Medien-Echo

Das Opfer hat keine Mitschuld an Kriegsverbrechen

Wann entsteht eine moralische Pflicht zum Kriegsaustritt? Reinhard Merkel beurteilt die Lage der Ukraine falsch.
Von Darrell Moellendorf

Am 28. Dezember 2022 schrieb Reinhard Merkel in diesem Feuilleton, die Regierung in Kiew sei in der Pflicht, "Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden". Sein Argument stützt sich auf einen Teil der Theorie des gerechten Krieges, das ius ex bello, an dessen Ausarbeitung ich maßgeblich beteiligt war. In meinen Augen geht es um zwei Kernfragen. Erstens: Ist es zulässig, einen Krieg fortzusetzen? Zweitens: Falls er beendet werden muss, wie sollte dies, in moralischer Hinsicht, geschehen? Merkels Antwort auf die erste Frage scheint zu sein, dass die Ukraine die Verantwortung habe, sich auf Verhandlungen mit Zugeständnissen einzulassen, um ein Ende des Krieges zu bewirken. Ich halte dieses moralische Urteil für grundfalsch und lehne auch dessen politische Implikationen ab.
Merkel hat mit vielem recht, etwa mit seiner Unterscheidung zwischen dem völkerrechtlichen Anspruch der Ukraine auf Selbstverteidigung und der moralischen Frage, ob die Ukraine den Krieg fortführen sollte, um ihre Souveränität zu verteidigen. Zudem zieht er die Ungerechtigkeit der russischen Invasion nicht in Zweifel. Merkel zufolge ist das ius ex bello gerade dann besonders bedeutsam, wenn eine gerechte Sache nicht oder zumindest nicht innerhalb der Grenzen der Moral verwirklicht werden kann. Das macht das ius ex bello zu einer bedrückenden Doktrin; was sie rät, ist schwer zu akzeptieren, vor allem wenn ein gerechter Grund, weiterzukämpfen, bestehen bleibt. Allerdings liefert Merkel kein überzeugendes Argument dafür, dass die Ukraine, die unter den Kriegsverbrechen eines anderen Landes, das nach Kolonialherrschaft trachtet, leidet, um des Friedens willen Zugeständnisse machen sollte. Gute Gründe sprechen vielmehr für die Annahme, dass ein solches Argument unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht triftig ist.
Das ius ex bello teilt einige der formellen Gesichtspunkte des ius ad bellum, das festlegt, wann der Eintritt in einen Krieg moralisch zulässig ist. Es geht in beiden Fällen darum, den gerechtfertigten Einsatz von Kampfmitteln zu begrenzen. Die Theorie des gerechten Krieges, zu der das ius ex bello wie auch das ius ad bellum gehören, unterscheidet sich vom Pazifismus dadurch, dass sie einige Kriege prinzipiell zulässt. Mitunter ist der Lehre vorgehalten worden, sie sei eine Ansammlung von Kriegsapologien. Dem ist jedoch nicht so. Sie geht davon aus, dass Kriege ungerecht sind, es sei denn, sie erfüllen eine Reihe von Bedingungen. In der Theorie des gerechten Krieges kann es starke Differenzen darüber geben, was diese Bedingungen sind und ob und wie genau sie auf einen bestimmten Fall anwendbar sind.
Jene, die zur Theorie des gerechten Krieges forschen, stimmen immerhin darin überein, dass ein Krieg nur zulässig ist, wenn er eine Reaktion auf ein gravierendes Unrecht darstellt. Es kann unterschiedliche Meinungen dazu geben, was genau einen "gerechten Grund" ausmacht. In jedem Fall gilt jedoch, dass ein gerechter Anlass allein noch keinen Krieg rechtfertigen kann. Denn möglicherweise gibt es moralisch weniger kostspielige Wege, diplomatische zum Beispiel, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Und selbst wenn dies nicht der Fall ist, können die Kosten, die eine Partei mit der militärischen Durchsetzung einer gerechten Sache verursacht, zu hoch oder die Erfolgsaussichten zu gering sein. Diese Kriterien werden als "Notwendigkeit", "Verhältnismäßigkeit" und "hinreichende Aussicht auf Erfolg" bezeichnet.
Im Rahmen des ius ad bellum darf ein Krieg, so würde ich argumentieren, nicht begonnen werden, es sei denn, ein gerechter Grund liegt vor, er ist notwendig, um für Gerechtigkeit zu sorgen, seine moralischen Kosten stehen in einem angemessenen Verhältnis zum normativen Ziel, und die Erfolgsaussichten sind günstig. Meiner Vorstellung des ius ex bello nach gelten dieselben Bedingungen, wenn die Fortsetzung eines Krieges, dessen Beginn gerecht gewesen ist, zur Debatte steht.
Ich kann nicht erkennen, dass Merkel anderer Meinung ist als ich, was die Bedeutung des gerechten Grundes sowie der Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und der Erfolgsaussichten betrifft. Ein Vorteil eines solchen moralischen Gerüsts ist, dass man sein Augenmerk auf bestimmte Streitpunkte richten kann. Merkel und ich sind uns einig, dass die Ukraine einen gerechten Grund hat, sich gegen die russische Aggression zu wehren. Aber wir sind anderer Meinung, was die Verhältnismäßigkeit und die Erfolgsaussichten des Verteidigungskrieges anbelangen.
Die Idee der Verhältnismäßigkeit besagt, dass es einen Punkt des Gleichgewichts gibt zwischen der Gerechtigkeit, die ein Krieg verficht, und den Kosten, die er verursacht. Ein Streben nach Gerechtigkeit, das Folgen nach sich zöge, die über diesen Gleichgewichtspunkt hinausgehen, wäre falsch, selbst wenn ein Sieg möglich ist. Kein Gut ist jeden Preis wert. In der wissenschaftlichen Literatur zur Theorie des gerechten Krieges wird fortlaufend diskutiert, wie dieser Punkt genau zu verstehen und wie er zu rechtfertigen ist.
Außer Frage steht aber, dass Merkel sich mit seiner Zurechnung der Folgen des ukrainischen Verteidigungskrieges täuscht. Er scheint die irrtümliche Ansicht zu vertreten, dass, sollten die moralischen Gesamtkosten des Krieges vorhersehbar massiv sein, die Ukraine aus Gründen der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sei, den Krieg zu beenden - unabhängig davon, welche Partei das Elend erzeugt. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit erfordert zwar, wie gesagt, die Folgen der Kriegsführung in Grenzen zu halten. Allerdings unterscheidet Merkel nicht klar zwischen Kosten, die auferlegt, und Kosten, die erlitten werden. Seine Sichtweise würde der Ukraine aufgrund russischer Kriegsverbrechen die Verantwortlichkeit aufbürden, den Frieden zu suchen.
Da politisch viel auf dem Spiel steht, ist moralische Klarheit ausgesprochen wichtig. Deshalb möchte ich näher erläutern, warum sich Merkel irrt. Zunächst behauptet er, dass die Ukraine die Verantwortung für die Todesfälle in dem polnischen Dorf Przewodów nicht von sich weisen könne, falls sie sie tatsächlich verursacht habe, um sich vor einem russischen Angriff zu schützen. Es stimmt: Unbeabsichtigte Todesfälle sind auch jenen anzulasten, die für eine gerechte Sache kämpfen. Obwohl die Ukraine die Kriegsopfer nicht beabsichtigt hat, hat sie sie herbeigeführt. Deshalb sind sie ihr zuzuschreiben, obwohl sie mit ihrem Verteidigungskrieg zweifellos eine gerechte Sache verfolgt.
Erstaunlicherweise ist der polnische Fall jedoch das einzige konkrete Beispiel für eine ukrainische Verantwortlichkeit, das Merkel heranzieht, um die übermäßig hohen Kosten des Verteidigungskrieges zu betonen. Im Vergleich zu den Todesopfern und dem gewaltigen Elend, das die russische Terrorkampagne mit ihren gezielten Angriffen auf die Bevölkerung sowie die Infrastruktur des Landes verursacht hat, war das ukrainische Militär bemerkenswert zurückhaltend. Die Vielzahl russischer Verbrechen als Grund gegen den Verteidigungskrieg der Ukraine gelten zu lassen ist jedoch schlicht Opferbeschuldigung: "Die Ukraine mag diesen Krieg am Ende gewinnen können, politisch und vielleicht auch militärisch, aber allenfalls mit einer Zerstörungsbilanz, die dem Begriff eines solchen Sieges keinen fassbaren Sinn mehr einräumt." Das Elend wird nicht nur jenen angelastet, die es auferlegen, sondern auch jenen, die es erleiden.
Merkel antizipiert den Vorwurf der Opferbeschuldigung, doch sein Ausweichmanöver misslingt. Die Ukraine trage Verantwortung für die Destruktivität des Krieges, behauptet er, obwohl Russland der Täter sei: "Regierungen haben Schutzpflichten gegenüber den Bürgern ihrer Länder. Dazu gehört auch die Verteidigung des Staates gegen Aggressoren, aber der Schutz von Leib und Leben und Zukunft seiner Bürger ebenso." Das ist in diesem Zusammenhang keine moralisch überzeugende Sichtweise. Jeder Verteidigungskampf kann dazu führen, dass der Aggressor die Bürger des sich verteidigenden Staates malträtiert und ermordet. Dies gegen die Gerechtigkeit des Grundes, sich zu wehren, aufzuwiegen hätte zur Folge, dass Verteidigungskriege rasch unverhältnismäßig wären. Der Invasor müsste einfach genug Unheil anrichten. Das Kernproblem ist, dass die Dimension des Leids ausreichen würde, um einen Verteidigungskrieg zu delegitimieren.
Anders sähe es aus, wenn die Bürger der Ukraine gegen ihr Leid protestieren und von ihrer Regierung fordern würden, Konzessionsverhandlungen aufzunehmen. In dieser kontrafaktischen Situation würde sich Merkels Behauptung, dass die ukrainische Regierung eine Ex-bello-Pflicht habe, auf das schwindende Vertrauen in die Legitimität des Verteidigungskrieges berufen. In der derzeitigen Berichterstattung gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass viele Ukrainer solche Ansichten tatsächlich vertreten. Kurzum, die Aussage, die ukrainische Regierung schulde es ihren Bürgern, umgehend eine Verhandlungslösung zu suchen, ist nicht haltbar.
Letztlich sind es vier Gründe, die dafür sprechen, dass die Ukraine das Recht hat, ihren Kampf fortzusetzen. Erstens ist das Ziel, den russischen Beherrschungsversuch abzuwehren, gerecht. Zweitens ist der Einsatz des Militärs hierfür das einzig wirksame Mittel. Drittens sei daran erinnert, dass, obgleich die Erfolgsaussichten schwer abzuschätzen sind, die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen Sieges von Anfang an unterschätzt worden ist. Zuletzt: Solange man der Ukraine nicht fälschlicherweise die Schandtaten des ungerechten russischen Eroberungskrieges indirekt zuschreibt, sind ihre Verteidigungsbemühungen verhältnismäßig.
Damit soll nicht gesagt sein, dass nie ein Zeitpunkt erreicht werden kann, an dem Verhandlungen ein vernünftiges Mittel wären, um die Feindseligkeiten zu beenden. Doch die Anwendung des ius ex bello auf den Ist-Zustand hat nicht zur Folge, dass sich die Ukraine mit Konzessionen um eine Lösung bemühen sollte. Diese Schlussfolgerung beruht auf einem moralischen Missverständnis.
Darrel Moellendorf lehrt Internationale politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Sein Artikel wurde von Amadeus Ulrich aus dem Englischen übersetzt.

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Feuilleton, Seite 12 vom 17. Januar 2023

Philosophieprofessor Forst. Der Goethe-Universität treu geblieben

Als Erster in der Familie auf dem Gymnasium, heute ein Weltendeuter: Philosophen können über alles nachdenken, sagt Rainer Forst.

Von Constanze Kleis

Immer denkend, immer nachdenkend, so hat sich Jürgen Habermas einmal an seinen Lehrer Theodor W. Adorno erinnert. Ähnliches lässt sich auch bei Rainer Forst vermuten. Die Indizien jedenfalls sind erdrückend. Die enormen Bücher- und Manuskriptstapel aus dem Großraum politische Philosophie in seinem Büro, die Liste seiner Auszeichnungen und Aufgaben. Eine unvollständige Aufzählung: Der Professor für Politische Theorie und Philosophie ist Mitbegründer und Ko-Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen an der Goethe-Universität. Er ist Direktor des Justitia Center for Advanced Studies und Ko-Sprecher einer vom Land Hessen geförderten Forschungsinitiative, die sich mit Vertrauensfragen befasst. Er ist beteiligt am nationalen Institut zur Erforschung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Der Achtundfünfzigjährige ist Träger des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises, Mitglied diverser Akademien. Man könnte gegenüber einem so ausgewiesen klugen Kopf ein wenig von dem verspüren, was in der Psychologie Schwellenangst genannt wird. Braucht man aber nicht.
Forst hat die bemerkenswerte Fähigkeit, das manchmal so sperrige Terrain der politischen Philosophie auch für ein Publikum außerhalb des Wissenschaftsbetriebs nicht nur gangbar, sondern spannend zu machen. Wie das gelingt - auch darüber denkt er nach. Genauso über Freiheit und Gerechtigkeit, über Toleranz und Teilhabe, über Rechte und Prinzipien. Und gelegentlich auch darüber, wie das nächste Heimspiel der Eintracht Frankfurt in den meist übervollen Terminkalender passt.
"Wann immer es geht, treffe ich mich mit meinem Sohn im Stadion", sagt er. Forst, ein großer Fan, mit dem entsprechenden Erregungsniveau und selbstverständlich im Besitz einer Dauerkarte, erzählt, wie er als Kind davon träumte, Fußballstar zu werden. Damals, in Niederseelbach im Taunus, wo er mit einer älteren Schwester als Sohn eines Schmiedemeisters und einer Sekretärin aufwuchs. "Ich war ein typisches Siebziger-Jahre-Bildungsreform-Kind. Der Erste aus der Familie, der aufs Gymnasium ging."

Wissenshungrig und neugierig
Mit sechzehn, mitten in den hochpolitisierten Achtzigerjahren, wird er von der Friedens- und Ökologiebewegung zu den großen Fragen des Lebens gebracht. "Wenn man sich für eine gerechtere Gesellschaft engagiert, was bedeutet das dann eigentlich genau? Die Frage beschäftigt mich bis heute", sagt er. Logische Konsequenz damals: Er liest die Frankfurter Schule und Bloch. Und beginnt, nach dem Zivildienst in einer Schule für behinderte Kinder, Philosophie, Politikwissenschaften und Amerikanistik zu studieren. In Frankfurt, aber auch in New York. Gefördert von Stipendien und vom Vertrauen seiner Eltern.
Jürgen Habermas, den er "einen grandiosen Professor" nennt, hielt offenbar viel von seinem Studenten Rainer Forst. "Er ist mir von Anfang an mit großer Wertschätzung begegnet und hat mir viele Möglichkeiten eröffnet, auch als ich den Plan fasste, nach Harvard zu John Rawls zu gehen." Bei Rawls (1921- 2002) lernt Forst dessen Auffassung der politischen Philosophie als Theorie der Gerechtigkeit aus nächster Nähe kennen. "Was Rawls trug und auch sein Werk prägt, war eine tiefe Überzeugung nicht nur von der gleichen Würde aller Menschen, sondern auch davon, dass es eine Anmaßung sei, hervorstechen zu wollen."
Diesen Eindruck bringt Forst mit zurück nach Deutschland und, wie er heute sagt, auch "eine ganze Reihe interessanter Diskussionen". Darunter die um den Kommunitarismus, aus der dann bei Habermas eine Dissertation entsteht 1993 promoviert Forst über "Kontexte der Gerechtigkeit". Seine Arbeit wird bei Suhrkamp als Buch veröffentlicht. Es ist das erste von vielen, die noch folgen werden, in viele Sprachen übersetzt und selbst der Gegenstand einer Reihe von Diskussionsbänden. Zum Zeitpunkt der Promotion ist Forst seit vier Jahren verheiratet. Fünf Jahre später wird das Paar Eltern der Zwillinge Jonathan und Sophie. Forst ist damals wissenschaftlicher Assistent und Gastprofessor in Berlin, Frankfurt und an der New School for Social Research in New York und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Toleranz.

Mit Frankfurt verbunden
"Damals gab es eine große Diskussion zur Frage 'Gehört der Islam zu Deutschland?'" Ins Thema hat er sich nicht bloß knie-, sondern gleich marianengrabentief eingearbeitet, findet die Vorläufer moderner Argumente für und gegen Toleranz bei den Kirchenvätern, in der Antike. Das Ergebnis, seine Habilitationsschrift 2003, gilt heute bereits als Klassiker: "Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs". Gleich darauf folgt er dem Ruf an die Frankfurter Universität auf den Lehrstuhl für Politische Theorie und Philosophie. Angebote aus Princeton und der Universität von Chicago lehnt er ab, später auch das, Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin zu werden, ein Max-Planck-Institut zu leiten, er blieb trotz verlockender Alternativen der Stadt, die ihn formte, treu wie der Fußballstar Lionel Messi dem FC Barcelona, wo er als Jugendlicher anfing.
Warum ist er geblieben? Es sei nicht so, dass er überaus sesshaft sei, sagt Forst. Aber es hätten sich in Frankfurt immer wieder beruflich interessante Optionen aufgetan, nicht zuletzt durch den Exzellenzcluster Normative Ordnungen, ähnlich auch für seine Frau, die heute Studiendirektorin ist. "Außerdem war da ja immer auch die Frage: Wo sollen unsere Kinder aufwachsen und wo wollen wir leben?" Die Welt sieht Forst ohnehin; seine Arbeit ist mit einer regen Reisetätigkeit verbunden. Er hat Gastprofessuren und Fellowships an der New School, dem Dartmouth College in New Hampshire, der University of Washington in Seattle, der Rice University in Houston, der New York University und der University of Michigan, andere Angebote brachte er im Terminplan nicht unter.
Unlängst verbrachte er mit dem Rechtswissenschaftler Christoph Möllers und dem Politikwissenschaftler Michael Zürn im Rahmen eines Fellowship-Programms drei Monate in Los Angeles im legendären Thomas-Mann-Haus. "In der Nachbarschaft leben Jennifer Lopez und Steven Spielberg, und Kurt Russell haben wir abends mit dem Hund durch die Straßen gehen sehen." Los Angeles sei der perfekte Ort für die Kritische Theorie: "Das teuerste Privathaus der Welt steht dort. Gleichzeitig ist Skid Row, das Viertel mit der größten Population von Wohnungslosen in den Vereinigten Staaten, nicht weit entfernt. Oder auch Welten entfernt, wie man es nimmt."
In Los Angeles wurde aber nicht nur geforscht und debattiert, sondern auch Fußball gespielt. "Die Mann-Haus-Fellows gegen die Fellows aus der Aurora-Villa. Wir haben uns eigentlich ganz gut geschlagen. Aber nach zwei Stunden mussten wir auf Spielabbruch drängen. Die Gegner waren alle jünger als wir."
Früher, im Kolloquium von Axel Honneth, erinnert sich Rainer Forst, traten im Frankfurter Grüneburgpark schon mal die Hegelianer gegen die Kantianer an. "Mit imaginären Toren,", die nur so ungefähr mit je einer Büchertasche links und einer rechts markiert waren. Man habe sich darauf einigen müssen, ob der Ball nun drin war oder drüber oder zu weit links oder rechts. "Als Kantianer sage ich objektiv, die Hegelianer haben regelmäßig betrogen." Philosophie kann sehr sportlich und sehr lustig sein. Aber sie steht auch unter Performance-Druck. Selbstverständlich ist das Zentrum für Normative Ordnungen auf Twitter und regelmäßig in den Medien präsent.

Nicht nur schlaue Bücher
Letzteres auch, weil Rainer Forst neben allem anderen auch ein guter Brückenbauer ist, seine Themen denen vermitteln will und kann, die darin ortsfremd sind. "Die Universitäten haben sich allgemein gewandelt. Sie sind viel stärker ein Teil der Gesellschaft geworden." Ihm gefällt es, gefragt zu werden. "Was tut ihr da eigentlich? Was findet ihr da raus?" Auch er fragt gern, hört zu, ist an allem und jedem interessiert. Er lehrt, hält Vorträge, berät politische Parteien und Ministerien, er ist Mitglied der Expertenkommission Paulskirche, er schreibt Beiträge für Zeitungen, auch für die F.A.Z., und verfasst Bücher. Zuletzt erschien, bei Suhrkamp, "Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant" (Suhrkamp).
Wer schreibt, muss lesen. Es kann schon mal sein, dass Forst 20 Bücher im Gepäck hat, wenn er mit Frau, Tochter Sophie, die Literaturwissenschaften studiert, und Sohn Jonathan, der sich für Jura entschieden hat, nach Südfrankreich reist. "Wissenschaft ist letztlich auch ein anstrengendes Geschäft, wo man auch mal eine ruhige Phase braucht, in der man sich länger mit den Büchern zurückzieht." Rein philosophisch sei seine Ferienlektüre aber nicht, sagt er auch.
Zur Entspannung tragen außerdem E-Bike-Fahrten durch den Taunus, Gespräche mit Freunden, im Sommer im Garten, und viele Konzert- und Theaterbesuche bei. Einmal wurde der Philosophieprofessor gefragt, ob er auch über Schwachsinn nachdenke. Seine Antwort: "Die Frage, was Schwachsinn ist und wieso er sich verbreitet oder, wie Harry Frankfurt es mal genannt hat, 'bullshit', ist auch eine philosophische Frage. Philosophen können über alles nachdenken." Und wenn es richtig gut läuft, bringen sie andere zum Nachdenken.

Von Constanze Kleis aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Dezember 2022. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Sündige Liebe? Die Konferenz "Queer Islam" in Frankfurt

Homosexualität im Islam ist ein Tabuthema. Das gilt auch für deutsche Universitäten. Wer die Konferenz "Queer Islam" am Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam betreten wollte, musste zunächst die Sicherheitskontrolle passieren. Im Innenraum erinnerten Personenschützer daran, dass Wissenschaftler, die sich frei dazu äußern, ihr Leben riskieren. Im Internet hatte es die üblichen Anfeindungen gegeben, unter anderem von Studenten der islamischen Theologie.
Zunächst die Fakten: In 22 islamisch geprägten Ländern ist Homosexualität verboten, in zehn steht darauf die Todesstrafe. Die Islamische Republik Iran hat seit 1979 rund viertausend Todesurteile gegen Homosexuelle vollstreckt, die zur öffentlichen Abschreckung an Baukränen aufgehängt werden. Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990, die von 57 Staaten unterzeichnet wurde, stellt Homosexualität unter Scharia-Vorbehalt. Heißt: Schwule haben nicht die gleichen Rechte.
Nach der Darstellung von Mouhanad Khorchide, Professor für islamische Theologie an der Universität Münster, geht die Ächtung aber nicht eindeutig aus dem Koran hervor. Das entsprechende Wort für sündiges Triebverhalten tauche dort nicht auf. Von vielen Rechtsgelehrten würde Homosexualität dennoch als Sünde betrachtet. Der Deutung des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer, die juristische Ächtung habe sich erst seit dem neunzehnten Jahrhundert durchgesetzt und habe in glattem Widerspruch zu einem sexuell freizügigen Alltagsleben gestanden, stieß bei Khorchide auf Skepsis. Es habe schon im neunten Jahrhundert Todesurteile wegen Homosexualität gegeben.
Anders ist es mit Transsexualität und Transgender. Beides wird in islamischen Ländern teilweise geduldet, weil es die traditionelle Geschlechterordnung wiederherstellt. Freilich gilt das nur für Männer, weibliche Sexualität hat keinen Platz im öffentlichen Leben. Susanne Schröter, die Direktorin des Forschungszentrums Globaler Islam, wies etwa hin auf die Hidschras in Pakistan, eine Gruppe von Transgenderpersonen, die religiöse Funktionen wie die Kindssegnung übernehmen und dafür sogar von den erzfundamentalischen Barelvi unterstützt werden, oder die Waria in Indonesien. Man darf in solchen Gruppen aber keine Vorkämpfer sexueller Emanzipation sehen. Sie werden von traditionellen Werten zusammengehalten. Die Waria distanzierten sich öffentlich von der LGBTQ-Bewegung. Solche Gruppen sind, wie Schröter herausstellte, nicht mehr als kleine Inseln am Rande der Gesellschaft und würden zunehmend angefeindet.
Der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour führte die Homosexuellenfeindschaft primär auf die patriarchale Tradition zurück, die mit der Religion in einem einträglichen Wechselverhältnis lebt. Im Patriarchat ist Sexualität tabu. Die Folgen seien sexuell komplett verunsicherte Menschen, die auf das Thema Sexualität mit heftiger Abwehr reagieren. Wer in diesem Umfeld (und das sind beileibe nicht alle muslimischen Familien, wie Mansour betonte) seine Homosexualität entdeckt, empfindet oft Scham und Ekel und riskiert, wenn er sie auslebt, schwere Zerwürfnisse und tiefe seelische Krisen.
Von ihnen erzählte Tugay Sarac, der mit der Aktion "Liebe ist halal" homo- und transsexuellen Muslimen einen Schutzraum bietet. Viele von ihnen haben mit ihrer Familie gebrochen (oder diese mit ihnen), fühlen sich einsam und ausgestoßen. Bei seiner Aufklärungsarbeit an Schulen schlug Tugay Sarac teils hasserfüllte Ablehnung entgegen. Mit Morddrohungen muss das Projekt, das an der liberalen Ibn Rushd-Goethe Moschee angesiedelt ist, seit Beginn leben. Dass es vom Berliner Senat ignoriert wird, ist absurd und gefährlich. Homosexualität kann eine Radikalisierungsquelle sein: Man versucht, sich vom Makel des angeblich sündhaften Triebs zu reinigen, indem man sich dem Fundamentalismus zuwendet. Tugay Sarac weiß das aus eigener Erfahrung.
Auch "Liebe ist halal" ist bislang nur eine kleine Insel. Was muss geschehen, damit mehr daraus wird? Ahmad Mansour forderte die Politik auf, ihre Doppelmoral abzulegen und offen über die Homophobie in muslimischen Milieus zu sprechen, übrigens auch unter Studenten der islamischen Theologie, wie Khorchide hinzufügte. Auch die islamische Theologie könnte zur Aufklärung beitragen. Dazu müsste sie aber erst einmal bereit sein, überhaupt darüber zu sprechen.

Von Thomas Thiel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Oktober 2022, Forschung und Lehre (Natur und Wissenschaft), Seite N4.© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Das Selbstbild des Westens. Ist denn der Westen für alle Übel dieser Welt verantwortlich?

Politischer Narzissmus: Susanne Schröter geht mit einem verbreiteten Selbstbild des Westens ins Gericht
Narzissmus und Selbsthass: Ob Arabischer Frühling oder Afghanistan, immer wieder scheitert der demokratische Aufbruch an lokalen Traditionen. Die Ethnologin Susanne Schröter plädiert für einen realpolitischen Kurswechsel.

Von Thomas Thiel

Seit dem Rückzug aus Afghanistan und dem Ukrainekrieg hat sich zur Gewissheit verdichtet, dass die westliche Politik seit dem Fall der Mauer auf falschen Annahmen fußte. Der Glaube an die Exportierbarkeit der Demokratie vernachlässigte den Eigensinn von Kulturen und Traditionen, in denen die individuelle Freiheit kein großes Ansehen genießt und sich keine Zivilgesellschaft herausgebildet hat, auf denen eine Demokratie aufbauen könnte. Vom Arabischen Frühling über Afghanistan bis Mali zeigte sich immer dasselbe Bild: der demokratische Aufbruch zerschellte an lokalen Traditionen, seien es die staatsfernen Stammesgesellschaften in Afghanistan oder der weithin akzeptierte politische Nepotismus in Mali. Militärische Interventionen wie im Irak hinterließen ein Scherbenfeld und einen Nährboden für autokratische Regime und den Dschihadismus.
Für die Ethnologin und Islamforscherin Susanne Schröter ist das politische Scheitern eine Folge von Hybris und Selbsthass. Man stellte sich andere Länder und Regionen nach dem eigenen Bild als gelehrige Schüler vor, die im Prinzip die gleichen Werte teilen und durch Dialog und Handel dazu gebracht werden könnten, sie endlich politisch zu verwirklichen. Zugleich desavouierte man diese Werte im Inneren durch eine Identitätspolitik, die in grandioser Einseitigkeit und auf dünnster empirischer Grundlage ein Zerrbild des Westens zeichnet, der für alle Übel dieser Welt verantwortlich gemacht wird.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nun ausgerechnet eine Partei die realpolitische Wende herbeiführen muss, die tief in diesen Irrweg verstrickt ist. In ihrer konzisen Rekapitulation des Ukrainekriegs zeichnet Schröter ein verheerendes Bild insbesondere von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich mit dem russischen Präsidenten noch solidarisierte, als dessen zerstörerische Ambitionen offensichtlich waren. Den russischen Präsidenten Putin stellte man unter Welpenschutz und gab ihm sehenden Auges die energiepolitische Waffe an die Hand, mit der er Europa heute in die Abhängigkeit anderer Autokratien treibt. Schröter verschweigt den breiten parteipolitischen und intellektuellen Flankenschutz nicht, auf den Steinmeier sich dabei verlassen konnte.

Die Verklärung des Fremden in der Identitätspolitik

An die ausgerufene Zeitenwende glaubt sie nicht. Im Gegenteil: Im Inneren nähre man weiter die Übel, die man außenpolitisch bekämpft. Der Clou von Schröters weitem Bogenschlag besteht in der Konsequenz, mit der sie geopolitische Ereignisse mit intellektuellen Strömungen und ihren innenpolitischen Reflexen ins Verhältnis setzt und daraus die Widersprüche hervortreibt, die für das Scheitern verantwortlich sind. Der überwölbende Widerspruch liegt für sie darin, dass sich der Westen an Gerechtigkeitsmaßstäben misst, die er anderen erspart. Dass er diesen Maßstäben oft nicht gerecht wird und Interessenspolitik moralisch verkleidet, wird von Schröter nicht übergangen. Trotzdem sei das Bild schief: Wer westlichen Imperialismus anklagt, dürfe über russischen oder chinesischen Imperialismus nicht schweigen. Wer mit dem transatlantischen Sklavenhandel ins Gericht geht, müsse ihn zum innerafrikanischen Sklavenhandel und jenem in muslimisch geprägten Ländern ins Verhältnis setzen, die ihm an Brutalität und Volumen nicht nachstehen.
Die Realitätsverkennung hat nach Schröter einen langen Vorlauf in der Geschichte einer Linken, die aus ideologischer Bequemlichkeit über Millionen Tote in der Sowjetunion, China, Kambodscha oder Vietnam schweigend hinwegging oder die Gewalttäter noch verherrlichte. Dazu gesellt sich bis heute ein maßloser Antiamerikanismus, der, wie Schröter herausstellt, teils berechtigte Motive hat, dessen Vertreter sich im Ernstfall jedoch bequem unter den amerikanischen Schutzschild zurückziehen. Das Leitmotiv ist auch hier ein intellektueller Narzissmus: Befreiungsbewegungen in anderen Kulturen werden pauschal die eigenen revolutionären Motive unterstellt, wovon man oft auch dann nicht ablässt, wenn dies, wie in der iranischen Revolution, enttäuscht wird.
Ihre neue Gestalt hat die Verklärung des Fremden in der Identitätspolitik, die alle Kulturen bis auf den Westen gegen Kritik zementiert und zugleich den Vorwand liefert, sich nicht mit ihnen zu beschäftigen. Den Universitäten, insbesondere den Geistes- und Sozialwissenschaften, schreibt Schröter eine große Schuld für diese politisch folgenreiche Blickverzerrung zu. Ihr intellektueller Sündenfall bestehe darin, der Behauptung, westliche Staaten seien breitflächig von einem unentrinnbaren Rassismus durchzogen, der keines empirischen Nachweises mehr bedürfe, etwa in Form der kritischen Rassentheorie wissenschaftliche Weihen zu verleihen und Kritik zu tabuisieren.

Verzicht auf Interventionismus

Den Keim für diese subjektivistische Wissenschaft legte für Schröter die Frauenforschung, die ihre Akteure auf Parteilichkeit und unkritisierbare Authentizität einschwor. Die Gendertheorie beerbte sie mit dem Schulterschluss mit der Identitätspolitik, was in der Praxis dazu führt, dass über Gewalt gegen Frauen in patriarchalen Staaten und Subkulturen regelmäßig geschwiegen wird, ja kritische Stimmen aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden. Zu wissenschaftlicher Methodik und dem linken Universalismus steht der identitätspolitische Partikularismus eigentlich in krassem Gegensatz. Trotzdem wird er von Politikern, Kirchen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen bereitwillig fortgetragen. Lieber werden breite Teile der Bevölkerung mittels eines inflationären Rassismusvorwurfes unter Verdacht gestellt, als sich den Konflikten der Integrationspolitik zu stellen. Schröter schreibt, dass der Kampf gegen Kränkungen und Mikroaggressionen nicht Sache der Politik ist, die sich sonst in totalitäres Fahrwasser begibt.
Wer ihre unnachgiebige und scharfsichtige Analyse gelesen hat, wird sich über politische Fehleinschätzungen der Vergangenheit nicht wundern. Die geforderte Zeitenwende kann sich demnach nicht auf energiepolitische und militärische Maßnahmen beschränken. Es bedarf einer grundlegenden Korrektur des Selbstbildes, für die es noch wenig Anzeichen gibt. Was sich als Verständnis für fremde Kulturen ausgab, war oft nur ein Vorwand dafür, kurzfristige ökonomische Interessen zu legitimieren, oder der Wunsch nach Selbstbestätigung im anderen.
Schröter zieht daraus eine realpolitische Lektion: Verzicht auf Interventionismus und den Glauben, man könne eine Staatsform, die auf Freiwilligkeit beruht, militärisch oktroyieren. Der Preis ist die Entsolidarisierung mit Menschen, die dort für Freiheit kämpfen. Freilich war ihnen mit einer Interventionspolitik, die auf idealisierten Annahmen beruhte, siehe Afghanistan, nicht geholfen. Das Buch schließt mit einem Appell, errungene Freiheiten nicht einem kleinmütigen Selbsthass zu opfern. Woher die Bereitschaft zur Selbstdemontage kommt, wäre wohl nur durch eine nähere Analyse des westlichen Individualismus zu erfahren, für die das Buch den Ansatzpunkt liefert.
Susanne Schröter: "Global gescheitert?" Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass. Herder Verlag, Freiburg 2022. 240 S., br., 20,- Euro.

Von Thomas Thiel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. Oktober 2022. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Koran, Knabenliebe und Transgender

Bei der Konferenz "Queer im Islam" wird über das Verhältnis von Religion und Sexualität debattiert

Dass er Männer begehrt, darüber konnte Tugay Sarac nicht sprechen, nicht mit seiner Mutter, nicht mit seiner Schwester, nicht mit seiner Tante. Als er bemerkte, dass er homosexuell ist, reagierte er darauf auf irrationale Weise: Er radikalisierte sich und wurde Islamist. Ein konvertierter Hassprediger nahm den jungen Mann unter seine Fittiche, Sarac wurde zu einem Verfechter eines besonders konservativen Islams. Auf Kritik an seiner Religion reagierte er aggressiv.
Diese Zeiten sind lange vorbei, von den Islamisten hat Sarac sich gelöst. Heute lebt er offen schwul. Und er unterstützt andere, die Angst davor haben, sich zu outen, kämpft um mehr Akzeptanz für queere Muslime. Sein Arbeitsplatz ist die Anlaufstelle Islam und Diversity, sie ist Teil der von der Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates gegründeten progressiven Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin-Moabit.
Zu Saracs Job gehören auch Workshops in Schulen. In der Goethe-Universität, in einem Saal im Gebäude des Forschungsverbunds "Normative Ordnungen", berichtete er am Freitag von einem dieser Besuche. In einer Grundschulklasse mit 17 Schülern, die alle Wurzeln in der Türkei haben, stellte er die Frage: Ist Homosexualität verboten? Zwölf von ihnen bejahten die Frage. Einen Grund dafür aber konnten sie nicht nennen. "Die Kinder sagen das nicht, weil sie daran glauben, sondern weil sie es eingetrichtert bekommen", sagt Sarac.
Sind Muslime besonders queerfeindlich? Welche Gründe kann das haben? Und was lässt sich dagegen unternehmen? Um diese Fragen kreiste die Konferenz "Queer im Islam". Dazu eingeladen hatte Susanne Schröter, die Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, das Teil des Forschungsverbunds "Normative Ordnungen" ist. Schirmherr der Veranstaltung mit vier Vorträgen und einer Podiumsdiskussion war der hessische Sozialminister Kai Klose (Die Grünen).
Der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour kam mit Personenschützern zu der Konferenz. Wegen seiner oft scharfen Kritik an Einwanderermilieus, denen er fehlende Integrationsbereitschaft vorwirft, wird er schon länger bedroht und beleidigt. In seinem Vortrag erklärte Mansour die Ablehnung von Homosexualität durch Muslime damit, dass in vielen Familien noch immer patriarchale Strukturen herrschten. Ein großer Teil der Familien sei weiterhin wie eine Pyramide strukturiert: An der Spitze stehe das männliche Familienoberhaupt, "der Vater, der Opa oder ein älterer Onkel". Sexuelle Freiheit würde dieses Modell auf radikale Weise infrage stellen, darum werde jede sexuelle Identität jenseits der heteronormativen Form vehement abgelehnt.
Sexualität ist, so Mansour, in diesen Familien ein Tabuthema, Jungen und Mädchen lebten parallel nebeneinander, Nacktheit sei verpönt, jede Form von Abweichung werde als Bedrohung wahrgenommen, weil sie das tradierte Lebensmodell infrage stelle.
Doch macht er es sich damit nicht zu einfach, schert er mit seiner Erklärung nicht alle Muslime über einen Kamm? Mansour kennt diese Kritik, und er gestand auch ein, dass sie berechtigt ist. "Mir geht es nicht um Verallgemeinerungen", sagte er auf der Konferenz. Natürlich sind die "muslimischen Communitys" oft vielfältiger, als sie wahrgenommen werden. Ein Beharren auf patriarchalen Strukturen sei dennoch nicht zu übersehen.
Mansour wünscht sich, dass der Staat dagegen stärker angeht, notfalls auch mithilfe von Sanktionen. So plädiert der Psychologe etwa dafür, dass muslimische Eltern ihre Töchter nicht mehr vom Schwimmunterricht befreien dürfen. Vorgehen solle der Staat auch gegen die Finanzierung von muslimischen Gemeinden aus dem Ausland, etwa aus der Türkei oder aus Saudi-Arabien. Denn mit dem Geld komme oft auch ideologische Infiltration daher.
Diskutiert wurde auf der Konferenz auch darüber, ob die Ablehnung von Homosexualität und Transidentitäten tatsächlich zum Kern der muslimischen Religion gehört. Lässt sich zum Beispiel aus dem Koran wirklich herauslesen, dass homosexuelle Handlungen den Prinzipien der Religion widersprechen? Mouhanad Khorchide, der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität in Münster, stellte das in seinem Vortrag, mit dem die Konferenz am Freitag eröffnet wurde, infrage. Er stellte Islamwissenschaftler und Koran-Exegeten vor, die zu ganz anderen Schlüssen gekommen sind, die etwa der sogenannten "Knabenliebe" eine große Rolle in der muslimischen Welt zusprechen. Auch homoerotische Gedichte von anerkannten Religionsgelehrten könnten, so Khorchide, der These widersprechen, dass Homosexualität im Islam schon immer verteufelt worden sei.
Auf irritierende Paradoxien wies Susanne Schröter in ihrem Vortrag hin. Anhand von Beispielen aus Oman, Pakistan und Indonesien zeigte sie, dass ein Leben als Transperson unter bestimmten Umständen in muslimischen Gesellschaften keinen Bruch mit der Norm darstelle, sondern akzeptiert sei. Die Existenz eines "dritten Geschlechts" werde dabei oft nicht nur anerkannt, sondern sei, wie bei den in Pakistan lebenden Hijras, Männern, die sich als Frauen fühlen und kleiden, sogar mit religiösen Praktiken verbunden. Selbst in Iran, wo Homosexuelle mit der Todesstrafe bedroht werden, sind Geschlechtswechsel erlaubt. Transgender gilt dort nicht als Vergehen, sondern als Schicksal.
Das jedoch heiße nicht, dass diese Länder tatsächlich auf dem Weg sind, liberaler zu werden, stellte Schröter klar. Die Offenheit gegenüber bestimmten Formen der sexuellen Grenzüberschreitung existiere meist gleichzeitig mit einer brutalen Repression gegenüber homosexuellen oder queeren Menschen. Um Freiheiten und für von der Norm abweichende Lebensentwürfe müsse weiter gekämpft werden.

Von Alexander Jürgs aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Oktober 2022, Frankfurt (Rhein-Main-Zeitung), Seite 32. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.


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