Projektleitung: Prof. Dr. Thomas M. Schmidt und Prof. Dr. Marcus Willaschek
Dieses Projekt untersuchte den Begriff der Normativität und insbesondere die Frage, worin genau der Unterschied zwischen verschiedenen Normtypen (wie Standards, Idealnormen, instrumentellen oder konstitutiven Normen, moralischen vs. juridischen Normen) besteht. Geprüft werden sollte, ob der Begriff der Normativität letztlich in mehrere, kaum miteinander verbundene Begriffe zerfällt, oder ob sich trotz verschiedener Verwendungsweisen doch eine Art Kernbedeutung finden lässt, an die sich ein theoretisch aufschlussreiches Kontinuum von Verwendungsweisen anschließen lässt. Ausgangspunkt der Untersuchung stellten die einflussreichen Normtypologien Henrik v. Wrights und Herbert Schnädelbachs dar, deren Tauglichkeit für den aktuellen Diskurs über Normativität kritisch geprüft wurde. Die systematische Kernthese des Projekts besagt, dass eine detaillierte Beschreibung von Praktiken, in denen wir einander kritisieren, entscheidende Aufschlüsse über die Art von Normativität diverser Normen gibt – und dadurch auch über zu unterscheidende Typen von Normen.
Die Ergebnisse dieses Projekts sind in zwei Manuskripten zusammengefasst. Beide Texte wurden als Cluster-Working-Paper zugänglich gemacht. Im ersten Text (O. Schütze: „Normativität. Eine begriffliche Untersuchung“) werden verschiedene Normtypologien kritisch diskutiert und deren Defizite aufgezeigt. Im Anschluss daran wird die Bedeutung des Begriffs der Normativität im Kontext sowohl der theoretischen als auch der praktischen Philosophie dargestellt und dessen genaue Funktion in beiden Bereichen analysiert. Dieser Text kann zugleich als synoptische Einführung in die aktuelle philosophische Diskussion über den Begriff der Normativität gelten. Die spezifische methodologische Herausforderung bestand dabei darin, einen Begriff zu analysieren, bei dem es sich auf der einen Seite um ein theoretisches Konzept handelt, das keine alltagssprachlich festgelegte Bedeutung hat, das aber auf der anderen Seite gegenwärtig in vielen, mitunter nur lose verknüpften Debatten eine prominente Rolle spielt und dort in der Regel nicht Gegenstand definitorischer oder explikatorischer Bemühungen ist. Bei der Bestimmung des Normativitätsbegriffs mussten dementsprechend verschiedenste Verwendungsweisen in philosophischen Kontexten herausgearbeitet und unterschieden werden.
Anfangspunkt der Untersuchung bildete dabei eine Typologie von Normen: sie soll einen Eindruck über die Bandbreite möglicher Charakteristika von Normativität liefern und bereits wichtige Unterscheidungen einführen. Im nächsten Schritt wurden die Verwendungsweisen des Normativitätsbegriffs im Kontext theoretischer Philosophie expliziert. Es stellte sich heraus, dass zwei unterschiedlich voraussetzungsreiche Konzeptionen im Spiel sind. Einer ersten Auffassung zu Folge bedeutet die Zuschreibung von Normativität an x, dass x Standards der Korrektheit voraussetzt, die bestimmen, unter welchen Umständen etwas als korrekt oder inkorrekt gilt. Der zweiten Konzeption zu Folge besagt die Zuschreibung von Normativität an x, dass x Standards der Korrektheit voraussetzt, die bestimmen, unter welchen Umständen etwas als korrekt oder inkorrekt gilt und dass an diese Unterscheidung ein handlungsleitender Anspruch geknüpft ist, d.h. dass das Korrekte als das bestimmt wird, was getan werden soll. Letztere Konzeption konnte dann unter Rückgriff auf die bereits herausgearbeitete Unterscheidung zwischen instrumentellen und kategorischen Normen weiter differenziert werden, so dass das Sollen sich einmal im Sinn einer instrumentellen Norm und einmal im Sinn einer kategorischen verstehen lässt.
Im Bereich der praktischen Philosophie konnte mit Blick auf den Normativitätsbegriff zunächst eine breite Einigkeit dahingehend festgestellt werden, dass der Begriff des Grundes zu dessen engsten Erläuterungszirkel gehört. Dieser Hinweis kann jedoch nicht zufriedenstellen, da sich das Bedürfnis nach begrifflicher Klärung durch die Frage reaktualisiert, was wir unter der Normativität von Gründen verstehen sollen. Christine Korsgaards einflussreichem Vorschlag in „The Sources of Normativity“ zufolge besteht sie in der Art, wie uns Gründe leiten. Diese Metapher buchstabiert Korsgaard dann auf eine Weise aus, die es ermöglicht unser Nachdenken über Normativität etwas anschaulicher zu gestalten: Indem sie den Begriff der Normativität an die Fähigkeit bindet, praktische Probleme zu lösen, die sich aus der Binnenperspektive Handelnder stellen, konkretisiert sich der Gegenstand ihrer Untersuchung in der Bestimmung der Natur dieser Probleme und ihrer Lösung. Die Strategie für die weitere Untersuchung bestand darin, an dieser Kernidee festzuhalten, aber sich zugleich mit Hilfe anderer Autoren kritisch mit Korsgaards konkreter Ausführung auseinanderzusetzen. Dies geschah in der systematischen Absicht aufzuzeigen, an welchen Punkten ihre Darstellung nicht ohne plausible Alternativen ist, um die Stellschrauben ausfindig zu machen, mit denen wir uns auf unterschiedliche Bedeutungen oder Konzeptionen von Normativität einstellen können. Damit konnte genauer spezifiziert werden, wie sich die sehr umfangreiche Debatte um praktische Gründe auf die Frage nach dem Verständnis von Normativität beziehen lässt. Im weiteren Verlauf des Projekts wurden diese Bezüge detaillierter herausgearbeitet.
Das Dissertationsprojekt wurde im Anschluss an die Clusterlaufzeit fortgesetzt und erfolgreich beendet. Die daraus hervorgehende Monografie „Perspektive und Lebensform. Zur Natur von Normativität, Sprache und Geist“ wird bei Suhrkamp erscheinen.
Der zweite Text (G. Reuter,„Konstitutive Regeln - normativ oder nicht? Ein Blick auf ihre Rolle in Praktiken“, 2011“) geht der Frage nach, ob und inwiefern konstitutive Regeln (wie zum Beispiel Spielregeln) normativ sind. Dabei werden verschiedene Typen konstitutiver Regeln unterschieden, von denen einige auch als normative Phänomene charakterisierbar sind. Das wird ersichtlich, wenn man die Rolle dieser Regeln in den durch sie konstituierten Praktiken betrachtet – insbesondere die Art und Weise, wie sich Akteure unter Berufung auf diese Regeln kritisieren, ohne sich dabei bereits als verpflichtet behandeln, diese Regeln zu befolgen.
Ebenfalls diesem Projekt zuzurechnen sind die drei Teilprojekte von Marcus Willaschek zum Begriff der Normativität. Erstens hat er in Anknüpfung an eigene frühere Arbeiten anhand von Kants These vom analytischen Zusammenhang zwischen Recht und Zwang die spezifische Normativität rechtlicher im Unterschied zu moralischen Regeln herausgearbeitet. Zweitens hat er, ebenfalls ausgehend von Kant, für die These der „normativen Autonomie“ argumentiert, wonach für ein Handlungssubjekt nur solche Regeln normativ bindend sind, die es rationalerweise als gültig akzeptieren kann. Und drittens schließlich hat er eine pragmatistische Konzeption rationaler Rechtfertigung entwickelt und in philosophischen Kontexten fruchtbar gemacht. (Pragmatistisch in weitesten Sinn, weil sich auch Kants These vom Primat der praktischen Vernunft dieser Auffassung zurechnen lässt.) Die Kernthese dieses Ansatzes lautet, dass es häufig der unproblematische normative Ausgangszustand einer Handlung oder einer Einstellung ist, derentwegen sie als vernünftig, begründet oder gerechtfertigt gilt. Explizite Rechtfertigungen oder Begründungen sind nur dort erforderlich (und überhaupt nur sinnvoll), wo spezifische Zweifel oder Einwände erhoben werden („Default-and-Challenge“). Wenn man mit Joseph Raz normative Erwägungen darüber definiert, dass sie uns Gründe für oder gegen etwas geben, dann wird deutlich, dass die Default-and-Challenge-Konzeption von rationaler Rechtfertigung ein wesentlicher Bestandteil einer Theorie der Normativität ist. Diese Konzeption hat Willaschek zum einen im Ausgang von Kants Kritik an einer „absolutistischen“ Konzeption von Vernunft und Kants These vom Primat der praktischen Vernunft her zu motivieren versucht, zum anderen im Bereich der Erkenntnistheorie und der Handlungstheorie („Willensfreiheit“) zur Anwendung gebracht.
Die Beiträge der oben beschriebenen Projekte bestehen im Wesentlichen darin, die grundlegenden Begriffe zu klären (hier vor allem den Begriff der Normativität), mit deren Hilfe normative Phänomene möglichst differenziert und umfassend beschrieben werden können. Insofern liefert die hier geleistete Arbeit einen Beitrag zum konzeptionellen Fundament für die Diskussion der im Cluster verwendeten Begriffe.
Im Teilprojekt „Normativität und Rationalität“, dem zweiten Schwerpunkt des Projekts „Normtypen und Stufen normativer Praktiken“, wurde an die begrifflichen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Normtypen angeknüpft; sie wurden in einem nächsten Schritt zentral auf den Begriff der Rationalität bezogen. Hierbei war die Intuition leitend, dass der Bezug auf die in der analytischen Philosophie erörterten Probleme einer Epistemologie religiöser Überzeugungen einen instruktiven und paradigmatischen Fall für das Gesamtprojekt bietet, weil hier normative und epistemische Dimensionen der Rationalität intern miteinander verknüpft sind.
Im Rahmen dieses Teilprojekts hat Fedja Koob eine Dissertation verfasst, die sich mit den gängigen Begründungsstrategien für religiöse Überzeugungen auseinandersetzt („Religion und Vernunft. Die Rationalität religiöser Überzeugungen vor dem Hintergrund des Naturalismus“, Hamburg, 2015). Der Fokus der Arbeit lag im konstruktiven Bereich auf der Aufarbeitung eines Rationalitätsbegriffs, der sich durch den Begriff der Begründung erläutern lässt. Religionsphilosophie, als Versuch eines vernünftigen Begreifens der Religion, hat in den letzten Jahren zunehmend den Charakter einer Epistemologie religiöser Überzeugungen angenommen. Diese Perspektive versteht und behandelt die Frage nach der Rationalität dieser Überzeugungen als Frage nach den Kriterien und Bedingungen ihrer Rechtfertigung. Auf diese Weise sind epistemologische Fragen intern mit Fragen der normativen Geltung von Handlungen, Aussagen und Einstellungen verbunden.
Die Untersuchung ging von der Einschätzung aus, dass der wachsende Einfluss naturalistischer Strömungen in der gegenwärtigen Philosophie, namentlich in der Philosophie des Geistes, aber eben auch auf dem Feld der Rationalitäts- und Erkenntnistheorie eine fundamentale Herausforderung für das Projekt einer epistemischen Rechtfertigung von Überzeugungen darstellt. Der Hauptteil dieser Arbeit begann mit einer Übersicht zu den begründungstheoretischen Grundtypen, mit denen in der Religionsphilosophie in den letzten Jahrzehnten der Forderung einer rationalen Rechtfertigung religiöser Überzeugungen begegnet wurde. Dabei standen zunächst Strategien einer non-kognitivistischen Deutung religiösen Glaubens im Vordergrund. Dies bot die kontrastierende Gelegenheit, in einem nächsten Schritt die wichtigsten kognitivistischen Strategien der Gegenwart vorzustellen. Diese wurden gemäß einer inzwischen standardmäßigen Klassifizierung in Varianten eines epistemologischen Fundamentalismus und eines Kohärentismus unterschieden. Die Darstellung der fundamentalistischen und kohärentistischen Positionen wurden dann durch eigenständige wissenschaftstheoretische Reflexionen vertieft; die Position eines gemäßigten epistemologischen Fundamentalismus wurde als vermittelnde Instanz eingeführt und begründet.
Der zweite Teil der Studie konzentrierte sich auf die durch den Naturalismus provozierte Frage, wie weit diese philosophische Auffassung eine Herausforderung für das bislang erörterte Projekt einer epistemischen Rechtfertigung religiöser Überzeugungen darstellt. In einem ersten Schritt wurden mit Bezug auf die Arbeiten von Koppelberg und Kornblith Varianten eines methodologischen Naturalismus vorgestellt und diskutiert. Die noch stärkere Herausforderung eines ontologischen Naturalismus wurde dann im Folgenden mit einer ausführlichen Diskussion der Position von Jaegwon Kim thematisiert.
Im Anschluss wurde dann ein eigenständiger systematischer Lösungsvorschlag des Problems artikuliert, der den holistischen und integrativen Charakter religiöser Überzeugungen ins Zentrum rückt. Daraus ergab sich, dass die Rationalität solch umfassender Weltanschauungen nicht in der gleichen Weise gerechtfertigt werden kann wie einzelne Überzeugungen, die sich in Form diskreter assertorischer Sätze verstehen lassen. Mit diesem Hinweis auf die orientierende, ganzheitliche und lebensweltliche Funktion religiöser Überzeugungen wurde der argumentative Boden bereitet für eine Position, die Prinzipien epistemischer Normativität mit jenen Grundbegriffen praktischer Vernunft verknüpft wie sie eher aus moralphilosophischen Kontexten bekannt sind. Daher bietet sich der Rückgriff auf die Tugenderkenntnistheorie an, wie sie namentlich von Linda Zagzebski vertreten wird. Die Stärke dieser Position wird darin gesehen, dass sie den Prinzipien der Universalität, Kontextsensitivität und der Kohärenzanforderung Rechnung tragen kann. Auf diese Weise wurde überzeugend dargelegt, wie die Tugenderkenntnistheorie auch angesichts der naturalistischen Herausforderung eine begründete und normativ verstandene Theorie epistemischer Rechtfertigung bietet, die auch auf den Gegenstand religiöser Überzeugungen angemessen bezogen werden kann.
Religiöse Überzeugungen dienten im Kontext dieses Teilprojekts als paradigmatischer Fall für Kriterien der Normativität, die epistemische und praktische Rationalität vermitteln können. Religiöse Überzeugungen zeichnen sich nämlich in rationalitätstheoretischer Hinsicht durch einen ambivalenten Charakter aus, da sie einerseits prinzipiell universale Geltungsansprüche erheben, dies aber aus der Perspektive einer partikularen, narrativ reproduzierten Überlieferungsgemeinschaft tun. Aus dieser epistemologischen Debatte konnten auch für andere Kontexte, in denen das Verhältnis von theoretischer und praktischer Rationalität, von lebensweltlicher Gewissheit und allgemeiner Normgeltung im Fokus stehen, weiterführende Einsichten gewonnen werden.
Zu den wichtigsten Publikationen im Forschungsprojekt zählten Oliver Schütze: „Naturalismus und Normativität“. In: Alexander Becker/ Wolfgang Detel (Hg.): „Natürlicher Geist. Beiträge zu einer undogmatischen Anthropologie.“ Berlin: Akademie Verlag 2009, 165-188; Thomas M. Schmidt/ Tobias Müller (Hg.): „Ich denke also bin ich Ich? Das Selbst zwischen Neurobiologie, Philosophie und Religion“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011; Marcus Willaschek, „Contextualism about Knowledge and Justification by Default“, in Grazer Philosophische Studien 74 (2007), 251-272; ders. „Inkompatibilismus und die absolutistische Konzeption von Vernunft“, in Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 115 (2008), 397-417; ders. “Right and Coercion. Can Kant’s Conception of Right be Derived from his Moral Theory?”, in International Journal of Philosophical Studies 17 (2008), 49-70; ders., “The Primacy of Pure Practical Reason and the Very Idea of a Postulate“, in Kant’s Critique of Practical Reason. A Critical Guide, hg. von A. Reath und J. Timmermann, Cambridge 2010, 168-196; ders. “Autonomy, Experience, and Reflection. On a Neglected Aspect of Personal Autonomy” (mit Claudia Blöser und Aron Schöpf), in Ethical Theory and Moral Practice 13 (2010), 239-253, ders. “Non-Relativist Contextualism about Free Will“, in European Journal of Philosophy 18 (2010), 567-587.
Die wichtigsten Veranstaltungen im Forschungsprojekt waren die Workshops „Probleme des Reduktionismus“, Bad Homburg, 10.11.12.2010, „Responsibility and the Narrative Structure of Life“, Vortrag und Workshop mit J. M. Fischer (UC Riverside), 27.6.2009 und „Legislation as the Form of Practical Knowledge“, Vortrag und Workshop mit S. Engstrom, 30.6.2010.