22. November 2013, 13:00 - 15:00 Uhr
Postdoc-Panel: Krise und Entstehung
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Das Verhältnis zwischen Krise und Entstehung normativer Ordnungen ist vielschichtig: So können Krisen etwa zeitlich vorangehen und Platz schaffen für die Herausbildung neuer Ordnungen; sie können aber auch unmittelbar neue Werte und Normen hervorbringen; und schließlich kann der die Herausbildung normativer Ordnungen begleitende Diskurs unter dem Paradigma stehen, krisenhafte Szenarien gar nicht erst aufkommen zu lassen. Dies sind nur einige der möglichen Zusammenhänge zwischen beiden Größen, die im vorliegenden Panel von Postdocs des Exzellenzclusters analysiert werden. Die Beiträge spiegeln die drei Forschungsfelder des Clusters wider und beleuchten das wechselseitige Verhältnis von Krise und Entstehung aus ökonomischer und philosophischer Sicht (Lisa Herzog), aus historischem Blickwinkel (Kerstin Weiand) sowie aus politik- und rechtswissenschaftlicher Perspektive (Matthias C. Kettemann).
Chair: Milan Kuhli
Milan Kuhli, geboren 1979, ist seit 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft (1. Staatsexamen 2003) und der Mittleren und Neueren Geschichte mit den Nebenfächern Politologie und Zivilrecht (Magister 2005) in Frankfurt am Main absolvierte er das juristische Referendariat (unter anderem am Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe), das er im Jahre 2008 mit dem 2. juristischen Staatsexamen abschloss. Kuhli wurde mit einer völkerstrafrechtlichen Arbeit zum Dr. jur. (2008) und mit einer historischen Arbeit zum Dr. phil. (2011) promoviert. Gegenwärtig arbeitet er an einem strafrechtswissenschaftlichen Habilitationsprojekt zum Thema „Normative Tatbestandsmerkmale in der strafrichterlichen Rechtsanwendung“. – Aktuelle Veröffentlichungen: Das VStGB und das Verbot der Strafbegründung durch Gewohnheitsrecht (Berlin: Duncker & Humblot 2010); Carl Gottlieb Svarez und das Verhältnis von Herrschaft und Recht im aufgeklärten Absolutismus (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2012); Kommentierung diverser §§, in: Matt/Renzikowski, StGB. Kommentar (München: Verlag Franz Vahlen 2013); Judicial Lawmaking, Discourse Theory, and the ICTY on Belligerent Reprisals (gemeinsam mit Klaus Günther), in: von Bogdandy/Venzke, International Judicial Lawmaking (Heidelberg et al.: Springer 2012), S. 365-385.
Vortrag 1:
Papsttum und Türkenfurcht. Die Osmanische Expansion als Mobilisierungs- und Dynamisierungsfaktor päpstlicher Politik
Kerstin Weiand
Die Auseinandersetzung der europäischen Mächte mit dem Osmanischen Reich ist zweifellos ein Schlüsselkonflikt der Epoche, der in der Wahrnehmung der Zeitgenossen eine besondere Stellung einnahm. Begründet liegt dies in der Dauer und Vehemenz dieses Konfliktes, der sich mit unterschiedlichen Konjunkturen vom 15. bis ins 19. Jahrhundert hinzog. Vor allem aber steht es im Zusammenhang mit seiner Deutung als existentieller Überlebenskampf des christlichen Europas gegen einen islamischen Orient. In der aktuellen Forschung haben Untersuchungen zum Osmanischen Reich Konjunktur. Trotz dieser Aufmerksamkeit ist die Frage, welche Auswirkungen diese Dauerkrise auf den Wertehaushalt der politischen Akteure und auf die sich daraus ergebenden Handlungsimperative hatte, bislang nicht untersucht worden. Wie veränderten sich Normgefüge und damit verbunden politische Handlungsräume unter dem Eindruck einer existentiellen Bedrohung? Diese Frage ist der Ausgangspunkt eines Forschungsprojekts, dessen Konzeptionierung im Zentrum des Vortrags stehen wird.
Kerstin Weiand ... ... studierte Geschichtswissenschaften und Klassische Philologie an der Philipps-Universität Marburg und an der Università degli studi in Florenz. Im Jahr 2012 wurde sie in Marburg mit einer Arbeit zur Entstehung und Etablierung normativer Leitbilder im England der Stuartzeit promoviert. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin war Kerstin Weiand an der Società Internazionale per lo Studio del Medievo Latino (SISMEL) in Florenz, an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie an der Philipps-Universität Marburg tätig. In den Jahren 2010 und 2011 war sie Forschungsstipendiatin am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Seit Oktober 2013 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Das Forschungsprojekt fragt mit Blick auf das römische Papsttum danach, wie sich Normgefüge unter dem Eindruck der als existentiell empfundenen Bedrohung durch die Osmanische Expansion in der Frühen Neuzeit veränderten und welche Auswirkungen dies auf die sich aus diesen Normgefügen ergebenden Handlungsimperative hatte.
Persönliches Vertrauen, Rechtsvertrauen, Systemvertrauen. Zur Natur von Krediten und den Ursachen der Finanzkrise
Lisa HerzogNicht zu wenig, sondern zu viel Vertrauen hat die Finanzkrise von 2008 ausgelöst - allerdings von Vertrauen einer speziellen Art. Dieser Vortrag analysiert verschiedene Formen von Vertrauen, ihre normativen Implikationen, und ihr Zusammenspiel im Vorlauf der Krise von 2008. Während persönliches Vertrauen offensichtlich durch implizite Normen, z.B. in Bezug auf epistemische Offenheit, geprägt ist, kann es durch Formalisierung und Legalisierung ersetzt werden durch Systemvertrauen, das von den persönlichen Charakteristika der Vertragsparteien weitgehend absieht. Dieses Systemvertrauen verband sich vor 2008 mit Marktvertrauen im Sinne des Sich-Verlassens auf die Urteilskraft des Marktes sowie Staatsvertrauen im Sinne der Hoffnung, dass ein vollständiger Zusammenbruch des Finanzsystems von den politischen Akteuren nicht zugelassen würde. Aufgrund der hierarchischen Struktur des Finanzsystems wurde in und nach der Krise jedoch das Vertrauen verschiedener Akteure unterschiedlich stark enttäuscht, wie die Forschung zu „law and finance“ zeigt. Aus dieser Analyse ergeben sich einerseits Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und andererseits Fragen danach, welche Formen von Vertrauen welche Bereiche von komplexen Gesellschaften strukturieren sollen.
Lisa Herzog, ...
... Jahrgang 1983, studierte Philosophie, Volkswirtschaftslehre, Politologie und Neuere Geschichte in München und Oxford. Von 2008-2011 promovierte sie als Rhodes Scholar an der Universität Oxford („Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory“, Oxford University Press, 2013). Nach Stationen an den Universitäten TU München, St. Gallen und KU Leuven ist sie seit April 2011 Postdoc am Institut für Sozialforschung und am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ im Projekt „Normative Akteure am Finanzmarkt“. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Philosophie und Ökonomie, derzeit mit besonderen Schwerpunkten auf dem Verhältnis von moralischen Individuen und Institutionen und Ethik am Finanzmarkt. Demnächst erscheinen von ihr „Der Wert des Marktes“ (Hg. mit Axel Honneth, Suhrkamp) und „Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus“ (Beck).
Die normative Ordnung des Internets. Probleme, Potenzial und Perspektiven der Internet Governance
Matthias KettemannDas Internet ist kein rechtsfreier Raum: Doch wer schützt E-Mails deutscher Staatsbürger vor US-Geheimdiensten oder internationalen Unternehmen? Wer garantiert die Stabilität, Integrität und Funktionalität des Internets? Und was kann das Völkerrecht angesichts konfligierender Rechtsordnungen und divergierender Machtverhältnisse leisten? Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen des Internets fokussieren das Interesse der Staaten der Welt auf dessen Regulierung und wecken normative Begehrlichkeiten. Vor dieser Folie zeige ich die Grundlagen für die Herausbildung der normativen Ordnung des Internets und dessen Implikationen auf. Zunächst widme ich mich der normativen Ordnung des Internets und untersuche die normativen Grundlagen und ihre Prinzipien und Prozesse. Sodann lege ich die Grundlage für eine Legitimation der normativen Ordnung des Internets und analysiere Rechtfertigungsnarrative und Rechtfertigungsansprüche. Im abschließenden rechtspolitischen Teil schließt sich die Reflexionsschleife mit Untersuchungen zu Perspektiven der Institutionalisierung der Internet Governance und deren Implikationen für andere normative Ordnungen.
Matthias C. Kettemann, ...... Jahrgang 1983, studierte Rechtswissenschaften in Graz und Genf und war Fulbright und Boas Scholar an der Harvard Law School (LL.M. 2010). 2012 promovierte er an der Karl-Franzens-Universität Graz mit einer Arbeit zur Zukunft des Individuums im Völkerrecht. 2006 bis 2013 war er Universitätsassistent und Lektor am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Graz. Seit Oktober 2013 forscht er als Post-Doc Fellow am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er sich zur normativen Ordnung des Internets habilitiert. Er ist Co-Chair der Internet Rights and Principles Coalition, hat für den Europarat, das Europäische Parlament und das Internet & Society Co:llaboratory geforscht und publiziert regelmäßig zu Rechtsfragen des Internets. 2013 erschien von ihm The Future of Individuals in International Law (Utrecht) und als (Mit-)Herausgeber European Yearbook on Human Rights 2013 (Wien), Grenzen im Völkerrecht (Wien) und Netzpolitik in Österreich. Internet. Macht. Menschenrechte (Wien).
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