Mächte des Zerfalls. Der Bund lässt den sozialen Zusammenhalt erforschen
Das geplante "Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt" des Bundes nimmt Gestalt an. Elf Einrichtungen sind vom BMBF ausgewählt worden, um gemeinsam ein Forschungsprogramm und eine Leitungsstruktur zu erarbeiten. In einer einjährigen Vorphase soll zunächst ein Gründungskonzept entwickelt werden. Für die anschließende vierjährige Hauptphase stellt das BMBF insgesamt 36 Millionen Euro bereit, mit der Aussicht auf eine Verlängerung um weitere fünf Jahre und schließlich der Verstetigung des Instituts. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek ist sich sicher: "Das neue Institut wird uns helfen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken."
So viel Vertrauen in die öffentliche Wirksamkeit sozialwissenschaftlicher Forschung ist rührend. Aber worauf gründet sich diese Erwartung eigentlich? Betrachtet man die Bandbreite der beteiligten Einrichtungen und ihrer Teilprojekte, muss man sich eher um den Zusammenhalt des geplanten Instituts Sorgen machen. Ergebnisse sind ohnehin erst in drei bis vier Jahren zu erwarten. Da kann man nur hoffen, dass die Gesellschaft bis dahin noch nicht ganz zerfallen ist. Zum Beispiel die Politikwissenschaftler der Frankfurter Goethe-Universität: Sie wollen die "Bedingungen produktiver Konflikte" als Grundlage für gesellschaftliche Zusammenarbeit "erkennen und praktisch nutzbar machen". Dabei gehe man von der "Hypothese" aus, dass in erster Linie nicht Gemeinsinn, sondern der produktive Austrag von Konflikten moderne Gesellschaften integriere. Man könnte zu dieser gewagten Hypothese anmerken, dass sie schon in Ralf Dahrendorfs Klassiker "Gesellschaft und Freiheit" von 1961 formuliert worden ist. Zur Sicherheit verspricht man in Frankfurt noch eine "grundbegriffliche Klärung" des Konzepts gesellschaftlicher Zusammenhalt. Man wird also an einem Institut beteiligt, das den sozialen Zusammenhalt stärken soll, will aber erst mal vier Jahre nachdenken, was das eigentlich ist.
Am Fachbereich Rechtswissenschaft in Konstanz will man das Thema dagegen aus einer ausdrücklich kulturwissenschaftlichen Perspektive angehen und fragt darum, was ein "kollektiv geteiltes Gefühl" der Zusammengehörigkeit fördere. Vielleicht die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Schicht? Oder gemeinsames Brandstiften? Solche Fragen könnten die Konstanzer Gefühls-Forscher mit den Bremer Sozialwissenschaftlern vom dortigen "Socium - Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik" verbinden. Diese widmen sich der Mittelschicht, die lange als Stabilitätsanker gegolten habe, deren Integrationskraft jedoch durch zunehmende Konflikte und Ungleichheiten geschwächt worden sei. Inzwischen würden Teilgruppen von ihr sogar als "Brandstifter" auftreten. Ist die gefühlte Mittelschicht nun also Opfer oder Agent des gesellschaftlichen Zerfalls? Man hat vier Jahre Zeit, es herauszufinden.
Schaut man sich an, wer noch alles an dem Institut beteiligt sein wird - unter anderen Historiker, Antisemitismusforscher, Medienwissenschaftler und Psychologen -, drängt sich der Eindruck auf, dass niemand außen vor bleibt, solange er nur der Erwartung des BMBF genügt, den "normativen Grundgehalt" des neuen Instituts anzuerkennen: nämlich dass gesellschaftlicher Zusammenhalt "ein Wert an sich" sei, wie es in der Ausschreibung hieß. So wenig gegen die einzelnen Vorhaben einzuwenden ist, verrät ihre Heterogenität dennoch die Furcht des Geldgebers, vielleicht doch noch irgendeine destabilisierende Macht übersehen zu haben.
Den Beteiligten ist dies natürlich bewusst. Die große Bandbreite und die normative Aufladung des Themas versprächen "kein normales Projekt", so der über Socium beteiligte Soziologe Uwe Schimank. Er glaubt jedoch, dass man sich trotz des "fachlichen Pluralismus" ergänzen werde. Dem Antrag des Dresdner Politikwissenschaftlers Werner Patzelt ist dies offensichtlich nicht gelungen, jedenfalls wird er bei dem zukünftigen Institut nicht dabei sein. Dabei war es Patzelt, der im Dezember 2014 gemeinsam mit Joachim Klose das ursprüngliche Konzept für ein "Zentrum für Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt" vorlegte. Mit der jetzigen Bandbreite der Ansätze hätte Patzelts Vorschlag natürlich nicht konkurrieren können, schließlich wollten die Dresdner auch nicht gleich alle dräuenden Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft angehen, sondern sich zunächst auf jene Integrationsprobleme konzentrieren, die sich aus "religiös akzentuierter Multikulturalität" ergeben, wie es in ihrem damaligen Konzept heißt. Immerhin sahen sie damit schon vor vier Jahren voraus, dass dies zu "Veränderungen von Letztbegründungen der Normen unseres Zusammenlebens" führen werde.
Wie aus dem Konzeptpapier hervorgeht, wollten sie der Frage nachgehen, in welcher Form die zwar gewachsene, doch nur selten bewusst kultivierte bundesdeutsche Zivilreligion weiter integrierend wirken könne. Man muss Patzelt recht geben, dass diese Frage immer dann brisant wird, "wenn sich muslimischer Protest gegen israelische Politik mit Judenfeindlichkeit verbindet". Die erfolgreicheren Antragsteller des kommenden Instituts wären gut beraten, wenn sie Patzelts Fragen nicht ignorierten.
Von Gerald Wagner. F.A.Z., 24.10.2018, Forschung und Lehre (Natur und Wissenschaft), Seite N4. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv