Panel III: Ungleichheiten in Europa
"Europas Gerechtigkeit" - Achte Internationale Jahreskonferenz des Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen"
Freitag, 20. November 2015, 10.00 bis 12.00 Uhr
Die Erforschung von Ungleichheit gehört zum institutionalisierten Korpus der sozialwissenschaftlichen und historischen Wissenschaften und bildet die Grundlage von handlungsorientierten Theorien, die auf ihre Beseitigung zielen. Das betrifft sowohl soziale und ökonomische Ungleichheiten wie solche, die in den Kategorien Geschlecht, Hautfarbe, Kultur, Herkunft, Religion oder sexuelle Orientierung gefasst werden. Gemeinsam ist den Forschungsansätzen die Konstruktion von Gruppen, die durch asymmetrische gesellschaftliche Strukturen benachteiligt werden. Der Analyse von außen steht dabei die Selbstwahrnehmung der diskriminierten Subjekte und ihre mögliche, keineswegs aber zwangsläufige Selbstverortung in einer oder mehreren definierten Gruppen gegenüber. Die Fokussierung auf Mehrfachdiskriminierungen wird seit Ende der 1980er Jahre von feministischen und postkolonialen Wissenschaftler/innen im Rahmen der Intersektionalitätstheorie vorangetrieben. Das Panel befasst sich in diachroner Perspektive mit normativen Dimensionen von Ungleichheit in Europa und umfasst dabei eine Zeitspanne von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Die Referent/innen gehen der Frage nach, unter welchen historischen Bedingungen sich Ungleichheiten verschärfen und welche Voraussetzungen notwendig sind, um Entwicklungen in Richtung Gleichheit voranzutreiben. Sie behandeln Konfliktpotentiale von Ungleichheit, diskutieren aber auch mögliche konfliktreduzierende Momente. Grundsätzlich wird erörtert, was in unterschiedlichen Kontexten unter Gleichheit oder Ungleichheit verstanden wird und in welchem Verhältnis Gleichheit und Gerechtigkeit unter Berücksichtigung ihrer sozialen, ökonomischen, rechtlichen, politischen und religiösen Besonderheiten stehen.
Chair: Dr. Dominik Müller (Post-Doktorand am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“)
CV
Dominik Müller ist Post-Doktorand am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Er studierte Ethnologie, Philosophie und Rechtswissenschaft in Frankfurt und Leiden (2003-2008) und promovierte als Stipendiat des Exzellenzclusters in Frankfurt (2008-2012). Seine ethnologische Dissertation zur Entstehung des „Pop-Islamismus“ in Malaysia wurde 2012 mit dem Forschungsförderungspreis der Frobenius-Gesellschaft ausgezeichnet. Er war DAAD Post-Doc Stipendiat an der Stanford University (2013), Gastwissenschaftler an der University of Brunei Darussalam (2014), und Visiting Senior Member am St Antony’s College, University of Oxford (2015). Er ist Mitbegründer des dem Exzellenzcluster zugehörigen Frankfurter Forschungsinstituts Globaler Islam (FFGI). Sein gegenwärtiges Forschungsprojekt befasst sich mit dem Verhältnis zwischen der staatlichen Bürokratisierung des Islam und kulturellen Veränderungsprozessen im Sultanat von Brunei Darussalam. Ausgewählte Publikationen: Islam, Politics and Youth in Malaysia: The Pop-Islamist Reinvention of PAS (Routledge, 2014); Islamic Politics and Popular Culture in Malaysia: Negotiating normative change between shariah Law and electric guitars (Indonesia and the Malay World, 2015); Sharia Law and the Politics of Faith Control in Brunei Darussalam: Dynamics of socio-legal change in a Southeast Asian Sultanate (International Quarterly for Asian Studies, 2015); Islamic Law and the ASEAN Human Rights Declaration: Paradox normativities in Brunei Darussalam and Malaysia (Asian Survey, 2016 im Erscheinen).
Vortrag 1
Prof. Dr. Hartmut Kaelble
Warum milderte sich die soziale Ungleichheit im westlichen Europa während des 20. Jahrhunderts ab?
Abstract
Angesichts der heutigen Verschärfung der sozialen Ungleichheit erinnert man sich kaum noch an die lange Periode der Abmilderung soziale Ungleichheit im vergangenen 20. Jahrhundert. Vor allem für Vermögen und Einkommen ist das belegt worden, zuletzt von Thomas Piketty in seinem international äußerst erfolgreichen Buch. Warum die soziale Ungleichheit damals etwas zurückging, ist umstritten und von hoher Aktualität. Einige Experten sehen die Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise als entscheidenden Auslöser, für andere waren die damalige Politik und wirtschaftliche Veränderungen jener Zeit ausschlaggebend. Der Vortrag setzt sich mit dieser Debatte auseinander und schlägt eine eigene Interpretation vor.
CV
Hartmut Kaelble geb. 1940, 1971-1991 Prof. für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Freien Universität Berlin, 1991-2008 Prof. für Sozialgeschichte an der Humboldt Universität Berlin. 2004-2009 Professor am Europakolleg Brügge. 2004-2007 Sprecher des SFB 614. 1998-2009 Mitdirektor des Zentrums (später Berliner Kolleg) für vergleichende Geschichte Europas. Forschungsgebiet: Vergleichende Sozialgeschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert, derzeit vor allem Geschichte des Wohlfahrtsstaats, der sozialen Ungleichheit, der Geschichte der europäischen Integration. Wichtigste jüngere Publikationen: Der historische Vergleich (1999) (auch chines.); Wege zur Demokratie (2001) (auch französ., span.); Sozialgeschichte Europas (2007) (auch japan., engl., poln., französ.); Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945-1989 (2011) (auch japan.)
Vortrag 2
Prof. Dr. Susanne Schröter (Professorin für Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Direktorin des Instituts für Ethnologie, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums globaler Islam (FFGI))
Gerechtigkeit in der Einwanderungsgesellschaft
Abstract
„Gerechtigkeit für die Muslime“ lautete die Überschrift eines 2006 in der Zeitschrift „DIE ZEIT“ veröffentlichten Manifests. Die Schrift war die Antwort einer Reihe von Migrationsforscher/innen auf eine Publikation der türkischstämmigen Soziologin Necla Kelek, die muslimische Frauen als besonders unterdrückt und den Islam als frauenfeindliche Religion bezeichnet hatte. In der Kontroverse kamen zwei unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen zum Tragen. Während die Forscher/innen Gerechtigkeit als vorurteilsfreie Anerkennung der muslimischen Minderheit unter Verzicht auf pejorative Zuschreibungen defi nierten, rekurrierte Kelek auf das Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit, das, ihrer Ansicht nach, von muslimischen Communities konsequent negiert werde. Die Kontroverse, die in ähnlicher Form auch in anderen europäischen Staaten geführt wird, fokussiert die Problematik des Gelingens pluralistischer Gesellschaften auf die Auseinandersetzung mit Einwanderern muslimischen Glaubens. Während die einen Islamophobie und muslimfeindlichen Rassismus als größtes Hindernis gerechter demokratischer Gesellschaften sehen, sind andere der Ansicht, der Islam ziele auf die Etablierung einer ungerechten Ordnung, in der Frauen, Homosexuelle und Nichtmuslime zu Menschen zweiter Klasse degradiert werden.
CV
Susanne Schröter ist Professorin für Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Direktorin des Instituts für Ethnologie, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums globaler Islam (FFGI), welches sie 2014 gegründet hat, Principal Investigator im Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, Direktorin im Cornelia Goethe Centrum für Geschlechterforschung und Vorstandsmitglied des Deutschen Orient-Instituts. Von 2004-2008 war sie Inhaberin des Lehrstuhls für Südostasienkunde an der Universität Passau. Zwischen 2000 und 2004 lehrte sie als Gastprofessorin an der Yale University, den Universitäten Mainz, Frankfurt und Trier und forschte als Fellow an der University of Chicago. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Islamische Feminismus und Frauenbewegungen in der islamischen Welt, Konstruktionen von Gender und Sexualität, islamischer Extremismus und Terrorismus, progressiver Islam, Säkularismus und Religion, Flüchtlinge und Integration sowie politische, religiöse und ethnische Konflikte. Zu ihren kürzlich erschienen Publikationen zählen unter Ihrer Herausgeberschaft Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt (Bielefeld 2013: Transcript) sowie Gender and Islam in Southeast Asia. Negotiating women’s rights, Islamic piety and sexual orders (Leiden 2013: Brill).
Vortrag 3
Dr. Kerstin Weiand (Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“)
Ungleichheit als politisch-sozialer Sprengstoff? Zur (Un)ordnungsfunktion eines Strukturprinzips in der Frühen Neuzeit
Abstract
Die Erhebung von ‚Gleichheit‘ zum Grundprinzip rechtlicher Ordnung und zur Voraussetzung für gesellschaftliche und politische Stabilität und Integration ist eine verhältnismäßig junge, möglicherweise kulturell begrenzte Entwicklung. Die Erfahrungs- und Wahrnehmungswelt des Europäers in der Frühen Neuzeit dagegen war geprägt von ‚Ungleichheit‘ oder, besser, von ‚Ungleichheiten‘ im Plural, die das soziale, politische, rechtliche und religiöse Leben bestimmten. Ungleichheit war damit das bestimmende Strukturprinzip der gesellschaftlichen und politischen Ordnung in ihrer ständischen, korporativen und hierarchischen Verfasstheit. Der Vortrag beleuchtet dieses frühneuzeitliche Strukturprinzip näher und fragt nach seinen politischen und sozialen Implikationen: Inwiefern wirkte Ungleichheit destabilisierend auf die politische Ordnung, schürte bzw. verschärfte Konfl ikte? Konnte sie auf der anderen Seite möglicherweise auch eine stabilisierende, Konflikt entschärfende Wirkung entfalten? Diesen Fragen soll mit Blick auf das entstehende europäische Mächtesystem sowie mit Blick auf die Aufnahme und Integration von Glaubensflüchtlingen nachgegangen werden. So lassen sich Hinweise darauf finden, dass gerade die „Ungleichheit“ von Staaten vor der Durchsetzung des völkerrechtlichen Prinzips souveräner, gleichrangiger Staaten massiv zu der Verdichtung kriegerischer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert beitrug. Auf einer ganz anderen Aktionsebene freilich führten nicht hinterfragte gesellschaftliche und rechtliche „Ungleichheiten“ offensichtlich dazu, dass die Ansiedlung fremder und zudem häufig rechtlich privilegierter Migrantengruppen weniger konflikthaft verlief, als dies von der Forschung lange Zeit angenommen wurde.
CV
Kerstin Weiand studierte Geschichtswissenschaften und Klassische Philologie an der Philipps-Universität Marburg und an der Università degli studi in Florenz. Im Jahr 2012 wurde sie in Marburg mit einer Arbeit zur Entstehung und Etablierung normativer Leitbilder im England der Stuartzeit promoviert. Für die Arbeit wurde sie 2013 mit dem Promotionspreis der Universität Marburg ausgezeichnet. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin war Kerstin Weiand an der Società Internazionale per lo Studio del Medievo Latino (SISMEL) in Florenz, an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie an der Philipps-Universität Marburg tätig. In den Jahren 2010 und 2011 war sie Forschungsstipendiatin am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Seit Oktober 2013 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Ihr aktuelles Forschungsprojekt fragt mit Blick auf das römische Papsttum danach, wie sich Normgefüge unter dem Eindruck der als existentiell empfundenen Bedrohung durch die Osmanische Expansion in der Frühen Neuzeit veränderten und welche Auswirkungen dies auf die sich aus diesen Normgefügen ergebenden Handlungsimperative hatte.
Audio:
Bildergalerie:
Zum Panelbericht von Dr. Doris Decker: Hier...
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend
Max-Horkheimer-Str. 2
Gebäude "Normative Ordnungen", EG 01 und EG 02
Veranstalter:
Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen"