"Mädchen ohne Kopftuch werden gemobbt"
Im Gespräch: Susanne Schröter, Leiterin des Forschungszentrums Globaler Islam
In Hessen gebe es die Gefahr von Parallelgesellschaften, warnt die Islam-Expertin Susanne Schröter. Die Politik sei oft zu blauäugig oder ignorant. Die Folgen zeigten sich schon auf Schulhöfen.
Gehört der Islam zu Deutschland?
Die Debatte war von Anfang an hochsymbolisch. Dem damaligen Bundespräsidenten Wulff hat diese These zwar viele Sympathien bei Muslimen eingebracht, sie war aber immer schon in allen Parteien umstritten. Die Gegenthese, wie sie nun Bundesinnenminister Seehofer aufgestellt hat, ist vor dem Hintergrund des Wahlkampfes in Bayern zu sehen. Es war ein Versuch, Emotionen zu bedienen. Wie wenig Substanz dahintersteckt, wird schon daran deutlich, dass Seehofer angefügt hat, an dem Verhältnis zu Muslimen werde sich nichts ändern.
Und was ist für Sie im Verhältnis zu den Muslimen wichtig?
Die Frage, welche Form des Islams sich mit unseren Werten und Normen verträgt. Wer sagt, er orientiert sich an der Scharia, dem muss klar sein, dass er in Konflikt mit den hier geltenden Gesetzen gerät. Diese Person darf dann außerdem keine Musik hören, nicht zeichnen, muss beim Essen aufpassen. So zu leben kann gerade für Jugendliche zu einer Qual werden. Sie gehen nicht mehr auf Geburtstage, nehmen nicht an Schulfesten oder am Sportunterricht teil. Und werden damit zu Außenseitern, was eine Integration erheblich erschwert. Aber auch die kulturelle Prägung der Herkunftsregion hat immensen Einfluss. Vor allem dann, wenn es um die Ehre geht. Das wird dann mitunter religiös verbrämt mit Versen aus dem Koran.
Zum Beispiel?
Etwa, dass Frauen gehalten seien, die Augen niederzuschlagen und sich zu bedecken. Ob so etwas kulturell oder religiös kodiert ist, ist im Ergebnis gleichgültig. Wichtiger ist, wie es jungen Menschen ermöglicht wird, sich in unserer Gesellschaft zurechtzufinden, unbeschwert zu leben und eine gute Ausbildung zu bekommen. Wenn dies nicht gelingt, dann haben vor allem die Muslime ein Problem.
Einige Grundschulen dringen inzwischen darauf, dass Mädchen ohne Kopftuch zum Unterricht kommen. In welchem Maß sollte sich der Staat in dieser Frage einmischen?
Das ist eine heikle Frage. Grundsätzlich können Schulleiter und Schulämter bestimmen, was unter dem Aspekt des Miteinanders und des Kindeswohls zu akzeptieren ist. Das Kriterium ist stets, ob ein Verhalten den Schulfrieden gefährdet. Herrschen Verhältnisse, in denen Kinder unbeschwert lernen, sich entwickeln und entfalten können? Es gibt tatsächlich Schulen, in denen schon Erstklässlerinnen Kopftuch tragen. Übrigens weisen muslimische Eltern ihre Mädchen auch zunehmend dazu an, nicht mit Jungen zu spielen. Von Lehrerinnen mit Migrationshintergrund weiß ich außerdem, dass Mädchen, die kein Kopftuch tragen, von anderen muslimischen Schülern gemobbt werden. Das geht so weit, dass man sie fotografiert und ihnen droht, die Bilder über soziale Netzwerke mit Kommentaren wie "ehrloses Mädchen" zu verbreiten.
Und wie ist das mit dem Fasten? Auch da soll der Druck auf muslimische Schüler inzwischen hoch sein.
In einzelnen Fällen wohl schon. Nach meinen Beobachtungen gibt es teilweise eine Art Konkurrenz unter den Jugendlichen, wer schon gut fasten könne. Sogar Kinder vor der Pubertät versuchen durchzuhalten mit entsprechenden negativen Folgen für ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Eigentlich müssten Schulleiter sagen: Stopp, vor der Pubertät wird nicht gefastet! Und auch muslimische religiöse Autoritäten sollten klarstellen, dass der Islam das nicht verlangt, dass er im Gegenteil die Gesundheit der Gläubigen bewahren will.
Müsste da nicht das Kultusministerium klarer Position beziehen?
Eine einheitliche Linie auf dieser Ebene würde sicher vieles erleichtern. Im Moment müssen all diese Konflikte in den Klassen verhandelt werden. In manchen Fällen stellt sich die Schulleitung hinter die Lehrer, dann wird es für sie einfacher. Würde das Ministerium eine Position vorgeben, würden vermutlich viele Eltern sagen: Das akzeptieren wir dann. Denn der Islam verlangt von den Gläubigen, Gesetze und Regeln des Landes zu beachten, in dem sie leben.
Dieser Gruppenzwang schon unter Schülern scheint ja eine Parallelgesellschaft geradezu zu befördern. Muss man das akzeptieren?
Davor warne ich. Man sollte bedenken, wie die Entwicklung in anderen Ländern war, zum Beispiel in Frankreich, Belgien oder Großbritannien, wo es inzwischen verfestigte Parallelgesellschaften gibt. Das ist zum einen fatal für die Mehrheit der Bevölkerung, die sich aus manchen Vierteln völlig zurückgezogen hat. Der Staat bis hin zur Polizei ist dort kaum mehr präsent. Aber auch für die Menschen, die dort leben, ist das gefährlich. Dort sorgen dann nämlich Kräfte für Ordnung, die in einer demokratischen, offenen Gesellschaft inakzeptabel sind. Solche Entwicklungen dürfen nicht negiert werden.
Gilt das auch in der Frage des muslimischen Antisemitismus?
Da eiern die meisten herum.
Benutzen Sie selbst diesen Begriff?
Ja. Allerdings nicht, ohne hinzuzufügen, dass wir daneben auch einen neuen rechten Antisemitismus und einen angestammten einheimischen Antisemitismus haben. Der linke Antisemitismus wird ja übrigens auch eher verschämt thematisiert. Dabei ist er weiter virulent, wie gerade jetzt auf einer Demonstration am 1. Mai in Berlin sehr deutlich kundgetan wurde.
Was macht den muslimischen Antisemitismus aus?
Zum Teil sind die Menschen, die gegen Juden hetzen, mit tradierten Vorurteilen aufgewachsen. Dafür gibt es religiöse Wurzeln, aber auch Erklärungen in einer Israel-Feindlichkeit aufgrund des ungelösten Konfliktes um Palästina. Wenn aber, wie auch in Frankfurt geschehen, auf Demonstrationen Juden als Personen mit entsprechenden Parolen angegriffen werden, dann geht das über Israel-Feindlichkeit hinaus.
Besteht die Gefahr, dass sich die Aufmerksamkeit zu sehr auf diese Erscheinung des Antisemitismus verlagert?
Wichtig ist eine klare Position: Antisemitismus, gleich welcher Couleur oder Herkunft, ist keine Bagatelle. Dagegen muss entschieden vorgegangen werden.
Mit einem Kippa-Tag?
Das ist eine schöne Aktion. Aber was ist am nächsten Tag? Müssen da nicht Juden, die sich öffentlich zu ihrem Glauben bekennen, weiter Angst haben? Nicht ohne Grund rät schließlich der Zentralrat der Juden, die Kippa nicht in Großstädten zu tragen.
Die Übergriffe kamen ja nicht überraschend ...
Nein, das hat sich lange angebahnt. Denken Sie nur an die sogenannte Gaza-Demonstration 2014 in Frankfurt, als Teilnehmer einen Polizeiwagen enterten und über den Lautsprecher antisemitische Parolen riefen.
Was halten Sie von der Idee des hessischen Ministerpräsidenten, ähnlich wie in den sogenannten Rechtsstaatsklassen für erwachsene Flüchtlinge zugewanderten Kindern und Jugendlichen an Schulen das deutsche Wertesystem zu vermitteln?
Natürlich ist die Aufklärung über das Rechts- und Wertesystem wichtig. Es muss aber auch deutlich gemacht werden, dass Verstöße nicht toleriert werden. Bei Kindern nehme ich an, dass die meisten noch gar nicht wissen, was sie da plappern. Es gibt aber auch für Ältere gute Projekte, etwa, mit Jugendgruppen nach Auschwitz zu fahren. Wenn das freiwillig geschieht, ist das eine gute Sache. Wird es als Pflicht empfunden, kann das auch zu Abwehrreaktionen führen.
Müssen nicht vor allem muslimische Verbände stärker intervenieren?
Ja. Und es gibt ja auch einige kleine Projekte von dieser Seite. Aber die Bestrebungen werden dann wieder dadurch zunichtegemacht, wenn sich etwa ein Unterverband antisemitisch äußert. Nehmen wir beispielsweise die Ditib, die ja immer gerne für sich in Anspruch nimmt, dass sie hier gute Arbeit mache. Aber wenn man dann sieht, wie ganze Moscheegemeinden zur Weihnachtszeit antichristliche und antijüdische Texte auf die Homepage stellen, alles auf Türkisch natürlich, dann sind alle Bemühungen zunichtegemacht. Da muss man sich dann fragen, ob das tatsächlich alles ernst gemeint ist, was sie in der Öffentlichkeit immer so wohlmeinend von sich geben.
In welcher Pflicht sehen Sie die muslimischen Gemeinden ganz konkret?
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Moscheegemeinschaften nicht die Aufgabe haben, Politik zu machen. Und auch keine Sozialarbeit. Ihre originäre Aufgabe ist es, Seelsorge für die Gläubigen anzubieten. Das heißt, Gebete, Hochzeiten, Beerdigungen, Wallfahrten und das Erlernen der Religion. Aber sie wollen, und wurden dazu auch von der Politik aufgefordert, andere Aufgaben übernehmen, für die dann finanzielle Mittel fließen. Aber das geht häufig nach hinten los. Oft scheitern diese Projekte, weil bei den muslimischen und nicht-muslimischen Partnern völlig unklar ist, was man voneinander erwartet. Der Dachverband der Schiiten, zum Beispiel, der das trojanische Pferd der Mullahs in Iran ist, bekommt 300 000 Euro für seine Arbeit von der Bundesregierung, obwohl sich unter seinem Dach Vereinigungen befinden, die stark antisemitisch sind. Das finde ich wirklich skandalös.
Sind die deutschen Institutionen da oft zu blauäugig?
Ja, absolut. Ein weiteres Beispiel ist ja der Deutsch-Islamische Vereinsverband DIV, der auch Partner in der Präventionsarbeit war, bis dann herauskam, dass sich darunter einige Extremisten befanden, die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes waren. Ich denke schon, dass die Politik, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen oft enorm blauäugig sind. In dem guten Gefühl und in dem Bedürfnis, dass alle gut zusammenarbeiten und es Probleme gar nicht erst geben soll, verschließt man dann die Augen.
Wie sieht das im Fall von Ditib aus?
Ich fürchte mittlerweile, das Nichterkennen ist Vorsatz. Anders kann das gar nicht sein. Wenn man sich nicht viel damit beschäftigt hat, was eine Moscheegemeinde treibt, weil es vielleicht auch schwierig ist, wenn die Predigt in einer anderen Sprache gehalten wird, dann kann man vielleicht noch sagen, die eigentliche Ausrichtung ist einem entgangen. Aber bei Ditib kommt ja momentan ständig ein neuer Skandal auf. Es kann mir kein Mensch mehr erzählen, er habe nicht gewusst, in welche Richtung Ditib marschiert.
Die da wäre?
Ditib wird komplett gesteuert durch die türkische Regierung, über das türkische Religionsministerium.
Ditib sollt in Hessen nachweisen, dass sie unabhängig sind, und zwar bis Ende des Jahres. Wird ihnen das gelingen?
Das können sie gar nicht schaffen. Ich war selbst gespannt, was sie nach der Ansage des Ministers machen. Ob sie jetzt alle Gemeinden auf Vordermann bürsten und sagen: Bitte in diesem Jahr keine Skandale! Das passiert aber nicht. Im Gegenteil: Bei der ganzen türkischen Kriegspropaganda sind etliche hessische Ditib-Gemeinden dabei.
Aber dann hätte doch die Zusammenarbeit beim islamischen Religionsunterricht schon längst beendet werden müssen?
Ich denke, ja. Wenn der Minister nun warten will bis zum Schluss, dann sehe ich ehrlich gesagt nicht, dass sich da etwas ändert.
Ist Ditib überhaupt noch eine religiöse Organisation oder schon durch und durch politisch?
Das können die gar nicht mehr auseinanderhalten. So, wie auch der türkische Islam inzwischen ein politischer Islam ist. Wenn der Krieg in Syrien jetzt als Heiliger Krieg tituliert wird und es Gottesdienst ist, fürs Vaterland zu sterben, dann ist gar nicht mehr ersichtlich, wo die Politik anfängt und wo die Religion aufhört.
Wie werten Sie vor diesem Hintergrund die nachgespielten Schlachtszenen durch Kinder in zahlreichen Ditib-Moscheen?
Wenn man in Moscheen Schlachten nachspielen lässt und Kinder in Uniformen steckt, dann ist das eine politische Handlung. Die Mädchen singen: "Oh, mein Märtyrer, die Engel holen dich vom Schlachtfeld ab."
Sollte Ditib auch in Hessen vom Verfassungsschutz beobachtet werden?
Das finde ich schon. Weil man sonst immer durch Zufall auf irgendetwas stößt. Und weil es möglicherweise auch Verbindungen zu anderen Organisationen gibt wie beispielsweise der rockerähnlichen Gruppierung "Osmanen Germania".
Wie groß ist tatsächlich der Einfluss Erdogans auf die hier lebenden Türken?
Erdogan gibt sich richtig Mühe, Zugriff zu bekommen. Und er bedient sich aller Organisationen, die er hat. Bezogen auf Ditib, vermute ich, dass diejenigen Funktionäre oder auch Mitglieder, die sich nicht auf türkischer Linie bewegen, derzeit in großen Konflikten sind. Gerade im Jugendbereich gab es schon Abspaltungen von Ditib. Das wird auch noch weiter so gehen, weil es natürlich auch Türken gibt, die nicht auf Linie sind. Ditib war ja immer der liebste Partner der deutschen Politik, weil man glaubt, dass das ein Islam ist, der in Deutschland gut passen könnte. Bis Erdogan ihn in eine völlig andere Richtung gedreht hat.
Unterm Strich klingt das danach, als sei das große Projekt "Integration" gescheitert. Ist es das?
Wenn aus der Türkei anti-integrative Politik gemacht und gesagt wird, "Ihr seid doch alles Türken und müsst eure türkischen Wurzeln behalten", das ist kein Integrationskurs. Definitiv nicht.
Welche Hoffnung setzen Sie auf die junge Generation?
Die jungen Leute bringt das in eine unglaubliche Zwickmühle. Auf der einen Seite sind sie natürlich türkischstämmig und fahren in die Türkei zu ihren Verwandten. Man erwartet dort, dass sie immer nationalistischer werden, immer religiöser. Und dann sind sie auf der anderen Seite hier in Deutschland in der Schule, im Sportverein. Und da erwartet man, dass sie sich anpassen und eine kritische Haltung zu Erdogan haben. Das bringt sie in große Konflikte.
Was bedeutet das dann für die Integrationsbemühungen?
Die Politik müsste viel mehr in Bereiche investieren, die sich interkulturell zusammensetzen. Wo sich Menschen aller Religionen finden. Da braucht auch nicht die Religion im Mittelpunkt zu stehen, sondern das erreicht man mit anderen Themen, Natur, Sport, Kultur. Da muss Jugendarbeit ansetzen.
Die Fragen stellten Katharina Iskandar, Marie Lisa Kehler und Helmut Schwan.
Zur Person: Susanne Schröter ist Gründerin und Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam und Professorin am Institut für Ethnologie an der Frankfurter Goethe-Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderen der politische Islam und der islamistische Extremismus. Sie ist bundesweit, aber auch bei Behörden und Organisationen in der Region als Expertin und Ratgeberin gefragt. Intensiv hat sie sich mit jungen Muslimen in Wiesbaden und dem sich auch im Rhein-Main-Gebiet ausbreitenden Salafismus befasst. Sie ist Vorstandsmitglied des Hessischen Forums für Religion und Gesellschaft, gehört der Hessischen Integrationskonferenz sowie dem Präventionsnetzwerk gegen Salafismus an. 1957 geboren, studierte Schröder später Anthropologie, Soziologie, Kultur- und Politikwissenschaften sowie Pädagogik in Mainz; es kamen Foschungsaufenthalte und Lehrtätigkeiten in den Vereinigten Staaten hinzu. Ihre Laufbahn als Hochschullehrerin begann im Jahr 2004 in Passau, vier Jahre später folgte sie dem Ruf nach Frankfurt. (hs.)
Artikel „Mädchen ohne Kopftuch werden gemobbt“ aus der F.A.Z. (Rhein-Main) vom 14.05.2018 von Katharina Iskandar, Marie Lisa Kehler und Helmut Schwan. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv