Forschung aktuell
Welchen Beitrag leistet Legal Analytics für das Recht?
Mireille Hildebrandt spricht über die epistemologischen Grundlagen von algorithmenbasierten Auswertungen im Rechtssystem
Von Tanja Strukelj
Künstliche Intelligenz, Algorithmen und Big Data verändern die Arbeit und das gesellschaftliche Zusammenleben. Welche Auswirkungen diese Technologien im Rechtssystem entfalten und welche Machtverschiebungen sie bedingen, ist das Thema der Ringvorlesung im Wintersemester 2020/21, die von Prof. Roland Broemel, Prof. Christoph Burchard und Prof. Indira Spiecker organisiert und vom Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ gemeinsam mit den Frankfurter Gesprächen zum Informationsrecht und dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main veranstaltet wird. Den Auftakt zu dieser Veranstaltungsreihe machte Prof. Mireille Hildebrandt am 11. November 2020 mit ihrem Vortrag „Legal effect in computational ‘law’“, in welchem sie sich mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen von Legal Analytics beschäftigte. Grußworte zur Eröffnung der Ringvorlesung hielten Prof. Birgitta Wolff, Präsidentin der Goethe-Universität, Prof. Christoph Burchard, Professor für Straf- und Strafprozessrecht, Prof. Klaus Günther, Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaft und Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht, sowie Prof. Rainer Forst, Sprecher des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“ und Professor für Politische Theorie und Philosophie.
Die vortragende Mireille Hildebrandt ist Professorin für „Interfacing Law and Technology“ an der Vrijen Universiteit Brüssel und Co-Direktorin der dort ansässigen Forschungsgruppe „Law, Science, Technology and Society“. Daneben hat sie eine Teilzeit-Professur für „Smart Environments, Data Protection and Rule of Law“ an der Radboud University Nijmegen inne und ist seit 2019 Principal Investigator des von ihr eingeworbenen EU Research Grant „Counting as a Human Being in the Era of Computational Law“. In ihrer Forschung bewegt sie sich an der Schnittstelle zwischen Rechtswissenschaft und Informatik und beschäftigt sich insbesondere mit den epistemologischen Grundlagen von Künstlicher Intelligenz und deren Auswirkungen auf die Rechtspraxis.
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Autoritäre Bedrohungen und gesellschaftliche Herausforderungen der Pandemie
Bericht über den Auftakt der partizipativen Vortragsreihe DenkArt „Der Ausnahmezustand als neue Normalität?“ mit Professor Wilhelm Heitmeyer am 8. September 2020
Von Rose Troll
Der Auftakt der neuen DenkArt-Reihe, gemeinsam veranstaltet von der Katholischen Akademie Rabanus Maurus, Haus am Dom, dem Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen e.V.. mit Unterstützung durch die Sebastian-Cobler-Stiftung für Bürgerrechte im Haus am Dom, stand nicht nur thematisch unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie. Um Hygiene-Maßnahmen und Abstandsregeln zur Eindämmung des Virus umsetzen und dennoch einen öffentlichen Raum der Diskussion (wieder-)herstellen zu können, konnte nur eine sehr kleine Zahl an Teilnehmenden vor Ort mitmachen. Alle anderen Interessierten mussten auf eine digitale Beteiligung von zuhause ausweichen. Den gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie, von denen diese veränderten Bedingungen der demokratischen Gegenwart nur eine der Unmittelbaren ist, ist die aktuelle Reihe des partizipativen Veranstaltungsformats gewidmet. Der erste Abend am 8. September fragte nach einer Interpretation des Ausnahmezustands aus der Perspektive autoritärer Bedrohungen – moderiert wurde er von Rebecca Caroline Schmidt, Geschäftsführerin des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“ und Administrative Geschäftsführerin des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Anfang des Jahres 2020 war die autoritäre Bedrohung der offenen Gesellschaft und liberalen Demokratie durch den neuerlichen rechtsextremen, rassistischen Anschlag in Hanau und den Skandal um die Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten zentraler Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Kurze Zeit später wurde diese jedoch beinahe vollständig von der Corona-Pandemie und den zu ihrer Eindämmung eingeleiteten Maßnahmen dominiert. Mit der sommerlichen Entspannung durch niedrigere Infektionszahlen und Lockerungen diversifizierte sich die Berichterstattung und spätestens mit den sogenannten Corona-Demos, in denen sich verschwörungstheoretische Ablehnung der Maßnahmen mit rechtsextremer Mobilisierung verband, wurde ihre nicht nur beispielreiche, sondern vor allem drängende Aktualität erneut überdeutlich.
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Mehr als nur ‚die Anderen‘.
Veranstaltungsbericht zu Albrecht Koschorkes Vortrag ‚Der Zorn der Moralisten und die Theorie des Ressentiments. Gegenwartsdiagnose mit/gegen Nietzsche‘
von Marian Nestroy
Ein orange anmutendes Gesicht, gelbliche Haare, blauer Anzug, rote etwas zu lang gebundene Krawatte und ein zur Exponierung neigender Sprachstil. Wer ist mit dieser Kurzbeschreibung gemeint? Es dürfte klar sein, dass es nicht Robert Habeck und auch nicht Emmanuel Macron ist. Es ist auch nicht Joe Biden oder Barack Obama, sondern natürlich Donald Trump, der von seinen Anhängern nur „The Donald“ genannt wird. Dieses Bild von ‚Donald‘, dem selbstbewusst auftretenden Macher, der das Land managt und bekommt, was er will, pflegte Trump nicht erst seit seinem ersten politischen Auftritt. Bereits im Reality TV prägte er intensiv sein Image als Boss, der immer bereit ist in etwas größeren Dimensionen zu denken als die Anderen.
Doch war es nicht nur Trump selbst, der sich der Verbreitung dieser fast schon zur Ikone gewordenen Figur verschrieb. Schließlich hatte sie enormen Wiedererkennungswert, so dass auch Printmedien, Fernsehen- und Internetformate aller Couleur sich dankbar den visuellen Stilmitteln des Unternehmers annahmen. Mit Faszination wurde auch das Handeln einer nunmehr politischen Figur beobachtet, wie man sie bis dahin noch nicht gesehen hatte. Die Aussagen von ‚The Donald‘ konnten in diese oder jene Richtung ausschlagen: häufig gegen Einwanderer, häufig gegen ‚die Elite‘ im politischen Sumpf, aber immer mit großem Wirkungsgrad, die vor allem der Tatsache entsprangen, dass er es mit Fakten nicht zu genau nahm. Die Frage danach, wer dieser Mann eigentlich ist, schien in unzähligen Zeitungsartikeln gestellt zu werden und offenbarte zugleich, dass es unter den Redaktionsmitgliedern auch keine Antwort gab.
Der Begriff des Ressentiments bei Nietzsche
Die Fixierung auf die Person Trump, ob nun visuell oder inhaltlich, führte mitunter zu einem starken Fokus auf die Psyche des US-Präsidenten. Die Frage aber, ob Donald Trump nun an Zwangsstörungen leidet oder nicht, ist aus gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive eher von geringer Bedeutung. Darauf weist Albrecht Koschorke in seinem Vortrag am Forschungsverbund Normative Ordnungen zu Beginn hin. Vielmehr ist für ihn interessant, warum Menschen, die sich gegen die vermeintlich unmoralischen Eliten der politischen Klasse stellen, gerade in Trump eine Galionsfigur gefunden haben. Denn dieser ist bereits auf den ersten Blick ungeeignet als moralisch integer zu gelten: nicht nur, dass er ein ambivalentes Verhältnis zur Wahrheit hat, sondern auch seine Entgleisungen („grab her by the pussy“) und sein fragwürdiges Verhältnis zu seiner eigenen Klientel, müssten ihn eigentlich als Bezugspunkt einer Revolte der ‚kleinen Leute‘ disqualifizieren. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, Trump möchte auch eine zweite Amtszeit als Präsident absolvieren. Koschorkes Fragen stellen sich auch bei einer zweiten Wahlkampagne aufs Neue: Warum reagieren diejenigen, die die Elite als unmoralisch empfinden, nicht empfindlicher auf offensichtlich ebenso unmoralische Führungsfiguren ihrer Gegenbewegung?
Wenn viele Verschiedene in einem Raum zusammen handeln: Demokratie, eine streitbare, unterbestimmte kollektive Lebensform
Bericht zum Denkraum: „Demokratie – Was wird aus der Krise des Politischen?“ mit Prof. Dr. Martin Saar am 11. Februar 2020
Von Andrea C. Blättler
Am 11. Februar 2020 war der Chagall-Saal des Schauspiels Frankfurt bis auf die letzten Plätze besetzt – es ging um nichts weniger als um die Zukunft der Demokratie. Einen besseren Zeitpunkt hätte es für eine solche Veranstaltung vielleicht gar nicht geben können als kurz nach den Ereignissen rund um die Landtagswahl in Thüringen und kurz bevor SARS CoV 2 zur Pandemie deklariert wurde. Denn Martin Saar, Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität und Mitglied des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“, setzte bei der Beschreibung interner und externer Herausforderungen der Demokratie an; für die internen Herausforderungen ist die Landtagswahl in Thüringen ein gutes Beispiel, für die externen die Klimaerwärmung und auch das Corona-Virus, das Saar an jenem Abend „nicht an die Wand malen“ wollte, aber als demokratietheoretisches Problem bereits im Blick hatte. Es ist in den letzten Jahren beinahe üblich geworden, angesichts solcher Herausforderungen von Demokratie weniger als Teil der Lösung denn des Problems zu sprechen. Saar stimmte nicht in solche Abgesänge ein. Denn Demokratie, so führte er aus, ist nicht nur ein Regierungsregime, sondern auch eine Form des Politischen, der es genau dort bedarf, wo viele Verschiedene zusammen agieren (müssen), weil sie einen Raum teilen. So verstanden ist Demokratie ebenso heterogen wie unterbestimmt – und das bedeutet: spannungsgeladen. Denn wer zusammen handeln soll (und wer nicht), wie dabei genau vorzugehen ist, wo der geteilte Raum anfängt und wo er endet, und ob das alles nicht je nach politischer Frage unterschiedlich sein kann, all dies ist eben in einer Demokratie nicht per se festgelegt, sondern Gegenstand kollektiver Aushandlung. Was somit oft allzu rasch als Krise der Demokratie beschrieben wird, nämlich das Umstrittensein ihres Subjekts (das Volk?), ihres Raums (der Nationalstaat?) und ihrer Verfahren (der parlamentarische Betrieb?) ist daher weniger Ausdruck dessen, dass die Demokratie an ihre Grenzen kommt. Vielmehr zeigt sich dabei gerade ihr Wesen. Denn was umstritten ist, ist nicht festgelegt und nur was nicht ganz festgelegt ist, kann zum Gegenstand kollektiver Entscheidung werden. Damit sich ein Zusammenhandeln auf Dauer stellen kann, gießt es sich in institutionelle Formen. Aber nur, wenn immer wieder kontestiert werden kann, wer eigentlich wo zum Demos gehört und wie man sich genau selbst regiert, bleiben politische Institutionen wesentlich demokratisch. Diese Spannung auszuhalten ist nicht immer angenehm, aber unumgänglicher Preis kollektiver Selbstbestimmung. Und vielleicht ist es gerade ihre Unterbestimmtheit, welche die Demokratie lebendig hält. Doch der Reihe nach.
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Was wird aus der Wettbewerbsgesellschaft? Im Denkraum spricht Sascha Liebermann über die Chancen eines bedingungslosen Grundeinkommens
Von Tanja Strukelj
Die technologischen Entwicklungen werden unsere Arbeitswelt nachhaltig verändern, Arbeitsplätze werden verschwinden, die Schere zwischen Arm und Reich nimmt weiter zu und im sozialen Bereich droht zunehmend ein Fachkräftemangel. Die Arbeitswelt steht vor einigen Herausforderungen. Wie können wir als Gesellschaft damit umgehen? Welche neuen Wege müssen gefunden werden, um den Problemen zu begegnen? Diese Fragen standen im Raum, als der Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Schauspiel Frankfurt am 10. März 2020 zu ihrer Denkraum-Reihe „Zukunft_Aber wie?“ in den Chagallsaal einluden.
Sascha Liebermann ist Professor für Soziologie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alster. Liebermann war Mitbegründer der Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ und setzt sich schon seit Jahren für das bedingungslose Grundeinkommen ein.
Was hat es mit dem bedingungslosen Grundeinkommen eigentlich auf sich? Sascha Liebermann bezeichnet es als eine Einkommensgarantie „von der Wiege bis zur Bahre“. Es handelt sich um eine lebenslange Dauerleistung, die „bedingungslos“ ist, insofern sie nicht von spezifischen Situationen oder Notfällen abhängt, wie dies bei derzeitigen Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld I und II der Fall ist. Das Grundeinkommen sei gedacht als eine Leistung an Individuen – unabhängig von dem Haushalt, in dem sie leben. Die Höhe des Grundeinkommens soll derart bemessen werden, dass man von ihm leben kann, ohne nebenbei einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen. Geht man einer Erwerbstätigkeit nach, soll das Grundeinkommen nicht mit dem hieraus gewonnenen Einkommen verrechnet werden, sondern eine eigenständige und unabhängige Einkommensquelle darstellen.
Autonomie im Algorithmus? – Klaus Günther zur Frage der Krise des Normvertrauens
Vortrag von Klaus Günther innerhalb des Rahmenprogramms zum Ausstellungsprojekt „Making Crises Visible“
Von Kristina Balaneskovic
Der Wandel der normativen Ordnungen innerhalb der Gesellschaft hat spätestens seit der Diskussion um Big Data an Relevanz gewonnen. Kann man zwischen einer „alten“ und einer „neuen“, beziehungsweise „smarten“ normativen Ordnung unterscheiden? Inwiefern veränderten sich die normative Ordnung und das Normvertrauen im Zuge der Digitalisierung? Diesen Fragen geht Klaus Günther unter anderem in seinem Vortrag: „Vom Zwang zum Algorithmus – Krise des Normvertrauens?“, welchen er am 18. Februar 2020 in der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung innerhalb des Rahmenprogramms zum Ausstellungsprojekt „Making Crises Visible“, gehalten hat, nach. Werden Menschen durch künstliche Intelligenz und digitale Technologien dazu gebracht, das zu tun, was sie tun sollen? Wie sieht das neue Zeitalter der „smarten“ Ordnungen aus? Klaus Günther referiert über das Verständnis von Normvertrauen, der normativen Ordnung und über das gegenwärtige Zeitalter der Digitalisierung und die Bedeutung des Normvertrauens für eine Welt, die zunehmend durch Algorithmen geprägt wird. Klaus Günther ist Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und zudem seit 2007 Co-Sprecher des Forschungsverbunds „Normative Orders“, welcher ebenfalls an der Goethe-Universität Frankfurt am Main ansässig ist und Mitveranstalter des Rahmenprogramms zum Ausstellungsprojekt „Making Crises Visible“ ist.
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"In der Höhle. Über Wirklichkeit und Macht." Vortrag von Rainer Forst im Rahmen der B3 Biennale des Bewegten Bildes 2019
Von Johanna Schafgans
Die Halle, in der sich die BesucherInnen der B3 Biennale am 17. Oktober 2019 versammelten, hatte einen gewissen Höhlencharakter, was zum Thema des Vortrages passte: „In der Höhle. Über Wirklichkeit und Macht“. Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Co-Sprecher des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“, sprach passend zum Thema der B3 Biennale des bewegten Bildes 2019, in der es um die Erzeugung von Wirklichkeit durch Bilder, Erzählungen und Theorien ging, also auch um das Verhältnis von Wirklichkeit und Macht. Wer das Wesen sozialer Macht verstehen will, muss in die Höhle der ideologischen Verblendungen hinabsteigen. Aber was genau sieht man da? Und wie geblendet sind die, die aus der Höhle dem Licht der “wahren Wirklichkeit” begegnen?
Rainer Forst begann seinen Vortrag also mit Platons Höhlengleichnis. Die Tradition der westlichen Politischen Philosophie beginne mit Platons Werk über den Staat, „Politeia“, und in diesem Werk werde im Sinne eines sokratischen Dialogs erörtert, was die gerechte politische Ordnung sei. Die Antwort von Platon sei, dass die gerechte politische Ordnung darin bestehe, dass die Polis analog geordnet sei wie die menschliche Seele: die Vernunft herrscht über die Tapferkeit und die Begierde. An einer berühmten Stelle wird dann die Frage erörtert, wie man auf die Idee einer guten, gerechten oder vernünftigen Ordnung kommt. Die Antwort von Platon sei, dass die Philosophie eine dialektische Wissenschaft sei, die man lange üben muss, und erst in reifem Alter (ungefähr ab 55, so selbstironisch Forst, Jahrgang 1964) seien Philosophen in der Lage, die Erkenntnis des Guten zu bewerkstelligen. An diesem Punkt zwinge sich die Schlussfolgerung auf: Wenn man die Wahrheit über die gute und gerechte Gesellschaft nur über ein langen Bildungsgang in der Philosophie erkennen kann, dann müssten reife Philosophen auch die idealen politischen Herrscher sein. Aus dieser Feststellung ergebe sich aber das nächste Problem: Wie ist es diesen weisen Philosophen möglich, eine Gesellschaft, die ja aus mehrheitlich ungebildeten Menschen besteht, zu regieren? Und genau an dieser Stelle tauche das zentrale Dilemma dieses Buches auf, das Platon schrieb, nachdem Sokrates in der griechischen Polis zum Tode verurteilt wurde – das Problem nämlich, dass die Idee einer gerechten Herrschaft praktisch-politisch nicht umsetzbar sei, sondern bestenfalls ein ferner Orientierungspunkt am Ideenhimmel bleibe.
„Eine umfassende politische Praxis der Gerechtigkeit“: Für ein transnationales und progressives Projekt gegen die Krise der Demokratie
Vortrag von Rainer Forst im Rahmen des interdisziplinären Ausstellungsprojekts »Making Crises Visible«
Von Juana de O. Lorena
Wird die aus dem Griechischen abgeleitete Vokabel „Krise“ im Duden nachgeschlagen, so bekommt man die folgende Erklärung als mögliche Sinndeutung: Krise ist ein „kritischer Wendepunkt im Verlauf einer akuten Krankheit“. Und Krankheiten müssen – bekanntlich erst und in gerade in schwierigen Fällen – meistens durch ExpertInnen diagnostiziert werden. Die Problematik der „Krise der Demokratie“, sowie die ihrer Diagnose, scheinen diesem Schema nicht zu folgen. Die Beurteilung scheint mittlerweile keine exklusive Aufgabe von SpezialistInnen mehr zu sein, sondern sie wird als Feststellung der Allgemeinheit wahrgenommen. Dieses generelle Urteil hat in diesem Fall seine Berechtigung, da die Krise von vielen – wenn nicht von allen – Subjekten so empfunden und bestätigt wird.
Doch im Rahmen des interdisziplinären Ausstellungsprojekts »Making Crises Visible« wird die Krise insbesondere auch aus wissenschaftlicher Expertenperspektive diskutiert. Um die Frage der Krise der Demokratie aus einer politisch-philosophischen Warte zu adressieren, sprach Prof. Rainer Forst zum Auftakt des Rahmenprogramms zum Projekt. Am Abend des 12. Februars 2020 gab der Philosoph und Co-sprecher des Forschungsverbundes „Normative Orders“ anregende Impulse, um über die aktuelle Lage der Demokratie zu reflektieren. Rebecca Caroline Schmidt, Geschäftsführerin des Forschungsverbundes begrüßte sehr herzlich das Publikum im Senckenberg Biodiversitäts- und Klima-Forschungszentrum und lieferte einen Überblick über die Ausstellung und das Rahmenprogramm von „Making Crisis Visible“. Im Anschluss daran stellte sie den Referenten des Abends vor. Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Neben seiner Tätigkeit im Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ ist er Co-Sprecher der Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata“. Als einer der einflussreichsten Philosophen seiner Zeit, erhielt er im Jahr 2012 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Arbeiten konzentrieren sich auf Fragen der praktischen Vernunft, Gerechtigkeit und Toleranz. Zu seinen bedeutsamsten Publikationen gehören „Kontexte der Gerechtigkeit“ (Suhrkamp 1994, Univ. von California Press 2002), „Toleranz im Konflikt“ (Suhrkamp 2003, Cambridge UP 2013), „Das Recht auf Rechtfertigung“ (Suhrkamp 2007, Columbia UP 2012) und „Normativität und Macht“ (Suhrkamp 2015, Oxford UP 2017).
„Ach!“ Klaus Günther über wirkliche Fiktionen und fiktive Wirklichkeiten
Von Tanja Strukelj
Das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion hat durch die Debatten um virtuelle Realität und Fake News an Aufmerksamkeit gewonnen. Kann man Wirklichkeit und Fiktion trotz ihrer verschwimmenden Grenzen noch klar voneinander trennen? Mit dieser Frage beschäftigt sich Klaus Günther in seinem Vortrag, den er am 16. Oktober 2019 auf der Frankfurter Buchmesse im Rahmen der B3 Biennale des bewegten Bildes hielt. In diesem Jahr beschäftigte die B3 unter dem Stichwort „Realities“ mit Themen wie Virtual Realities und Künstlicher Intelligenz, zu deren Erkundungen Klaus Günther beitrug. Klaus Günther ist Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht, seit 2007 Co-Sprecher des Forschungsverbunds „Normative Orders“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied im Kollegium des Instituts für Sozialforschung.
Stehen Fiktion und Wirklichkeit einander unversöhnlich gegenüber? Klaus Günther lässt deren Grenzen verschwimmen, wenn er von „wirklichen Fiktionen“ und „fiktionaler Wirklichkeit“ spricht: Einerseits haben einige fiktive Elemente Auswirkungen auf die Wirklichkeit, andererseits ist die Erfahrung unserer Wirklichkeit immer auch eine Konstruktion.
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