.-26. Oktober 2012 (mit Ayelet Banai) (Jens Steffek). Außerdem wurden drei Panels bei der 52. Jahrestagung der International Studies Association in Montréal, 16.-19. März 2011 zu den Themen “Norms and International Governance”, “Democracy and Dictatorships”, and “Democracy and the Evolution of Global Governance” geleitet.


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