Projektleitung: Prof. Dr. Rainer Maria Kiesow

Das Projekt richtete sein zentrales Erkenntnisinteresse auf die Ambivalenz und paradoxale Gestalt des Gerechtigkeitsbegriffs in der Moderne, trat – abseits des wissenschaftlichen und politischen Mainstreams zum Thema – der vermeintlichen Unfehlbarkeit von Gerechtigkeit als supernormativer Ordnung kritisch entgegen und rückte stattdessen ganz explizit ihre „dunkle Seite“, ihre „Abgründe“ und die Prekarität des Herausbildungsprozesses ins Zentrum. Geleitet von der Grundskepsis, dass ein globaler „superprogrammatischer“ Gerechtigkeitsdiskurs, ein allseeligmachendes Konstrukt normativer Hyperordnung, diktatoriale Züge entfalten könne, wurden die normative Substanz, eigentlichen Motive und praktischen Konsequenzen von Gerechtigkeit als Rechtfertigungsgröße misstrauisch ausgelotet.

Der Vorbehalt gegen Gerechtigkeit als Universalrechtfertigung wurde im Wesentlichen durch zwei augenfällig widersprüchliche Gleichzeitigkeiten und Unvereinbarkeiten getragen: (I) Zum einen erlebt Gerechtigkeit im Zuge der aktuellen Entwicklung rund um Letztbegründungen und -verfügungen eine Renaissance; kaum ein Bereich – gerade kein politischer –, der nicht in irgendeiner Form den Anspruch auf gerechte Verhältnisse erheben würde. Zugleich aber hat die Gerechtigkeit in der Moderne ihren originären Stellenwert verloren: sie wurde dekonstruiert, destruiert und entmystifiziert, so dass in der modernen Soziologie, Politikwissenschaft und Rechtstheorie Einigkeit darüber besteht, dass das positive Recht, also die jederzeitige, formale Änderungsmöglichkeit des Rechts einer Gesellschaft, der Gerechtigkeit keinen Ort mehr zuweist, sondern die Formel „Gerechtigkeit“ allenfalls als Symbol oder regulative Idee zitiert. Folglich rekurriert der politische Diskurs auf eine Substanz, deren „Nichtsubstanz“ wissenschaftlicher Allgemeinplatz ist.

Zudem offenbart sich (II) ein Nebeneinander von Universalismusanspruch und Fragmentierung von Gerechtigkeit: einerseits gilt sie als Ziel, das weltweit verwirklicht werden soll, so dass die alte Frage des römischen Rechts nach dem Gerechten und Billigen, der Gleichheit und der Zuteilung – das „Suum cuique!“, Jedem das seine! – mit großen Schritten wieder in unsere bürokratischen Diskussionen einbricht und mit dem Anspruch auf Richtigkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der sozialen Ordnung einen Generalmaßstab für die Kernfrage der Normativität – dem, was man machen kann und soll – anlegt. Andererseits existieren parallel zum Anspruch der monopolisierten Universalantwort individuelle Gerechtigkeitsvorstellungen, nach denen jeder Einzelne darüber entscheidet was als (un-)gerecht gilt, und die den Gerechtigkeitsdiskurs zwangsläufig fragmentarisch, lokal und zersplittert werden lassen. Gerechtigkeit avanciert so zum partikularen Rechtfertigungsnarrativ, das für alle Ansätze gleichzeitig und in gleichem Maße einen Universalismusanspruch erhebt. Dass dieser Anspruch angesichts der Vielzahl und Verschiedenheit der Gerechtigkeitsvorstellungen nicht erfüllt werden kann, liegt auf der Hand. Entsprechend präsentiert sich Gerechtigkeit als „normative Black Box“, in die alles und nichts hineingelegt und -gelesen werden kann, ohne dass eine gemeinsame Basis bestünde.

Vor dieser Folie galt es zu hinterfragen, inwiefern Politik von der Unbestimmtheit der Gerechtigkeit Gebrauch macht und sie zur Rechtfertigung politischer Partikularziele instrumentalisiert – Gerechtigkeit selbst zu einer rhetorischen Waffe hat werden lassen. Und auch das Postulat, Gerechtigkeit fungiere als ein Hauptziel bei der Herausbildung normativer Ordnungen, wurde, ebenso wie mögliche Erklärungsansätze für die gegenwärtige Konjunktur der Gerechtigkeit, neu bewertet und diskutiert.
Ausgehend von der methodischen Grundentscheidung, Gerechtigkeit nicht abstrakt, sondern über ihre Erscheinungsformen zu bestimmen, wurden Gerechtigkeitsnarrative unter der Fragestellung analysiert, von wem sie wann, wo und vor allem wie und mit welchen Implikationen platziert werden. Beide Teilprojekte „Das Bild der Gerechtigkeit in Literatur und Recht“ (Rainer Maria Kiesow) und „Die normative Balance des Rechtsstaatsprinzips“ (Ulrike Meyer) hatten sich zum Ziel gesetzt, diese Fragen auf breiter Basis zu behandeln und durch die Verbindung von rechtshistorischen, rechtstheoretischen, rechtsphilosophischen und staatstheoretischen Elementen einen möglichst differenzierten Blick auf die Ausbildung normativer Ordnungen zu liefern.

Das erste der beiden Teilprojekte führte zu Publikationen von Rainer Maria Kiesow über „Die andere Seite der Gerechtigkeit“. Reflektiert wurden schwarze Gerechtigkeitsbilder der Juristen Balzac, Melville, Kafka, Georg Heym und anderer. Die Analyse literarischer Zeugnisse zur dunklen Seite der Gerechtigkeit, also etwa Honoré de Balzac, „L’Auberge rouge“ („Die rote Herberge“), Louis Aragon, „Le droit romain n’est plus“ („Das römische Recht ist nicht mehr“), Heinrich von Kleist, „Der Zweikampf“, Franz Kafka und Jean Genet, ist in eine Monographien eingegangen : Rainer Maria Kiesow, L’unité du droit, Paris, Cas de figure, Editions de l’Ecole des hautes études en sciences sociales, 2014 und Rainer Maria Kiesow, La Justicia y otros cuentos, Granada, Editorial Comares (i.E.).
Außerdem erschien eine größere Arbeit über die 150-jährige Geschichte des Deutschen Juristentages (Rainer Maria Kiesow „Die Tage der Juristen. Ein Charakterbild 1860-2010.“ München: Beck 2010), in der die Frage der Gerechtigkeit, der juristischen Einrichtung einer gerechten Gesellschaft, im Zentrum stand.

Das zweite Teilprojekt über Gerechtigkeit im Rechtsstaat wurde von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Ulrike Meyer im Rahmen ihrer Dissertation „Die normative Balance der Rechtsstaatlichkeit. Aktualität und Aktualisierung eines politischen Ordnungsideals“ durchgeführt.
Ausgehend von dem empirischen Befund, dass die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs mit hohem politischen und finanziellen Aufwand vorangetriebenen Bemühungen, Rechtsstaatlichkeit global zu etablieren, wenig erfolgreich waren, liefert Meyer einerseits einen Erklärungsansatz für diesen Misserfolg und schlägt andererseits eine theoretische Neuorientierung bei der Definition von Rechtsstaatlichkeit vor. Dass der bislang eingeschlagene Weg des Norm- und Institutionenexports keine globale Vereinheitlichung der normativen Standards angestoßen hat und stattdessen bei der überwiegenden Mehrzahl der rechtsstaatlichen Transformationsstaaten dysfunktionale Entwicklungen oder roll-back-Effekte zu beobachten sind, resultiert – so die zentrale These der Arbeit – aus der Unzulänglichkeit der etablierten theoretischen Kategorisierung von Rechtsstaatlichkeit in formelle und materielle Anforderungen. Anstelle der abstrakt-rechtswissenschaftlichen Kategorien „formell“ und „materiell“ schlägt das Projekt eine Re-Politisierung rechtsstaatlicher Kriterien vor und orientiert sich hierfür am deutschen Rechtsstaat als einem der beiden politischen Ur-Modelle neben der englischen Rule of Law.
Zu ihren Publikationen im Forschungsprojekt zählen: Meyer, Ulrike (2012): Idealität, Interessen, Ignoranz. Zur schwierigen Gemengelage der internationalen Rechtsstaatsförderung, in: Der Staat, 51 (2012), 1, 35-55 und Draganova, Viktoria/ Kroll, Stefan/ Landerer, Helmut/ Meyer, Ulrike (Hg.) (2011): Inszenierung des Rechts - Law on Stage, Jahrbuch Junge Rechtsgeschichte; Bd. 6, München: Meidenbauer.

Die wichtigsten Veranstaltungen im Forschungsprojekt waren die Workshop-Reihe „Rechtsnorm und Rechtskritik“, „Die Inszenierung des Rechts – Law on Stage“; 16th European Forum of Young Legal Historians, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main 25.-27.03.2010 und die Leitung des Panels „Die Reichweite von Gerechtigkeitsprinzipien/ The Scope of Principles of Justice“, 1. Nachwuchskonferenz des Exzellenzclusters „Formation of Normative Orders“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Thema „Normative Ordnungen: Rechtfertigung und Sanktion“; Frankfurt am Main 23.-25.10.2009.


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