Leiter: Dr. Thomas Biebricher
Die Nachwuchsgruppe 'Krise und normative Ordnung - Variationen des 'Neoliberalismus' und ihre Transformation' hatte es sich zum Ziel gesetzt, mögliche Transformationen des Neoliberalismus vor dem Hintergrund der Finanzkrise von 2008 aus unterschiedlichen (disziplinären) Perspektiven zu untersuchen. Das Projekt unterteilte sich in vier Einzelprojekte. Bei drei dieser Projekte handelte es sich um Qualifizierungsarbeiten (Dissertationen).
Frieder Vogelmann: Im Bann der Verantwortung
Frieder Vogelmanns Dissertationsprojekt ging von folgender Frage aus: Was bedeutet die steile Karriere von Verantwortung (nicht nur) in der Philosophie, und welchen Preis zahlen wir dafür? Dass große Teile der modernen Philosophie ihr verfallen sind, so die zentrale These, bezahlt diese mit Blindheit für die theoretischen wie praktischen Auswirkungen von Verantwortung. Um sie zu analysieren, muss Verantwortung als diskursiven Operator verstanden werden, dessen Einheit im ambivalenten Selbstverhältnis der Verantwortung Tragenden liegt. Seine praktischen Auswirkungen werden exemplarisch in den Praktiken der Arbeit und der Kriminalität studiert, in denen das verantwortliche Selbstverhältnis intensiviert und zugleich von der Voraussetzung substantieller Handlungsmacht entkoppelt wird. So hilft Verantwortung, eine unternehmerische Logik in die Selbstverhältnisse zunehmend entmachteter Lohnarbeiterinnen und »Arbeitsloser« einzuschmelzen sowie die Bürgerinnen aktiv in die präventiv gewendete Kriminalpolitik einer auf öffentliche Sicherheit fixierten Gesellschaft einzubinden.
Die theoretischen Auswirkungen werden anhand der Genealogie von Verantwortung innerhalb der Philosophie analysiert, in der sich Verantwortung vom Instrument in der metaphysischen Debatte um Willensfreiheit zu einem eigenständigen moralischen Problem und schließlich zur Gewissheit wandelt, mit der andere philosophische Fragen erklärt werden. Fixpunkt aller Reflexionen bleibt das ambivalente verantwortliche Selbstverhältnis als aktiver Umgang mit dem Faktum des eigenen Unterwerfens – sowohl dem Unterworfen-sein als auch dem Unterwerfen Anderer. Das zum Faktum erklärte Unterwerfen erlaubt dem Subjekt, sich unabhängig von seiner tatsächlichen Handlungsmacht als souverän zu erleben, und bildet den verborgenen Kern des verantwortlichen Selbstverhältnisses. Weil Verantwortung aber zunehmend gebraucht wird, um die Bindungskraft von Normativität als ureigenes Gebiet der Philosophie zu explizieren, verleitet ihre Attraktivität dazu, diese Selbstobjektivierung zu übersehen oder zu leugnen und den praktischen Gebrauch der philosophischen Legitimierungen von Verantwortung auszublenden. Dagegen setzt diese Arbeit eine diagnostische Kritik, die den Bann der Verantwortung wenn nicht bricht, so doch entlarvt.
Die Dissertation ist erschienen als: Frieder Vogelmann (2014): Im Bann der Verantwortung, (Reihe: Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie), Frankfurt/New York: Campus.
Greta Wagner: Neuroenhancement. Kritik und Praxis pharmakologischer Leistungssteigerung
Greta Wagners Dissertationsprojekt ging von folgender Frage aus: Welche gesellschaftliche Bedeutung kommt Neuroenhancement zu? Als Phänomen bisher vor allem in der Bioethik bearbeitet, wird hier die nichtmedizinische Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten zur kognitiven Leistungssteigerung erstmals soziologisch untersucht. Dabei wird Neuroenhancement als eine Praxis mit Teilnehmern und Beobachtern begriffen, deren Deutungen gleichermaßen in den Blick geraten – einerseits durch die Auswertung von Einzelinterviews mit Konsumenten leistungssteigernder Medikamente und andererseits mittels Gruppendiskussionen mit Studierenden, die zu Neuroenhancement Stellung nehmen, die Praxis deuten und ihre Fantasien, Sorgen und Hoffnungen in Bezug auf pharmakologische Leistungssteigerung miteinander diskutieren. Den normativen Orientierungen jener Beobachter, die den Diskurs über Neuroenhancement prägen, wird mit dem theoretischen Werkzeug einer Soziologie der Kritik ein eigener epistemischer Status zugewiesen. Die Studie ist vergleichend zwischen Frankfurt und New York angelegt, wo die nichtmedizinische Einnahme von Stimulanzien während Prüfungszeiten einen weitgehend normalisierten Teil studentischer Alltagspraxis bildet. In Frankfurt ist Neuroenhancement dagegen weit weniger verbreitet, als die mediale Aufmerksamkeit für das Phänomen der letzten Jahre vermuten ließe. Die Deutungen von Konsumenten wie Nichtkonsumenten, von Frankfurtern wie New Yorkern werden in Bezug gesetzt zu sozialtheoretischen Diagnosen der Gesellschaft der Gegenwart und ihrer Erfolgskultur. Die Konsumenten leistungssteigernder Medikamente versuchen mithilfe von Substanzen wie Ritalin Wachheit, Aufmerksamkeit, Antrieb und Motivation zu steigern – Fähigkeiten, die besonders die Zeitnutzung bei arbeitssouveränen Wissensarbeitern effektivieren. Und auch die diskursive Auseinandersetzung mit dem Thema zeigt, dass Neuroenhancement ein Verdichtungssymbol darstellt, das auf Selbstoptimierung im Neoliberalismus verweist – als Sorge um die eigene Wettbewerbsfähigkeit.
Die Dissertation ist erschienen als: Greta Wagner (2017): Selbstoptimierung. Praxis und Kritik von Neuroenhancement (Reihe: Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie), Frankfurt/New York: Campus.
Michael Walter: Reformvisionen. Zur Bildpolitik wirtschafts- und sozialpolitischer Reforminitiativen der Jahre 2000-2006 in der Bundesrepublik
Die Dissertation von Michael Walter nimmt die Bild- und Kampagnenpolitik der wirtschafts- und sozialpolitischen Reforminitiativen in den Jahren 2000 bis 2006 in der Bundesrepublik in einer hegemonietheoretischen Perspektive in den Blick. Die Arbeit verortet sich im Feld einer poststrukturalistischen Soziologie und zielt programmatisch darauf, poststrukturalistische Theoriebildung und eine interpretative, empirisch ausgerichtete Sozialforschung miteinander zu verbinden. Im theoretischen Abschnitt der Arbeit werden als Rahmen für die empirische Analyse poststrukturalistische Theorieelemente im Anschluss an die Diskurs- und Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe für die Analyse spezifisch visueller Repräsentationsformen fruchtbar gemacht, die bisher hegemonietheoretisch weitgehend ausgeblendet worden sind. Der empirische Abschnitt der Arbeit besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil erfolgt die hegemonietheoretische perspektivierte Rekonstruktion der Reforminitiativen und ihrer Kampagnenpolitik als zeitgeschichtliches Gesamtphänomen. Im darauffolgenden Hauptteil werden im Sinne eines theoretischen Samplings die Bildpolitiken der Reforminitiativen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, BürgerKonvent und der Medienkampagne Du bist Deutschland mit Hilfe des entwickelten Analyserahmens rekonstruiert. Die Analyse zeigt auf, dass sich die Bildpolitiken aller drei Reforminitiativen durch ihren ausgesprochen populären Charakter auszeichnen. Die Kampagnen ›übersetzen‹ jeweils durch die Produktion von populären Bildern die abstrakten Reformthemen der Spezialdiskurse aus etwa Wissenschaft, Politik und Wirtschaft in die alltägliche Lebenswelt der Individuen und machen komplexe komplexe wirtschafts- und sozialpolitische Phänomene auf der Ebene des Alltagsverstandes sichtbar und sinnlich erfahrbar. Diese ›Übersetzungen‹ sind dabei, so eine grundlegendes Ergebnis der Analyse, immer auch mit einem transformierenden Moment verbunden: die Bildpolitiken der Reforminitativen im fokussierten Zeitraum lassen sich als hegemoniale Praxis begreifen, die neue kollektive Leitbilder, ›Reformvisionen‹ und Sichtbarkeitsverhältnisse zu etablieren sucht, um so den Common Sense der Individuen an vermeintlich veränderte sozioökonomische Rahmenbedingungen anzupassen.
Die Dissertation ist erschienen als: Michael Walter (2016): Reformvisionen. Zur Bildpolitik wirtschafts- und sozialpolitischer Reforminitiativen, Konstanz: UVK Verlagsanstalt.
Thomas Biebricher: The Political Theory of Neoliberalism.
Auf der Grundlage einer Definition des Neoliberalismus, die an dessen historischen Entstehungskontext ansetzt, untersucht die Arbeit die Werke der zentralen Denker des Neoliberalismus und befragt die entsprechenden Ansätze insbesondere auf ihre politische Dimension hin. Entgegen der stereotypen Auffassung, nach der Neoliberalismus nichts anderes als Marktfundamentalismus darstellt, arbeitet die Studie heraus, dass im neoliberalen Denken in seinen unterschiedlichen Varianten durchaus Vorstellungen zu Staat, Demokratie und Wissenschaft, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, sowie Macht, Menschen- und Geschichtsbild zu finden sind. Diese werden verglichen und einer kritischen Analyse unterzogen. Im zweiten Teil der Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie die Wirkmächtigkeit bestimmter (neoliberaler) Ideen für konkrete politische Praktiken und Institutionen theoretisiert werden kann. Das zentrale Argument lautet, dass Krisen (wie die von 2008) Momente fundamentaler Unsicherheit darstellen, die Möglichkeitsfenster für neue Ideen/Theorien öffnen oder aber zur Rückbesinnung auf basale und fundamentale Vorstellungen führen, die auch unter Bedingungen fundamentaler Unsicherheit als verlässlich angesehen werden. Letzteres geschieht - so die abschließende zeitdiagnostische These - im Verlauf der Finanz- und Schuldenkrise, in der insbesondere die deutschen polit-ökonomischen Eliten, sich auf ordoliberale Kerneinsichten zurückbesinnen und dementsprechend auf ein Regime von sanktionsbewährten Regelsystemen bei gleichzeitiger Sicherung der Geldwertstabilität hinwirken. Das Resultat ist eine Transformation europäischer Governance-Strukturen gemäß den Vorgaben der politischen Theorie des Ordoliberalismus, deren demokratieskeptische und technokratische Ausrichtung sich am Beispiel des europäischen Krisenmanagements besichtigen lässt.
Die Ergebnisse dieses Projekts werden u.a. dargestellt in: Thomas Biebricher (2012): Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg: Junius-Verlag.
Zu den Veranstaltungen der Nachwuchsgruppe gehören: „Normative Theorie und Gesellschaftskritik.“ Tagung am Exzellenzcluster Normative Orders. Teilnehmende u.a. Hans Jürgen Bieling, Kendra Briken, Rainer Forst, Stefan Gosepath, Jürgen Neyer, Frank Nullmeier, Jens Steffek. Frankfurt, 8./9. Dezember 2011 (mit Florian Rödl); „Kapitalismus – Soziologie – Kritik.“ Workshop am Exzellenzcluster Normative Orders (gemeinsam mit dem Institut für Sozialforschung). Teilnehmende u.a. Hartmut Rosa, Klaus Dörre, Stefan Lessenich, Axel Honneth. Frankfurt, 17./18. Dezember 2010 und „Michel Foucault und der Ordoliberalismus.“ Tagung am Exzellenzcluster Normative Orders. Teilnehmende u.a. Lars Gertenbach, Nils Goldschmidt, Felix Heidenreich. Frankfurt, 10./11. Juni 2010 (mit Rainer Klump/Manuel Wörsdörfer).
Neben den oben genannten Monographien gingen aus der Arbeit der Forschungsgruppe noch folgende Buch- und Zeitschriftenbeiträge hervor:
Biebricher, Thomas (2011): „The Biopolitics of Ordoliberalism“, in: Foucault Studies 12, 171-191.
Biebricher, Thomas (2013): „Europe and the Political Philosophy of Neoliberalism“, in: Contemporary Political Theory 12 (4), 338-375 (Critical Exchange mit Entgegnungen von David Jabko, Josef Hien and Anita Chari).
Biebricher, Thomas und Frieder Vogelmann (2012): „Governmentality and State Theory: Reinventing the Reinvented Wheel?“, in: Theory and Event 15(3), online unter ‹http://muse.jhu.edu/journals/theory_and_event/v015/15.3.biebricher.html › (Zugriff: 5. September 2012).
Vogelmann, Frieder (2011): „Die Falle der Transparenz. Zur Problematik einer fraglosen Norm“, in: Leon Hempel, Susanne Krasmann und Ulrich Bröckling (Hg.): Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Wiesbaden: VS Verlag, 71–84.
Vogelmann, Frieder (2012): „Neosocial Market Economy“, in: Foucault Studies 14, 115–137.
Wagner, Greta (2014): „Neuroenhancement in der Kritik. Normative Deutungen bei Studierenden in Frankfurt und New York“, in: Neuroenhancement – Fantasien der Selbstoptimierung. Schwerpunktausgabe von WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 2.2014, Frankfurt/New York: Campus.
Wagner, Greta (2013): „Leveling the Playing Field: Fairness in the Cognitive Enhancement Debate“, in: Elisabeth Hildt und Andreas G. Franke (Hg.): Cognitive Enhancement. An Interdisciplinary Perspective, Dordrecht/Heidelberg/New York/London: Springer, 217-231.
Wagner, Greta (2010): „Leistung aus Leidenschaft. Zum sozialen Umgang mit Cognitive Enhancement,“ in: polar. Politik – Theorie – Alltag, Nr. 8, Frankfurt/New York: Campus; Walter, Michael (2013): „Zur Bildpolitik der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, in: Alice Pechriggl/Anna Schober. (Hg): Hegemonie und die Kraft der Bilder. Klagenfurter Beiträge zur visuellen Kultur (Band 3), Köln: Herbert von Halem.
Walter, Michael (2012): „Das Komische und die Lebenswelt. Eine mundanphänomenologische Analyse komischer Konstruktionen“, in: Jochen Dreher (Hg.), Angewandte Phänomenologie. Zum Spannungsverhältnis von Konstruktion und Konstitution, VS-Verlag, Wiesbaden, 277-310.
Außerdem wurde ein Sammelband herausgegeben:
Neckel, Sighard und Greta Wagner (Hg.) (2013): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp, in dem ein weiterer Aufsatz einer Projektmitarbeiterin enthalten ist: Neckel, Sighard und Greta Wagner: „Erschöpfung als „schöpferische Zerstörung“. Burnout und gesellschaftlicher Wandel“, 203-217.