Lumpensammeln: Siegfried Kracauer und die Geschichte des 19. Jahrhunderts
Vortrag innerhalb des Historischen Forschungskolloquiums im Sommersemester 2017 (Prof. Dr. Andreas Fahrmeir / Prof. Dr. Christoph Cornelißen)
Till van Rahden (Université de Montréal)
8. Mai 2017, 18 Uhr c.t.
Goethe-Universität
Campus Westend
IG Farben-Haus - Raum 454 (EG)
60323 Frankfurt am Main
Lumpen zu sammeln gilt unter Historikern als abwegig. Lucien Febvre warnte 1933 in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France vor jenen, die „auf gut Glück wie ein Lumpensammler die Vergangenheit“ durchstreiften. Statt dessen müsse ein Historiker „mit einer präzisen Absicht, einem Problem, das es zu lösen, einer Hypothese, die es zu überprüfen gilt”, seinem Gegenstand gegenübertreten. Im Anschluss an Stichwortgeber wie den Begründer der Annales hat sich die deutschsprachige Geschichtswissenschaft der vergangenen sechzig Jahre an den Regulativen von analytischer Schärfe, methodischer Präzision und expliziter Hypothesenbildung orientiert. Der Historische Sozialwissenschaftler ist gleichsam das heroische Gegenbild zum Lumpensammler.
Kracauers „Geschichte – Vor den letzten Dingen” ist dagegen das Manifest einer unheroischen Geschichtswissenschaft und es kann kaum überraschen, dass Historiker das Buch vorsichtshalber gar nicht gelesen haben. Es gibt keine zweite Theorie der Geschichte, die so emphatisch argumentiert, der Historiker müsse sich den lumpigen Überresten der Vergangenheit zuwenden, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Diese Aufgabe bestehe darin, sowohl „geschichtsphilosophische Spekulationen samt ihrer pauschalen Bedeutungen” als auch die szientistische Logik der „Wissenschaften samt ihren Naturgesetzen” zu vermeiden.Als Geschichtstheoretiker stand Kracauer der Geschichtsphilosophie (und sei es einer messianischen im Anschluss an Benjamin) ebenso skeptisch gegenüber wie dem Szientismus der historischen Sozialwissenschaft. Aus Furcht „vor allem endgültig Fixierten” galt sein Interesse den „Zwischenräumen”. Ebenso wie die fotografische Wirklichkeit begriff Kracauer die historische Wirklichkeit als eine Form der Wirklichkeit, die sich dem Zugriff sozialwissenschaftlichen Denkens entzieht. Wie er es in seinen kulturwissenschaftlichen Arbeiten vorgemacht hat, dachte er durch die Dinge hindurch, statt über sie hinweg. Seine Neugier galt dem Detail und den fragmentarischen Spuren, kurzum den Lumpen.
Veranstalter:
Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen" in Zusammenarbeit mit dem Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität