Panel I: Die Verrechtlichung der Welt und ihre Kritiker
"Normative Ordnungen im Wandel: Globale Herausforderungen - Siebte internationale Jahreskonferenz des Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen"
Donnerstag, 20. November 2014, 14.45 bis 16.45 Uhr
Mit dem Begriff der „Verrechtlichung“ der internationalen Beziehungen wird eine ganze Reihe von Phänomenen beschrieben. Die Tatsachen etwa, dass immer mehr internationale Verträge Staaten formale Rechte und Pflichten zuschreiben, dass internationale Gerichtshöfe und Schiedsgerichte im Streitfall zunehmend diplomatische Verhandlungen ersetzen, oder dass Individuen durch eine internationale Strafgerichtsbarkeit belangt werden können. Als schrittweises Vordringen der Rechtsherrschaft in die „Anarchie“ des Staatensystems wurden diese Entwicklungen lange Zeit fast einhellig begrüßt. Inzwischen mehren sich jedoch auch die kritischen Stimmen. Beklagt werden eine Aushöhlung nationaler Souveränität und demokratischer Selbstbestimmung, die fehlende Flexibilität internationaler Vertragswerke, die mangelnde Reaktionsfähigkeit in Krisenmomenten und die Diffusion politischer Verantwortung. Ist die „Verrechtlichung der Welt“ zu weit gegangen? Oder geht sie, im Gegenteil, noch längst nicht weit genug?
Chair: Prof. Dr. Stefan Kadelbach (Principal Investigator des Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen", Goethe-Universität Frankfurt am Main)
CV
Geboren 1959; 1979-84 Studium der Literatur- und Rechtswissenschaften in Tübingen und Frankfurt am Main; 1986 Hague Academy of International Law, 1987/88 University of Virginia; 1984-87 Referendariat; Promotion 1991 über das Thema „Zwingendes Völkerrecht“; Habilitation 1996 mit einer Arbeit zum Thema „Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss“; 1997-2004 o. Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Gastprofessuren bzw. Vorlesungstätigkeit u.a. an der University of Virginia (1999), am Europäischen Hochschulinstitut Florenz (2000), am Institut für Staat und Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau (2002/03) und an der Chuo-Universität Tokio (2004). Seit 2004 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Mitglied des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“; seit 2014 Rapporteur des Human Rights Committee der International Law Association. Arbeitsgebiete: Verfassungs-, Europa- und Völkerrecht mit den Schwerpunkten Außenstaatsrecht, Föderalismus und Mehrebenensysteme, Grund- und Menschenrechte, Völkerrechtstheorie.
Vortrag 1
Prof. Michelle Everson (Birkbeck University of London):
Crisis past and crisis yet to come: the fault of (European) law
Abstract
It is a commonplace that the discipline of economics contributed to crisis, above all, as economic methodologies contributed to the fatal inflation of debt risk. But what might be said of the role of law within this constellation? Much ink has been consumed detailing legal shortcomings within historical regulatory regimes for the financial services. However, a full accounting has yet to be made of the broader fault which may also be attributed to the premises of modern and increasingly post-national law, especially as they coalesce with a broader abdication of political responsibility for crisis. This lecture undertakes this accounting, investigating in legal theory particular, the processes whereby law has transformed itself into an economic technology within postnational regimes. Pre-empting the politics within which social and economic stability might be defi ned and achieved, an economic technology of law has also survived crisis. Still seeking its own material legitimacy in the flattened pursuit of universal welfare gain within the optimized allocative effi
ciency of new economic liberalisms, law has also emerged as one of the progenitors of crisis yet to come.
CV
Michelle Everson is Professor of Law at Birkbeck College University of London. She has written widely on European Regulatory and Constitutional Law (“The Making of the European Constitution: Judges and lawyers beyond the constitutive moment “ (Routledge: Cavendish 2007) deploying a wide range of critical legal methodologies. She has recently concentrated her research on financial services and the role played by law in economic crisis (“The Fault of (European) Law in (Political and Social) Economic Crisis“ , 24:59 Law & Critique (2013).
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Vortrag 2:
Dr. Matthias Goldmann (Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen", Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg):
Couper la tête du roi? Die Verrechtlichung informaler öffentlicher Gewalt als Herausforderung für die Rechtswissenschaft
Abstract
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben sich Tendenzen zur Verrechtlichung und zur Informalisierung der internationalen Beziehungen meistens die Waage gehalten. Jede Verrechtlichungswelle ging mit einer Zunahme der Zahl und Vielfalt informeller, völkerrechtlich unverbindlicher Interaktionsformen einher. Beide bilden heute ein eng verzahntes Geflecht für die Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt. Nur selten kommt es zur Verrechtlichung informeller Interaktionsformen. Deren Persistenz lässt sich durch eine Reihe struktureller Gründe erklären. Doch gerade diese Gründe führen auch zu einer skeptischen Einschätzung der Legitimität informeller Interaktionsformen, und zwar weitgehend unabhängig von dem zugrunde gelegten Legitimitätsbegriff. Aus diskurstheoretischer Perspektive kann man die Legitimitätsprobleme informeller Interaktionsformen nur in den Griff bekommen, wenn man ihre Strukturen rechtlich rekonstruiert. Dies setzt ein Umdenken des völkerrechtlichen Rechtsbegriffs voraus, welches der von Foucault für die politische Theorie eingeforderten „Enthauptung des Königs“ entspricht.
CV
Matthias Goldmann studierte Jura in Würzburg und Fribourg. Seit 2004 ist er Mitarbeiter von Prof. Dr. Armin v. Bogdandy am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Nach dem 2. Staatsexamen und einem LL.M. an der New York University promovierte er 2013 an der Uni Heidelberg zum Begriff der Internationalen öffentlichen Gewalt (Springer 2014). Im Cluster koordiniert er das Teilprojekt zur „Ausübung öffentlicher Gewalt “ am Heidelberger MPI. Seine Habilitation widmet sich dem Zusammenspiel rechtlicher und finanzwissenschaftlicher Normativitäten. Wichtige Werke: „Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities” German L. J. 9, 1375 (2008) (mit v. Bogdandy/Dann); „We Need to Cut Off the Head of the King: Past, Present, and Future Approaches to International Soft Law” , Leiden J. of Int’l L. 25, 335 (2012); „Dogmatik als rationale Rekonstruktion. Versuch einer Metatheorie am Beispiel völkerrechtlicher Prinzipien“, Der Staat 53/3 (2014); sowie viele Schriften zur Staatsverschuldung.
Video:
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Vortrag 3
Prof. Dr. Jens Steffek (Principal Investigator des Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen", Technische Universität Darmstadt):
Willkür, Kontingenz und internationales Recht
Abstract
Das Völkerrecht ist in keiner beneidenswerten Situation. Seine traditionellen Kritiker werfen ihm immer noch vor, dass mächtige Staaten internationale Rechtsnormen weitgehend folgenlos missachten können. Daneben ist inzwischen eine neue Art der Kritik getreten, die den Vorwurf gewissermaßen umdreht: dass das internationale Recht nicht zu schwach ist, sondern zu stark; dass es Bürger bevormundet und die parlamentarische Demokratie aushöhlt, gerade weil Staaten seine Normen regelmäßig beachten. In meinem Vortrag nähere ich mich dieser merkwürdigen Ambivalenz der Bewertung international gesetzten Rechts über das Begriffspaar der Willkür und Kontingenz. Traditionell eingesetzt als Instrument zur Einhegung negativ konnotierter Staatenwillkür hat das Völker- und Europarecht auch der positiv konnotierten Kontingenz und Reversibilität demokratischer Entscheidungsfindung Grenzen gesetzt. Ich werde untersuchen, ob nur eine kosmopolitische Demokratisierung, die der willkürbegrenzenden Rolle des Völkerrechts ein permanentes Forum
der ergebnisoffenen Neuverhandlung transnational gültiger Normen gegenüberstellt, diesen Konflikt aufheben kann.
CV
Jens Steffek ist seit 2010 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Transnationales Regieren“ an der Technischen Universität Darmstadt und Principal Investigator im Exzellenzcluster. Nach einem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geographie an der Ludwig-Maximilians-Universität München promovierte er 2002 am Europäischen Hochschulinstitut mit einer Arbeit zu Fragen der Gerechtigkeit in der internationalen Handels- und Klimapolitik. Danach beschäftigte er sich als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bremen und der Jacobs University mit der Kooperation zwischen internationalen Regierungsorganisationen und nichtstaatlichen Akteuren. Aktuell arbeitet Jens Steffek an einer Ideengeschichte technokratischer Weltordnungsentwürfe und zum Verhältnis von Recht und internationaler Politik. Er hat sechs Bücher und rund 50 Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden publiziert. Seine Aufsätze erschienen unter anderem im European Journal of International Relations, Ethics & International Affairs, Government & Opposition und Review of International Studies.
Bildergalerie:
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend
Lübeckerstraße/Ecke Hansaallee
Gebäude "Normative Ordnungen", EG 01 und EG 02
Veranstalter:
Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen"