Die sinnliche Wahrnehmung zum Tanzen bringen. Tatjana Sheplyakova über die kognitive Ästhetik Dziga Vertovs

Von Steffen Andrae

Stampfende, hämmernde, kreischende Maschinen, donnernde Züge und klirrende Werkzeuge. Arbeiter unter Tage, im Stahlwerk oder bei Paraden. Der Lärm und die schnell wechselnden Bilder in Dziga Vertovs Enthusiasmus erzeugen eine nur schwer zu ertragende Kulisse. Der Film entstand 1930, aber seine klangliche und bildliche Gestaltung stellt noch heute unsere alltäglichen Hör- und Sehgewohnheiten auf die Probe. Seine sinnliche Herausforderung – um nicht zu sagen sein Affront – hat Methode. Vertovs Filmkunst will ein „neues Sehen“, eine neue Art der Wahrnehmung etablieren. Der alten muss dafür buchstäblich Hören und Sehen vergehen.

Dr. Tatjana Sheplyakova, Philosophin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität, sprach am 3. Dezember 2017 im Rahmen der B3 Biennale des bewegten Bildes über Vertovs Film und Ästhetik. Unter dem Titel „L’Homme Machine – Das neue Leben in Dziga Vertovs Enthusiasmus / Sinfonie des Donbass“ gewährte sie einen tiefen Einblick in die Ideen der russischen Künstler-Avantgarde der 1920er und 30er Jahre. Sie waren durch einen wechselseitigen Zusammenhang von futuristischer Technikauffassung, scharfer Kunstkritik und radikalem politischem Selbstverständnis geprägt.

Enthusiasmus war der erste sowjetische Tonfilm. Für seine Produktion wurden eigens Tonbandgeräte entwickelt, mit denen dokumentarische Tonaufnahmen auch Draußen aufgenommen werden konnten. Entsprechend stolz verkündete Vertov, es sei erstmals gelungen, die Geräusche und Klänge des „industriellen Reviers“, seiner Schächte, Werke und Züge zu fixieren. Mit deren audiovisueller Dokumentation verfolgte der Regisseur auch agitatorische Zwecke: Enthusiasmus ist eine Lobeshymne auf den ersten sowjetischen Fünfjahresplan von 1928. Seine dramaturgische Gliederung verläuft entlang dreier Sinneinheiten: Der erste Abschnitt zeigt die alte, von Ikonenkult und Alkoholismus geprägte Ordnung. Er wird abgelöst von der Darstellung der kollektiven Mobilisierung am Beispiel der Stahlproduktion. Im dritten Teil werden der Einsatz der hergestellten Maschinen in der Landwirtschaft und die dadurch erwirkte Produktivitätssteigerung dokumentiert. Indes besitzt der Film keine Handlung im gewöhnlichen Sinn – seine Gestaltung wird allein über die Montage, d.h. den filmischen Schnitt und das dahinterstehende Organisationsprinzip, bestritten.

Dem Film, so zeigte Sheplyakova, liegt eine ästhetische Programmatik zugrunde, die Vertov bereits in den 20er Jahren entwickelt und in einer Reihe von Manifesten der Gruppe Kinoki veröffentlicht hatte. Die jungen Dokumentaristen suchten nach einer dem Film eigenen Sprache und richteten sich entschieden gegen alle fiktionalen und künstlerischen Elemente wie Handlungsnarrativ, Skript, Bühne, Requisiten oder Schauspieler. Romantische und psychologische Dramen, eskapistische Abenteuer und theatralische Inszenierungen, kurz: Spielfilme überhaupt wurden als bürgerlich abgelehnt und sollten einem an Tatsachen orientierten Kino weichen. Als wichtigstes Mittel für diese objektive Betrachtungsweise galt den Kinoki das „Kino-Glaz“ („Filmauge“), womit die Fähigkeit der Kamera bezeichnet wurde, radikal aufzunehmen. Das mechanische Auge, so die Künstlergruppe, beobachte vollkommener und wahrhaftiger als das träge, beschränkte menschliche. Laut Sheplyakova wird damit die Kamera selbst zum Subjekt, zum Movens einer permanenten Revolutionierung der (Wahrnehmungs-)Verhältnisse. Die Idee einer radikalen Aufnahmefähigkeit der Kamera ist grundlegend mit Vertovs Theorie der Montage verbunden. Der Sinngehalt der dokumentierten Einzelelemente wird erst durch ihre technische Zusammenfügung, ihr Zusammenhang erst durch die Konstruktion der Bildanordnung herausgearbeitet. Dergestalt entsteht aus dem Chaos visueller Phänomene ein System von Gesetzmäßigkeiten, das den Eigenschaften des Stoffes und dem inneren Rhythmus jeder Sache entspricht. In Enthusiasmus zeigt sich das anhand der symbolischen Interaktion, die zwischen den ansonsten disparaten Bereichen Kirche, Industrie, Erntedankfest und dem Gesang der Internationale hergestellt wird.

Dem Gegensatz von Spiel- und Dokumentarfilm entspricht die Unterscheidung zwischen „bloßem Wiedererkennen“ und „wirklichem Sehen“. Der alte, unkritische Film mit seinen erstarrten Formen und etablierten Normen ist für Vertov gleichbedeutend mit einer bloßen Registrierung und Bejahung der bestehenden Verhältnisse; der neue, technisch komplexe und anspruchsvolle hingegen ermögliche eine realistische Betrachtungsweise der physischen und sozialen Welt. Damit will er gleichsam die Trennung von Zuschauern und Handelnden aufheben und sich aktiv an der „Organisation des wirklichen Lebens“ beteiligen. Der sowjetische Film, so Sheplyakova, besaß eine informierende und eine agitierende Funktion, wobei erstere an die Darstellung von Tatsachen, zweitere an die Aktivierung des Zuschauers gebunden war. Bereits Lenin hatte den Film auf dem XIII. Parteikongress der KPdSU 1924 als bedeutendstes Mittel bei der Erziehung der Massen bezeichnet, als „wichtigste aller Künste bei der Umsetzung der Revolution“. In Vertovs Idee einer kognitiven Ästhetik verbindet sich die Aufgabe der Agitation jedoch stets mit einem erkenntnistheoretischen Anspruch, der der Herausarbeitung einer neuen Sinnlichkeit verpflichtet ist. Wie Sheplyakova anhand der Pariser Manuskripte zeigte, ist diese Zielstellung stark von Marx geprägt, dessen Begriff von Emanzipation sich auch auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung erstreckt. Im Kapitalismus, so Marx, seien die Sinne aufgrund ihrer bloßen Nutzenorientierung borniert und arm, lediglich privat und egoistisch entwickelt, im Kommunismus hingegen würden sie sich, ebenso wie ihr gesellschaftlicher Gegenstand, zu menschlichen entwickeln können: „Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“, schreibt Marx. An dieser Befreiung mitzuwirken war Vertovs erklärtes Ziel. Seine kognitive Ästhetik sollte eine neue Art des Sehens befördern, das ein ungewohntes, aber realistisches, ein komplexes, aber angemessenes Wahrnehmungsverhältnis zur materiellen und sozialen Welt ermöglicht, in dem unsere privatistisch-dumpfen Sehgewohnheiten überwunden werden.

Ausgehend von Sheplyakovas Vortrag erscheint es produktiv darüber nachzudenken, welche Spuren die Ideen Vertovs in der Geschichte des Films und der Filmtheorie hinterlassen haben. An sie wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedentlich angeknüpft. Roberto Rossellini und andere Regisseure des Italienischen Neorealismus vertraten in den späten 40er und frühen 50er Jahre eine an der konkreten sozialen Wirklichkeit orientierte Auffassung, die sich in der Arbeit mit Laienschauspielern und einem dokumentarischen Filmcharakter niederschlug. Jean-Luc Godard – Großmeister der französischen Nouvelle Vague – gründete zusammen mit dem Polit-Aktivisten Jean-Pierre Gorin 1968 die Group Dziga Vertov. Ihre Filme sollten eine aktive Rolle im Klassenkampf spielen und unterstützend bei der Bildung revolutionären Bewusstseins mitwirken. Darüber hinaus griff der Neue Deutsche Film um Regisseure wie Alexander Kluge bestimmte Elemente der Vertovschen Ästhetik auf und arbeitete sie um. Um Zusammenhänge und Proportionen zu bilden macht auch Kluge umfassenden Gebrauch von der Technik der Montage. Er betont dabei allerdings stärker die Autonomie des Einzelphänomens. Dieses unter ein allgemeines System verbindlicher Bedeutungsgehalte zu subsumieren erscheint ihm potentiell bedenklich. Auch die dokumentarische Fixierung auf bloße Tatsachen stellt Kluge infrage: Sie sei eine hervorragende Möglichkeit, Märchen zu erzählen, insofern bloß die Übermacht des Bestehenden, nicht jedoch die subdominanten Wünsche und Widerstände der Menschen eingefangen würden. Kluge modifiziert Vertovs Programmatik entsprechend der veränderten Lage. Die anti-systematischen und anti-realistischen Elemente seiner Ästhetik sind nicht idiosynkratischer Natur, sondern entstammen der historischen Erfahrung totalitärer Gesellschaftssysteme.

Avantgardistische Erzeugnisse, die unsere Hör- und Sehgewohnheiten auf die Probe stellen, gibt es auch heute noch zuhauf. Ob sich diese – wie im Falle Vertovs, Rossellinis, Godards oder Kluges – einer radikalen ästhetischen Reflexion etablierter Wahrnehmungsweisen oder den etablierten Kulturvorgaben eines abgesperrten Kreativmilieus verdanken, sei dahingestellt. Die Spannungsverhältnisse zwischen ideologischen und emanzipatorischen Interessen und zwischen triebökonomischer Fundierung und kognitivem Anspruch gehen weiterhin durch die Produkte hindurch. Sie sind damit vor eine Zerreißprobe gestellt. Heute vielleicht mehr denn je.


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